Sonntag, 31. März 2013

Gute Frage

Fragt mich doch kürzlich ein User, weshalb ich das Buch "In die Stille gerettet" geschrieben habe. Hier die Antwort:


Gute Frage. Weshalb schreibt man? Um Kohle damit zu machen? Das kannst du heute vergessen. Mein Anliegen: Wir hatten in der DDR Großes vorgehabt. Auch ich sah viel Sinn in meiner Tätigkeit als Journalist. Und es war viel Freude dabei. Und Ärgerlichkeiten. Die es übrigens immer geben wird. Und Bewahrenswertes. Was heute abläuft ist genau das Gegenteil von dem, was eine humane Gesellschaft zu leisten hat. Wir durchliefen also nach der sogenannten Wende eine Umbruchzeit hin zu neuen Unwägbarkeiten. Wie habe ich die Zeit erlebt – mit meiner tollen Gattin? Geschichte schreiben nicht nur die Historiker – auch die Menschen mit ihren Erlebnissen, Erfahrungen und ganz persönlichen Motiven. Wer will denn heute schon sagen, dass die Erfahrungen der einstigen DDR-Bürger nicht doch eines Tages gefragt sind – um etwas Neues zu wagen, auch im Interesse einer friedlichen Zukunft? Ich wäre nicht in der Lage und willens gewesen, einen schreierischen sogenannten Bestseller aus dem Hut zu zaubern. Ich stehe voll und ganz zu dem, was wir vollbracht haben und auch zu den Widersprüchen, die unseren Alltag geprägt hatten. Ohne jedoch in Ostalgie zu verfallen. Wir hatten ein sinnvolles Leben gelebt – und wer sich heute noch rührt und nicht philisterhaft abknickt, den Kopf also oben behält, der ist sicherlich kein Narr. Das Buch – es ist meine ganz persönliche Sicht auf unsere Erlebniswelt. Zugleich macht mir das Schreiben auch heute noch Spass. Zum Beispiel, wenn es darum geht, politische Sachbücher ins linke Licht zu setzen. Ich hoffe, damit die Frage beantwortet zu haben. Falls nicht – frage weiter.
 


 

Mittwoch, 27. März 2013

„Auf der Sonnenseite“ – ein lesenswertes Buch von Franz Alt


Der grosse Abschied

Buchtipp von Harry Popow

Notruf an alle - das Feuer muß weg!! Das Feuer, das jahrtausendelang die Menschen erwärmt, ihnen Kraft und Energie gespendet hat. Das Feuer, das aus der in der Erde gespeisten Sonnenenergie wie Kohle und Gas herausgepresst, ausgeraubt und aufgebraucht wurde. Zu den fossilen Rohstoffen gesellten sich unglücklicherweise noch die atomaren. Und nun ist die Ozonschicht beschädigt, das Klima steht vor dem Kollaps – hauptsächlich durch Menschenhand verursacht - , die Rohstoffquellen sind am Versiegen. Schätzungen ergaben: Bei gleichbleibendem Verbrauch sind nur noch verfügbar: Uran  30 Jahre, Erdöl  40 Jahre, Erdgas  63 Jahre, Braun- und Steinkohle circa  180 Jahre.

Das Lösungswort heißt Energiewende. Franz Alt hat dazu ein hochinteressantes Buch mit dem Titel „Auf der Sonnenseite. Warum uns die Energiewende zu Gewinnern macht“ geschrieben. Er ist Journalist und langjähriger Berater von Konzernen und Regierungen, studierte Politikwissenschaft, Geschichte, Philosophie und Theologie, promovierte 1967. Von 1968 bis 2003 arbeitete er überwiegend beim Südwestfunk (SWF, heute: SWR), für den er 20 Jahre lang das ARD-Politmagazin Report moderierte.

