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Nicht dialog-, nicht friedenswillig
Staatsstreich mit Washingtons Segen, Krieg im Donbass, Säbelrasseln in Kiew. Zur Vorgeschichte des Krieges in der Ukraine
Von Harald Projanski
Mit Krieg, Luftangriffen und Blutvergießen kannte sich der 77 Jahre alte
Redner aus, der im Dezember 2013 die Bühne auf dem Maidan bestieg, dem
Unabhängigkeitsplatz in Kiew. US-Senator John McCain, 1967 bei einem
Luftangriff auf ein Wasserkraftwerk in Vietnam abgeschossen, war wieder
mal im Fronteinsatz. »Ukrainisches Volk!« rief er, »das ist euer Moment!
Die freie Welt ist mit euch! Amerika ist mit euch!« Tausende Teilnehmer
einer Kundgebung gegen den Präsidenten Wiktor Janukowitsch jubelten ihm
zu.
Nur wenige Wochen später floss Blut auf dem Maidan. Bewaffnete
Nationalisten schossen ab Anfang Februar 2014 in Kiew auf Polizisten.
Durch Schüsse von Ultrarechten kamen in jenem Februar in Kiew 16
Polizisten um. Auch 84 Demonstranten starben durch Kugeln. Die Umstände
sind bis heute nicht geklärt, weil Schützen, womöglich rechtsextreme
Provokateure, nicht identifiziert werden konnten. So begann der
ukrainische Bürgerkrieg. Acht Jahre später kehrt dieser Krieg auf
furchtbare Weise in die Stadt zurück, in der er mit Hilfe amerikanischer
Einpeitscher entfacht wurde.
Maidan-Proteste
Die Protestbewegung des Maidan gegen den Präsidenten Wiktor Janukowitsch
begann im November 2013. Der unmittelbare Auslöser: Am 21. November
hatte die ukrainische Regierung erklärt, sie werde einem vorbereiteten
Abkommen über die Assoziierung der Ukraine mit der EU nicht zustimmen.
Verhandlungen über eine entsprechende Vereinbarung hatte bereits der
ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko 2007 begonnen. Der 2010
gewählte Janukowitsch führte die Verhandlungen fort. Schließlich wuchsen
2013 in der ukrainischen Regierung Befürchtungen, das Abkommen könne
die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit Russland
beschädigen.
In weiten Teilen der ukrainischen Öffentlichkeit weckte das
EU-Assoziierungsabkommen den Eindruck, es gehe um eine Vorstufe der
Mitgliedschaft in der EU. Millionen wirtschaftlich und politisch wenig
gebildeten Ukrainern schien es, als stünden sie an der Schwelle zu
mitteleuropäischem Wohlstand. Die naheliegende Schlussfolgerung: Das
einzige Hindernis auf dem Weg dorthin, Janukowitsch, musste weg. Und so
strömten die Massen auf den Maidan, den Unabhängigkeitsplatz in Kiew.
Keiner der Hunderttausenden von Demonstranten hatte auch nur einen Blick
in das mehr als 900 Seiten dicke Assoziierungsabkommen geworfen. Es sah
die Öffnung des ukrainischen Marktes für westliche Produkte und
begrenzte Exportquoten für ukrainische Waren vor, vor allem für
Agrarprodukte. Eine Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft des Landes
enthielt es nicht.
Die Protestbewegung nährte sich nicht nur aus dem Wunsch nach Wohlstand,
sondern auch aus der Wut über den korrupten Präsidenten Janukowitsch.
Der hatte auch die Unterstützung im Donbass in der Ostukraine verloren,
wo er als Gouverneur von Donezk lange populär gewesen war. Denn als
Präsident hatte er sein Wahlversprechen gebrochen, Russisch zur zweiten
Staatssprache zu machen und eine Föderalisierung durchzusetzen. Das
waren Kernforderungen der russisch geprägten Bevölkerung des Südostens
der Ukraine gewesen, der er seinen Sieg 2010 verdankte.