Optimistisch bemerkt der Autor auf Seite 248: „Wir müssen nicht länger nach Kohle, Gas, Öl und Uran in dunklen Löchern buddeln, wir können endlich das neue, große Lagerfeuer am Himmel anzapfen, nur dort gibt es die ewigen ´Fleischtöpfe´. Die Energieträger des alten Lagerfeuers gehen zur Neige, aber das solare Lagerfeuer – bestehend aus Sonnen-, Wind- und Wasserkraft, aus Bioenergie, Erdwärme und Wellenkraft – steht uns auch in Jahrmillionen noch zur Verfügung.“

 Franz Alt bezeichnet die Energiewende als Schlacht um die Sonne, als Kultur- und Zivilisationswende. Sie schickt uns kostenlos Energie – alle dreißig Minuten soviel, wie die Menschheit in einem Jahr konsumiert. „Wenn wir nur 1,15 Prozent der Fläche Deutschlands zur Produktion von Solarstrom nutzen würden, (…) wären alle Elektrizitätsprobleme für immer gelöst“, so der Autor. (S. 32)

Gehen wir also dem Morgenrot entgegen. Nie wieder Ressourcenprobleme? Nie wieder Kälte in den Wohnungen? Nie wieder hohe Stromkosten? Nie wieder Zwistigkeiten zwischen den Völkern? Nie wieder fossile-atomare Brennstoffe? Nie wieder Ängste vor dem Klimawandel? Franz Alt als Kenner der Materie stellt in seiner brisanten Analyse auf 268 Seiten nicht nur die Fakten einer bisherigen Vorreiterrolle Deutschlands vor, sondern entlarvt auch die Bremser, die Lobbysten der Energiepolitik, was, wie es im Klappentext heißt, auf wenig Gefallen stoßen wird.

 Über 91 Prozent der Deutschen seien laut Umfragen von der notwendig raschen Umsetzung der Energiewende überzeugt. So sehe man auf Dächern zunehmend Photovoltaik-Anlagen (Solarzellen). Die Zielstellung aus dem Jahre 2000, bis 2012 12 Prozent Ökostrom zu nutzen, sei beispielsweise mit 25 Prozent überschritten worden. Der Autor kommentiert: „Beachtlich ist, dass dieses Etappenziel gegen den politischen, publizistischen und wirtschaftlichen Mainstream erreicht wurde.“ (S. 33)

 EU-weit war für das Jahr 2030 71.000 Megawatt Windstrom prognostiziert worden. Tatsächlich wurde dieses Ziel bereits 2009 erreicht, viermal so schnell wie vorausgesagt. Der Unterschätzung der erneuerbaren Energie – in diesem Fall von der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris -, stehe die Überschätzung der Ölpreisentwicklung gegenüber, so Franz Alt. Die gleiche Agentur ging nämlich davon aus, dass das Barrel Öl im Jahr 2030 etwa 30 Dollar kosten würde. Doch bereits 2008 kletterte der Ölpreis auf 147 Dollar, sank 2009 auf 40 Dollar, stieg aber 2012 wieder auf 110 Dollar. Er könne, so die Schätzungen, 2020 bei über 200 Dollar liegen. (S. 35) Fakt ist: Der Ökostrom behält zunehmend die Oberhand. Er ist die Zukunft.

Mit zahlreichen Beispielen belegt Franz Alt, dass mit dem Mix von Solarenergie, Wasserkraft, Windkraft, Chemie, Bioenergie, Geothermie und auch Meereswellen die Zukunft der Menschheit mit einer sauberen und nahezu kostenlosen Energie gesichert wäre. Sein geflügeltes Wort: Die Sonne schickt keine Rechnung.

Er weist auf die Gefahren hin, die bei einer „Immer-Weiter-so-Philosophie“ der Menschheit ins Haus stünden. Nicht nur die von Profitjägern hauptsächlich verursachte Klimakatastrophe, auch die Verknappung der Ressourcen würde zu Kriegen führen. Der Kollaps sei vorprogrammiert. „Jeden Tag rotten wir durch Abholzung, industriebedingte Erosion, Raubbau an Bodenschätzen und Emissionen unwiederbringlich 150 Tier- und Pflanzenarten aus. Die Natur braucht 30.000 Jahre, um eine Spezies zu schaffen. Ohne Tiere und Pflanzen wird es auch keine Menschen geben können.“ (S. 68)  Die Geschwindigkeit der ökonomischen und ökologischen Selbstzerstörung sei atemberaubend, schreibt der Autor auf Seite 70. Es sei keine Zeit zu verlieren, die Wende in der Energiepolitik herbeizuführen.

Unbarmherzig nimmt er deshalb auch die Bremser einer Kehrtwende aufs Korn. Er widerlegt die Lüge vom teuren Strom, die Politiker, die die „Energiewende mit freundlicher Unterstützung von E.ON, RWE und Co“ organisieren wollen, was aber scheitern muss. „Den Großkonzernen geht es primär darum, einen Verlust ihrer Marktanteile zu verhindern. Die Energiewende ist für sie allenfalls drittrangig“, meint Franz Alt. (S. 238) Ins Visier nimmt er u.a. das Projekt, riesige Überlandleitungen für den Stromtransport von der Nordsee nach Bayern und Baden-Württemberg verlegen zu wollen. Das sei Ausdruck alten Denkens in zentralisierten Strukturen (S. 48), denn der Süden habe genügend Wind, man müsse die Windräder nur höher bauen, meint Alt an anderer Stelle. Mehrmals gerät besonders der BRD-Wirtschaftsminister Philipp Rösler unter Wortbeschuss, der mit „sogenannten Hermes-Bürgschaften Atomprojekte im Ausland unterstützt (S.65), der im Sinne der Atomlobby gegen die Solar-Einspeisevergütung gewettert hatte (S.106), der zudem den Photovoltaikstrom auszubremsen gewillt ist.(S. 141)

Keiner macht sich da was vor: Vier große Energiekonzerne bestimmen den Strommarkt in Deutschland. Sie rechnen jährlich mit steigenden Milliardengewinnen, denn sie geben die sinkenden Preise am Energiemarkt nicht an ihre Kunden weiter. Nicht zu leugnen ist auch dies: Seit 2007 sind die Verbraucherpreise beim Strom um mehr als ein Viertel, auf heute 26 Cent pro Kilowattstunde im Durchschnitt, gestiegen. Für die Großverbraucher aber sind sie seit dem Jahr 2008 um 22 Prozent gesunken. Gerechtigkeit sieht anders aus.

Einen Spagat vollführt der bekennende Christ und einstige CDU-Mitglied, wenn er an verschiedenen Stellen seines Buches den Raubtierkapitalismus, den neoliberalen Gier-Kaptalismus, das Missmanagement zentraler Ressourcen wie Wasser, Böden, Waldbestände und Fischgründe angreift (u.a. S. 71), gleichzeitig aber an Einsicht und Vernunft appeliert. So schreibt er in Bezug auf die neuen Energieträger von einem neuen Humanismus des 21. Jahrhunderts, von einer dadurch zu erreichenden besseren Welt, vom ewigen Frieden und vom Wohlstand für alle, der allein durch die Energiewende nun möglich werde. An dieser Stelle möchte wohl der Autor nicht so recht glauben, dass den Kapitalmächtigen mit Appellen an die Vernunft nicht beizukommen sei: auch wenn sie auch hierbei Gewinne erzielen – es bleibt beim Klassenkonflikt zwischen Besitzenden und Ausgebeuteten. Einige Seiten weiter allerdings mahnt er, „dass das westliche Modell, das auf ewigen Wachstum und Ausbeutung der Naturressourcen setzt, niemals als weltweites Prinzip funktionieren kann.“ (S. 92) 

Während Energieriesen schnelle Fortschritte hin zu erneuerbaren Energien ausbremsen, setzt Franz Alt auf das Volk, auf Genossenschaften, es gäbe „immer mehr kleine Stromer, die eine Energie-Revolution von unten vorantreiben.“ (S. 37) So gab es im Herbst 2012 in Deutschland bereits 138 Regionen, die bis 2020/2030 oder 2050 bei der Stromgewinnung komplett erneuerbar und autonom sein wollen. (S.36/37). Und was soll das kosten? Der Autor meint: Die weltweite Energiewende kostet bis 2030 etwa 100 Billionen Dollar, „ungefähr die Hälfte des Betrags, den wir ohne diese Wende allein für Brenstoffe, Kraftstoffe und Strom weltweit ausgeben müssten“. (S. 39) Er setzt noch einen drauf: Seit 2004 wurde eine Kilowattstunde Solarstrom um 70 Prozent preiswerter, das Erdöl aber um 200 Prozent teurer.