Janukowitsch, dessen Weg vom Straßenkriminellen zum Staatschef ein
Spiegel der postsowjetischen Ukraine war, wich vor den Nationalisten
zurück. Als im Februar 2014 straff organisierte nationalistische Trupps
im Westen des Landes die Gebietsverwaltungen und Dienststellen der
Polizei und des Sicherheitsdiensts stürmten, duldete der Präsident
wochenlang eine Doppelmacht. Am 21. Februar unterzeichnete Janukowitsch
mit den Vertretern der Maidan-Opposition ein Abkommen zur Bildung einer
»Regierung der nationalen Einheit«. Die Vereinbarung sah auch die
Entwaffnung aller illegalen Kampftruppen binnen 48 Stunden vor und
Präsidentenwahlen innerhalb eines halben Jahres. Als Garantiemächte
unterzeichneten die drei Außenminister Polens, Frankreichs und
Deutschlands das Abkommen. Für die Bundesrepublik zeichnete der jetzige
Bundespräsident Frank Walter Steinmeier. Doch das Abkommen war schon
nach 24 Stunden Makulatur. Militante Nationalisten stürmten die
Präsidentenadministration.
Janukowitsch floh in den Osten der Ukraine. Von dort aus wurde er durch
einen von Wladimir Putin geleiteten Einsatz von Sicherheitskräften nach
Russland evakuiert. Unterdessen bildeten Parteien der Maidan-Proteste,
darunter die ultranationalistische Partei »Swoboda« (»Freiheit«), die
damalige Bruderpartei der NPD, eine »Regierung der Sieger«. Sie wurde
geführt vom Premierminister Arsenij Jazenjuk und dem neuen
Parlamentschef Olexander Turtschinow. Die neue Regierung erklärte
Janukowitsch für abgesetzt – eindeutig verfassungswidrig.
Der Staatsstreich in Kiew geschah mit dem Wohlwollen Washingtons.
Jazeniuk hatte sich bei zahlreichen Kontakten mit US-Politikern das
Vertrauen der dortigen Regierung erworben. Er war ihr Favorit. Zwei
Wochen vor dem Umsturz in Kiew war ein Video bekanntgeworden, in dem
Victoria Nuland, Europa-Beraterin des damaligen US-Präsidenten Barack
Obama im Gespräch mit dem US-Botschafter in Kiew dafür plädierte, »Jaz«,
wie sie Jazeniuk nannte, solle Regierungschef der Ukraine werden. Auf
die Meinung der Europäer sollten die Amerikaner dabei keine Rücksicht
nehmen. »Fuck the EU«, sagte Nuland.
Vorposten der USA
Was bürgerliche Beobachter als taktlosen, aber auch harmlosen
emotionalen Ausbruch werteten, war nur ein vulgärer Ausdruck von
Geopolitik. Für die USA ist die Ukraine in der globalen
Auseinandersetzung mit Russland von außerordentlicher Bedeutung. Der
geopolitische Stratege und ehemalige Präsidentenberater Zbigniew
Brzezinski hatte bereits in den neunziger Jahren in seinem Buch »Die
einzige Weltmacht« die Bedeutung der Ukraine für die US-Strategie klar
definiert: »Ohne die Ukraine«, schrieb Brzezinski sei Russland »im
wesentlichen ein asiatischer imperialer Staat«, gezwungen, sich mit
Konflikten in Zentralasien zu befassen.
Kontrolliere Russland jedoch die Ukraine und deren Ressourcen, so der
frühere Berater des US-Präsidenten James Carter, dann wäre die russische
Föderation ein »mächtiger imperialer Staat«. In diesem Kontext warnte
Brzezinski auch vor einer »deutsch-russischen Abmachung« und einer
»Verständigung zwischen Europa und Russland mit dem Ziel, Amerika vom
Kontinent zu verdrängen«. Ganz in diesem Sinne hatte US-Botschafter
Geoffrey Pyatt bereits auf einer Veranstaltung der US-Botschaft in Kiew
im Oktober 2013, einen Monat vor Beginn der Maidan-Proteste, dafür
geworben, die Ukraine zum Vorposten Washingtons zu machen. Die Ukraine
habe »keinen besseren Freund als die USA«, tönte der US-Botschafter. Und
er fügte hinzu, an der Seite der USA hätte die Ukraine »Myriaden von
Möglichkeiten«.
Welche »Möglichkeiten« eine von willigen Helfern der USA geführte
Ukraine tatsächlich hatte, zeigte sich bald. Der verfassungswidrige
Umsturz in Kiew am 22. Februar 2014 sprengte den Elitenkonsens in der
Ukraine. Am 23. Februar kam es in der Hafenstadt Sewastopol auf der
Halbinsel Krim zu einer Massenkundgebung von Zehntausenden unter
russischen Fahnen. In Sewastopol war und ist die russische
Schwarzmeerflotte stationiert. Am 27. Februar erschienen auf der Krim
Soldaten ohne Hoheitsabzeichen und besetzten unter anderem den Flughafen
von Simferopol. Russland sicherte die Krim und deren russische
Bevölkerung vor dem Zugriff der Kiewer Putschisten.
Die Soldaten kreisten ukrainische Kasernen auf der Halbinsel ein und
ließen den dortigen Militärs die Wahl: Wer wollte, konnte in Zivil nach
Hause fahren und wurde nicht gefangengenommen. Zugleich erhielten alle
Soldaten und Offiziere das Angebot, ihren Dienst in der russischen Armee
im gleichen Dienstrang fortzusetzen. Viele nahmen das Angebot an.
Nirgendwo kam es zu blutigen Kämpfen. Statt dessen gab es nächtelange
Diskussionen, etwa mit Offizieren der ukrainischen Schwarzmeerflotte in
Sewastopol, die erst im Morgengrauen in die russische Flotte übertraten.
Die unblutige Militäraktion für die »Rückkehr der Krim« (so der Name
einer Medaille für Teilnehmer) verhinderte Blutvergießen und sicherte
den zwei Millionen Bewohnern der Krim bis heute ein friedliches Leben.
Abgeschlossen wurde die Operation durch ein Referendum am 16. März 2014.
Dabei sprachen sich nach offiziellen Angaben 96,57 Prozent der
Teilnehmer für den Beitritt der Krim und Sewastopols zur Russischen
Föderation aus. Dieser Beitritt wurde am 18. März 2014 in Moskau mit
einer Vertragsunterzeichnung vollzogen.
Eskalation im Donbass
Was den Bewohnern der Krim dadurch erspart blieb, das zeigte sich bald
im Donbass. Dort entwickelte sich nach der Flucht Janukowitschs eine
Bewegung für ein Referendum über eine Föderalisierung der Ukraine. Für
diese Forderungen gingen in den Städten der Ostukraine im Frühling 2014
Zehntausende auf die Straße.
Am 7. April 2014 riefen Aktivisten im besetzten Gebäude der
Bezirksverwaltung in Donezk die »Donezker Volksrepublik« aus. Sie
beriefen sich dabei auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Auch im
benachbarten Lugansk entstand Anfang April eine Volksrepublik. Die neue
Staatsmacht stützte sich auf Einheiten von »Volksfreiwilligen«, die sich
aus Arbeitern und jungen Intellektuellen zusammensetzte.
Doch die neue ukrainische Führung, die alle ihre Schritte eng mit den
USA abstimmte, reagierte auf die »Volksrepubliken« ganz anders als auf
die Machtansprüche der Nationalisten im Westen des Landes. Am 14. April
2014 veröffentlichte die Website des ukrainischen Präsidenten den Ukas
405/2014. Damit wurden die bewaffneten Kräfte der Ukraine zu einer
»antiterroristischen Operation« gegen die eben erst gegründeten
»Volksrepubliken« aufgerufen. Das war eine Kriegserklärung der
ukrainischen Führung an einen Teil ihres Landes. Ab Anfang Mai setzte
die ukrainische Regierung gegen die von der »Donezker Volksrepublik«
kontrollierte Stadt Slawjansk erstmals Artillerie ein. Die Stadt wurde
wochenlang beschossen.