Das Verdienst des Franz Alt: Dies Buch ist gut und spannend zu lesen. Die Diktion ist klar, nicht „hochwissenschaftlich“ verkorkst, sondern auch für Otto Normalverbraucher verkraftbar und lesenswert. Der hohe Anspruch des Autors besteht in seinem moralischen Anliegen, durchsetzt mit knallharten Fakten.

DER GROSSE ABSCHIED von dem alten energiespendenden Feuer und die Besinnung auf erneuerbare Energien – Franz Alt bezeichnet diese Wendezeit als Reformation des 21. Jahrhunderts. Der Abschied von den alten Feuern - er kommt ohne Größe nicht aus. Wir leben in einer Zeit, die heute mehr denn je „Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit“ braucht, wie Friedrich Engels in der Einleitung zur „Dialektik der Natur“ einst die Reformationszeit von 1517 bis 1648 charakterisierte.  (Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR. 1962. »Dialektik der Natur«, S. 311-327.)
Franz Alt: „Auf der Sonnenseite. Warum uns die Energiewende zu Gewinnern macht“, Taschenbuch: 272 Seiten, Verlag: Piper Taschenbuch (12. März 2013), ISBN-10: 349230351X, ISBN-13: 978-3492303514, Preis: 9.99 Euro
Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung



Freitag, 15. März 2013

"In die Stille gerettet" / 10. Textauszug


10. Textauszüge: Harry Popow - „In die Stille gerettet“. Persönliche Lebensbilder. Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3

 

„Heimat ist dort, wo du bist,“ betonte Cleo von Anfang an. Und so waren sie sich einig: Sie wollten etwas Eigenes haben, etwas Bezahlbares, denn trotz gutem Verdienst in der DDR hätten sie sich auch damals kein Haus leisten können. Erst recht nicht nach der Rückwende. Und spontan wie die beiden manchmal sind, war es eine Bauchentscheidung, aus Deutschland abzuhauen und sogar blindlings zu kaufen, ohne jemals weder Schwedenland noch das Haus betreten zu haben. Nebenbei gesagt: In der Silvesternacht 1992/1993 sprach eine Wahrsagerin zu Cleo: „Zwischen ihrem jetzigen Leben und ihrer Zukunft liegt ein großes, dunkles Wasser.“ „So ein Quatsch“, dachte damals Cleo. Und tatsächlich – 1996 trafen die beiden ihre Entscheidung. Deren Kinder griffen sich, und nicht nur sie, an den Kopf. Als die verrückten Eltern dann endlich übers große Wasser davonschwammen mit der Fähre, saßen Irina, Patrick und Patricia in einer Kneipe beisammen und jammerten mit Tränen in den Augen: „Ja, ja, die Jungen bleiben zurück und die Alten kriegen Flügel ... !“ Aber sie akzeptierten ohne Wenn und Aber: Die Eltern kehrten nicht ihnen und den Enkeln, nicht der schönen deutschen Landschaft, nicht den Freunden und guten Bekannten den Rücken, sondern den „neuen“ Zuständen.

In die Stille, in die sie sich gerettet haben, ist Langeweile ein Fremdwort. Henrys Geburtstag zum Beispiel. Auf dem Vertiko im Wohnzimmer lachen ihn einige mit Sorgfalt ausgesuchte Dinge an. Auch eine „Rügenwalder“ Wurst, die er so gerne ißt und die es in Schweden nicht gibt. Cleo lacht ihn an, holt wenig später aus irgendeiner Ecke ihres erstaunlichen Gedächtnisses Verse aus Goethes Faust Teil II hervor, tanzt nach einer CD den Bolero (Ravel). Sie sprüht vor Energie: Er sieht ihre Augen, schön wie eh und je, ihr gestenreiches Artikulieren, das Temperament, da kommt was rüber, da geht die Post ab. Er kann seinen Blick nicht von ihr lassen. Sie: „Was guckst du mich so an?“ Da fällt ihm ein Vergleich ein: „Du hast eine Ausstrahlung auf mich – stärker als der Sonnenwind!“ Ehrlich, er weiß nicht, wie ein Sonnenwind auf ihn wirkt, aber Cleo lächelt. Das gefällt ihr, sagt sie. Dann spielt sie „Lucia" auf der Orgel, schimpft ihn Gewalttäter, weil er zu kräftig mit der Klappe eine Fliege tötet. Auch singt sie im schwedischen „Klamottenwald“ (Steine über Steine) Volkslieder, die sie schon mit vier Jahren im Luftschutzkeller sang aus Angst vor den Bomben.