Als Reaktion auf die Aggression der Kiewer Regierung beteiligten sich
mehrere Hunderttausend Bürger am 11. Mai 2014 an einem Referendum für
eine Unabhängigkeit der »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk. Vor der
Teilnahme an dem Referendum warnte damals in deutscher
Selbstüberschätzung der damalige Außenminister Frank Walter Steinmeier.
Aber auch Putin sprach sich öffentlich gegen diese Abstimmung aus. Bei
dem Referendum stimmten nach Angaben der Wahlkommission 89,7 Prozent für
die Eigenständigkeit und damit für eine Loslösung von der Ukraine.
Zu diesem Zeitpunkt befanden sich keine Einheiten der Streitkräfte der
Russischen Föderation im Donbass. Moskau setzte damals nicht auf eine
militärische Eskalation, sondern strebte im Mai 2014 eine
Verhandlungslösung an. Am 25. Mai 2014 fanden in der Ukraine
Präsidentschaftswahlen statt. Aus ihnen ging der als »Schokoladenkönig«
bekannte Oligarch Petro Poroschenko mit 54,7 Prozent als Sieger hervor.
Die russische Führung erkannte das Ergebnis an, obwohl der Wahlkampf in
einer Atmosphäre des Terrors von Nationalisten gegen alle prorussischen
Kräfte stattfand. Kandidaten linker Parteien konnten nicht an dieser
Wahl teilnehmen. Nach dem Rechtsputsch vom Februar 2014 war die Ukraine
durch Gewalt von rechts ein Land ohne Linke geworden. Die größte
Linkskraft, die Kommunistische Partei, ist bis heute faktisch illegal.
Für die Verwendung ihrer Symbole drohen Haftstrafen. Der ukrainische
Geheimdienst SBU, am Gängelband der CIA, hat seit 2014 einen
Polizeistaat lateinamerikanischen Musters geschaffen.
Land ohne Linke
Der ab 2014 formierte Staat in der Ukraine folgte drei grundlegenden
Impulsen, mit welchen die ukrainischen Nationalisten Staat und
Gesellschaft zunehmend dominierten:
1. Russland ist der Feind der Ukraine.
2. Die russische Sprache ist ein Instrument des Feindes und wird bekämpft.
3. Nationalhelden sind nicht die Soldaten der Roten Armee, sondern die
Kämpfer des nationalistischen Untergrundes gegen die Sowjetunion.
In diesem Sinne wirkte auch ein diskriminierendes Sprachgesetz, das im
Januar 2022 in Kraft trat. Selbst die FAZ-Kulturkorrespondentin und
Ukraine-Sympathisantin Kerstin Holm notierte in ihrem Blatt am 18.
Januar mit sichtlichem Erschrecken, mit diesem Gesetz würden
»traditionell russischsprachige Städte« nun »vom Westen des Landes
kulturell assimiliert«. Dabei sprechen nach Umfragen mindestens 30
Prozent der Ukrainer Russisch als Muttersprache.
Dem Wesen nach war dieses Gesetz eine Kriegserklärung des Regimes in
Kiew an die Russen im eigenen Land, an die russische Sprache und Kultur.
Über die fatalen Folgen eines solchen Schrittes scheinen die
Verantwortlichen nie nachgedacht zu haben. Doch der Grad an
Aggressivität der Politik des Kiewer Machtsystems ist auch in Moskau
jahrelang unterschätzt worden.
Noch im Sommer 2014 war Putin den Einflüsterungen des russischen
Botschafters in Kiew Michail Surabow gefolgt, eines Vertreters der
Kompradorenbürokratie. Surabow war durch trübe Geschäfte in
»Freundschaft« mit Poroschenko verbunden. Der wiederum nutzte den
pflegeleichten russischen Botschafter für ein professionelles
Betrugsmanöver. Er versprach, nach seiner Amtseinführung Gespräche über
eine Autonomie des Donbass zu führen und verkündete zunächst einen
Waffenstillstand. Doch Anfang Juli begann er eine Offensive der
ukrainischen Armee gegen die Donbass-Republiken, obwohl Putin ihn in
Gesprächen davor gewarnt hatte. Die ukrainischen Streitkräfte, weit
besser ausgebildet und ausgerüstet als die »Volksfreiwilligen« im
Donbass, eroberten im Juli 2014 einen großen Teil der Gebiete der
Volksrepubliken zurück. Dabei versuchten sie vor allem, die Republiken
an der Grenze zu Russland von Verbindungen ins Nachbarland
abzuschneiden.
Doch das Vorhaben scheiterte, weil gut ausgebildete Soldaten ohne
Hoheitsabzeichen auf seiten der Donbass-Volksfreiwilligen in die Kämpfe
eingriffen. Russland hatte offenkundig in einer geheimen Aktion Militär
entsandt, um eine Niederlage der Volksrepubliken zu verhindern. Die
Moskauer Propaganda verwendet in jüngster Zeit den überzeichnenden
Begriff »Genozid« für das ukrainische Vorgehen. Doch jenseits aller
propagandistischen Übersteigerung ist offensichtlich, dass ein Einmarsch
ukrainischer Streitkräfte und nationalistischer Bataillone in Donezk,
Lugansk und anderen Städten des Donbass nur zu massenhaftem Terror und
Blutvergießen führen würde. Nach Angaben des russischen
Ermittlungskomitees vom Februar 2022 sind seit 2014 etwa 2.600
Zivilisten im Donbass durch den Krieg umgekommen, darunter viele Frauen
und Kinder.
Minsk I und Minsk II
Mit dem verdeckten militärischen Eingreifen zum Schutz der
Volksrepubliken wuchs im August 2014 die Gefahr eines Krieges zwischen
Russland und der Ukraine. Um eine solche Eskalation zu vermeiden, sorgte
Russland dafür, zwischen der Ukraine und den Donbass-Volksrepubliken
die beiden Waffenstillstandsabkommen Minsk I und Minsk II im September
2014 und im Februar 2015 abzuschließen, mit Frankreich und Deutschland
neben Russland als Garantiemächten. In beiden Abkommen war Russland
keine Konfliktpartei – auch wenn im Westen oft das Gegenteil suggeriert
wurde.
Dass sich der vereinbarte Waffenstillstand immer wieder als brüchig
erwies, lag im Kern daran, dass die ukrainische Führung doppelgleisig
fuhr: Sie schürte Revanchestimmung gegenüber dem Donbass und versuchte,
sich gegenüber westlichen Förderern als Opfer einer »russischen
Aggression« darzustellen. Die Revanchepolitik basierte neben
Artilleriebeschuss auf einer wirtschaftlichen Blockade. Poroschenko
verhängte Anfang Dezember 2014 einen vollständigen wirtschaftlichen und
finanziellen Boykott gegen die »Volksrepubliken«. Das Ziel bestand
darin, deren Bevölkerung ins Elend zu treiben und gewaltsam zu
unterwerfen.
Doch die Kiewer Rechnung ging nicht auf, was daran lag, dass der
russische Präsident gegen Widerstände im Regierungsapparat, vor allem im
von Kompradorenbürokraten durchsetzten Finanzministerium, die Zahlung
von Gehältern und Renten für die Bevölkerung der
Donbass-»Volksrepubliken« anwies. Der für die Verhandlungen über den
Donbass zuständige Vize der Präsidentenadministration Dmitri Kosak
sprach auf einer Sitzung des Sicherheitsrates am 21. Februar 2022 von
»astronomischen« Summen zur Unterstützung für den Donbass.
Das Minsker Abkommen vom Februar 2015 sah in Punkt 4 einen besonderen
»Status« für die nicht von der Kiewer Regierung kontrollierten Teile des
Donbass vor. Doch weder Poroschenko noch sein Nachfolger Wolodimir
Selenskij wollten den vereinbarten Sonderstatus. Die Sorge der
Herrschenden in Kiew: Auch andere Regionen könnten an einer Autonomie
Geschmack finden. Das hätte die Einnahmen der korrupten Bürokratie in
Kiew zwangsläufig geschmälert.