 
Cleo – mit ihr ist jeder Tag ein Gewinn. Eine Frau mit Format: Schönheit, innere und äußere, gepaart mit Klugheit, ja, Scharfsinn, einem Urteilsvermögen in allen Lebenslagen, das Hellseherei vermuten läßt, also etwas sehen können, ohne suchen zu müssen. Dazu ein Rechtsgefühl und viel einfühlsame Menschlichkeit. Auch eine Selbstlosigkeit, die an Selbstaufopferung grenzt. Für die anderen da sein, ohne jemals nach Gegenleistungen zu fragen, das grenzt schon an ein Wunder. Cleo, Cleopatra – so wurde sie in ihrer Jugend von Gleichaltrigen genannt. Dabei waren und sind ihr Machtgier, Egoismus, übertriebener Ehrgeiz, Neid oder gar „Statusdenken“ ein Leben lang Fremdwörter geblieben. Und – sie läßt sich niemals gängeln, was sie zu denken und zu tun hat. Von wegen im politischen Gleichschritt mit ihrem Mann marschieren? So manche Versuche von durchaus klugen Leuten scheiterten, sie parteilich zu binden. Fehlanzeige. Sie wollte sich von keinem Statut etwas vorschreiben lassen. Sie ist halt ein oft rätselhaftes Phänomen. Sie hätte einen Prominenten an ihrer Seite verdient ... Nun aber hat sie den Henry. Ein lebenslanges Rätsel: Warum ihn? Hat er sie verdient? Diese Frage geht ihm manchmal durch den Kopf. Wie wurde er ihr gerecht in ihrem über vierzigjährigen Zusammensein? Hat sie ihn nur geduldet, etwa der Kinder wegen? Nein. Auch die wären für sie kein Bindungsgrund geblieben, wäre da nicht mehr, viel mehr! Es ist ihm, als hätte sich sein Lebensweg schon in jungen Jahren nur auf einen Punkt hin bewegt: Nämlich SIE zu finden und mit IHR zu gehen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Aber, aber – sie ist im Sternbild Widder geboren, er ist Schütze! Auch deshalb geht das gut, obwohl keiner von beiden abergläubisch ist. Das Leben hat es bewiesen.

2013: 52. Hochzeitstag!!

Samstag, 9. März 2013

"Albtraum Erziehungsheim"


 Buchtipp von Harry Popow

Ab ins Erziehungsheim! Und gnade dir Gott! Wohl kein Erziehungsheim auf der Welt, das als Paradies bezeichnet werden könnte. Aber gleich das ganze Gegenteil? Wer jenen Ort als Hölle bezeichnet und versucht, durch Selbstmord zu entfliehen, der hat Schlimmes erlebt. Hut ab vor Dietmar Krone. Er hat es erleben müssen. Er hat überlebt. Und das in den 50er und 60er Jahren im aufsteigenden deutschen Wirtschaftwunderland BRD.

Er hat seine Höllenfahrt nach langem Zögern aufgeschrieben, seine Kindheits- und Jugenderlebnisse in seinem Buch „Albtraum Erziehungsheim“. Nochmals -Hut ab vor seinem Mut, seine Leidensgeschichte der Öffentlichkeit preiszugeben. Und er hat es gut gemacht. Mit einfachen Sätzen spricht er Klartext, ohne stilistische Feinheiten. Das, was er auf 145 Seiten schildert, lässt den Leser erschauern, er wird gerührt sein, er wird in Wut geraten über unglaubliche Kindesmisshandlungen. Das alles liegt Jahrzehnte zurück. Und dennoch, angesichts von aktuellen Schreckensnachrichten über Gewalt gegenüber Kindern, ob von Eltern oder sogenannten Erziehern und Pädagogen verübt, lässt es eine Spur der seelenlosen Kälte gegenüber den Mitmenschen erkennen.

Der Autor legt bereits im Prolog zukünftigen Eltern, Erziehern und Pädagogen ans Herz, nicht die Fehler zu begehen, die in der Vergangenheit einst ihre Vorgänger gemacht haben. Und der 1954 geborene Dietmar, der als dreizehnjähriges Kind Erniedrigungen erfahren mußte, verpasst der Gesellschaft ein gewaltiges Tor mit dem Satz: „Ohne gewissenhafte Überprüfung wurden in den Ämtern oft Denunzianten, moralpredigenden Fürsorgeschwestern und anderen Intriganten mehr Glauben geschenkt als einem unschuldigen Kind.“ Als sein Vater mit 52 Jahren starb, sagte der Pfarrer am Grabe die reinste Unwahrheit, indem er ihn als treu sorgenden Familienvater bezeichnete. Diese Heuchelei und diese dreiste Lüge schockierte und schmerzte den Jungen.

Womit der heute 59jährige seinen kritischen Blick von vornherein auch auf die Gesellschaft richtet. Ist sie es doch, die auch heute noch weitgehend den Nährboden bietet für den Kampf eines jeden gegen jeden, mal offen und brutal, mal versteckt hinter Lügen und Intrigen. Du bist dir selbst der Nächste! Schließlich sei jeder selber schuld, nicht zu den Reichen zu gehören. Du selbst bist für dich verantwortlich. Mach was aus dir. Der amerikanische Autor Joe Bageant schreibt in seinem Buch „Auf Rehwildjagd mit Jesus“ auf Seite 40/41: „Die konservativen Republikaner … machen viel Tamtam um Konzepte wie ´persönliche Verantwortung´ und ködern damit die Jungs und Mädels…“ Menschliche Wesen seien „Wettbewerber  in einem übergeordneten Wirtschaftssystem; der Markt ist das neue Olympia, wo sich ´Homo oeconomicus´tummelt; …“ Wie in den USA so auch in Deutschland: Der freie Markt filtert den würdigeren Wettbewerber aus der Masse heraus. Die menschliche Kälte, sie entspringt der gewollten Hetzjagd nach Überleben, nach Geld, nur wer sich wehrt, wer andere tritt, kann nach oben kommen. Es ist die Schattenseite des damaligen Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik, und die inneren Zwänge sind längst nicht aus der Welt – ganz im Gegenteil.

Zurück zum Erlebnisbericht des Dietmar Krone: Der Vater – regelmäßig betrunken und den Jungen oft grundlos schlagend. Die Mutter, eine ehemalige BDM-Führerin, – das unerwünschte Kind nicht liebend und ebenfalls prügelnd und verstoßend, die späteren Liebhaber der Mutter eingeschlossen. Sie konnte nicht wirtschaften, schreibt der  Autor, und deshalb stand nach nicht beglichenen Kreditraten der Gerichtsvollzieher vor der Tür. Oft verbringt der Sohn seine Zeit bei der Großmutter oder in einem Kinderheim. Wenn er Hilfsarbeiten erledigen mußte – mitunter 13 Stunden am Tag - , um etwas Geld zu verdienen, nahm die Mutter es ihm abends wieder ab. Manchmal gab man ihm keinen Lohn, da gab es erst recht Prügel. "Du mußt erstmal deine Windeln bezahlen", fuhr sie ihn an. Im Winter saßen sie oft in einer kalten Wohnung, und der Junge mußte bei Nachbarn um Kohlen betteln. Mit knapp 12 Jahren bricht er auf Grund schwerer Fensterputzarbeiten in einem Möbelgeschäft zusammen. Die Folge: Krankenhaus, Nervenklinik, die Fürsoge schaltet sich ein. Doch der Geschäftsführer streitet schwere körperliche Arbeit ab. Muß er, denn Kinderarbeit ist verboten. Dem asozialen und verkommenen Lügner aber dürfe man nicht glauben.