Doch auch in den »Volksrepubliken« sank angesichts von Boykott und
Beschuss durch Kiew das Interesse an einer Rückkehr unter die Macht der
Ukraine. Die Stimmung im Donbass brachte der damalige Leiter der
Donezker Volksrepublik Olexander Sachartschenko im Februar 2016 auf den
Punkt: Die Donezker Volksrepublik werde »nicht zur Ukraine
zurückkehren«. Und er sprach vielen aus der Seele, als er hinzufügte:
»Für mich gibt es nur ein Land, das meines ist: Russland.«
Schon zu dieser Zeit war erkennbar, dass die Führung der Ukraine im
Konflikt mit den Volksrepubliken im Donbass weder dialog- noch
friedensfähig war. Daran änderte auch die Wahl Selenskijs zum
Präsidenten im Mai 2019 nichts. Zwar nahm er im Dezember 2019 gemeinsam
mit Wladimir Putin, Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen
Präsidenten Emmanuel Macron in Paris an einem Treffen des
Normandie-Formats teil, innerhalb dessen die Umsetzung des Minsker
Abkommens verhandelt wurde. Dabei vereinbarten die Teilnehmer Details
für den Abzug schwerer Waffen an der Konfliktlinie und eine Entminung.
Doch die Umsetzung stockte bald. Wer sich die Aufzeichnung der
Pressekonferenz am Ende der Verhandlungen in Paris im Dezember 2019
anschaut, sieht einen Präsidenten Selenskij, der feixend darauf
reagiert, dass der russische Präsident Punkte des Minsker Abkommens
vorträgt.
Vorpreschen in München
In der Zeit nach diesem Treffen forderte Selenskij immer wieder die
baldige Aufnahme seines Landes in die NATO. Doch dabei beließ er es
nicht. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar teilte er
mit, er habe seinen Außenminister beauftragt, Gespräche über das
»Budapester Memorandum« zu führen. Das war eine politische Deklaration
vom Dezember 1994, in der Russland, die USA und Großbritannien
versprachen: Als Gegenleistung für die Ablieferung von Atomwaffen der
Sowjetunion an den Nachfolgestaat Russland sichere man der Ukraine die
Souveränität in den Grenzen der ukrainischen Sowjetrepublik zu.
Man betrachtet diese Vereinbarung schon durch den von ihr als »Annexion«
bezeichneten Beitritt der Krim zu Russland als verletzt. Dabei
übersieht die ukrainische und westliche Lesart, dass das Budapester
Memorandum kein völkerrechtlich gültiger Vertrag war, sondern lediglich
eine politische Willenserklärung.
Zu diesem Memorandum sagte Selenskij auf der Münchner
Sicherheitskonferenz, dass Gespräche darüber wahrscheinlich »keine
Ergebnisse« brächten. Und er fügte hinzu, dann habe »die Ukraine jedes
Recht zu glauben, dass das Budapester Memorandum nicht funktioniert und
alle Paketbeschlüsse von 1994 in Frage gestellt sind«. Gemeint ist der
ukrainische Verzicht auf Atomwaffen in dem Memorandum.
Diese Rede Selenskijs, im Westen überhört, war eine eindeutige Drohung,
sich Atomwaffen zu verschaffen. In Moskau wirkte dieser Auftritt
alarmierend. Denn in der Perspektive bedeutet das für Russland die
mögliche Entstehung einer Atommacht an ihren Grenzen, mit
Revancheansprüchen auf russisches Territorium: die Halbinsel Krim.
Womöglich gab diese fatale Rede Selenskijs in München den letzten
Ausschlag für den russischen Präsidenten, fünf Tage später die vom
Generalstab ausgearbeiteten Pläne für einen Einmarsch in die Ukraine in
Befehle zu verwandeln.
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