Der sich nach menschlicher Wärme Sehnende lernt einen Mann in religiösen Kreisen kennen, der sich seiner annimmt und ihm ein guter Freund wird. Was macht die Mutter? Sie alarmiert die Polizei, der Junge habe Beziehungen zu einem Kinderschänder. Man glaubt ihr, befragt aber nicht den Jungen. Der Mann verliert seinen Arbeitsplatz und kommt ohne gründliche Prüfung ins Gefängnis. Die Verbitterung bei dem Jungen ist groß. Er hat nun niemanden, an den er sich vertrauensvoll wenden kann. Kein Wunder – die Fürsorge wird gerufen und Dietmar muß ins Jugenderziehungsheim Viersen-Süchteln. Bis zum 21. Lebensjahr. Nun ist er endgültig gestempelt. Ein jugendlicher Krimineller.

Das autoritäre Regime im Erziehungsheim wird von einem ehemaligen HJ-Führer geführt. Bei kleinsten vermeintlichen Verstößen werden die „verwahrlosten“ Kinder in eine Dunkelzelle gesperrt. Zehn Tage Einzelhaft bei Wasser und trocken Brot. Ob im Heim oder kurzzeitig in der Psychiatrie ist unter dem altbekannten Motto „Zucht und Ordnung“ an der Tagesordnung: Ohrfeigen, Handschellen, Psychoterrorr, mit Zahnbürsten den Flur schrubben, Rohrstockhiebe und Tritte mit dem Fuß in den Rücken, Unterschlagung sämtlicher privater Briefe, Schikanen, Entengang, keine Aus- und Schulbildung, Liebe heuchelnde Pfarrer, die der Heimleitung alles verraten, was die Kinder ihnen erzählt haben. Demütigende entwürdigende Behandlung, die letztendlich zur weiteren Verrohung statt zur Hilfe für die Kinder führt.

Dietmar Krone spürte damals, dass die Erzieher keinerlei Richtlinie für die Erziehung hatten und ganz und gar nach subjektivem Empfinden und Wutausbrüchen handelten. Mehr noch. Er geißelt die Züchtigung der Kinder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er bezichtigt jenen Lehrer der Verdummungsabsicht, der im Religionsunterricht davon schwafelte, dass alle Kinder nach dem Sterben ins Paradies kommen. (Das hätte er sich beizeiten gewünscht, um endlich nicht mehr geschlagen zu werden und immer genug essen zu können, so der Autor.) Wörtlich auf Seite 71: „Erstaunlich, wie man sich doch an alte Sitten und Bräuche hielt. Sitte und Ordnung, statt Schuld und Verantwortung. Alle Erzieher hatten ihr menschenverachtendes Wissen in der Zeit des Nationalsozialismus erlernt. Das Gedankengut aus dieser Zeit steckte noch voll in ihren Köpfen.“

Sein Fall sei kein Einzelfall, schreibt Krone. In den 50er und 60er Jahren habe es in der Bundesrepublik nach Schätzungen eine halbe Million Heimkinder gegeben, die unter ähnliche Bedingungen „erzogen“, drangsaliert und gedemütigt wurden. Und heute? Die Kapital-Elite führt weiter kräftig Regie und kennt unter der gegenwärtigen Krise immer weniger Pardon gegenüber den Armen, was der frisierte Armutsbericht der Bundesregierung erneut beweist. Es bleibt kalt - für die Hartz-IV-Empfänger, für alleinerziehende Mütter, Leiharbeiter und andere Verlierer des Maximalprofitkarussels.

Mit 19 Jahren kommt Dietmar Krone in die Freiheit – ohne Netz und Boden. Er hat nicht schlechthin eine Autobiographie geschrieben – es ist eine Anklageschrift. Authentischer geht es nicht.

 

Dietmar Krone: Albtraum Erziehungsheim. Die Geschichte einer Jugend, Engelsdorfer Verlag Leipzig, 2007, 145 Seiten, ISBN 978-3-86703-323-7, 10,00 EUR, Taschenbuch, Format: 19x12

Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung

Montag, 4. März 2013

Liste der Beiträge seit dem 07.11.2011

"Nachhilfe für Ewiggestrige", Buchtipp siehe rechts oben anklicken


1. “Fast ein ganzes Menschenleben“, Buchtipp


2. “In die Stille gerettet“, Buchtipp

3. rbb-fluglärmgeschädigt?

4. Tatort „Süd-Ost-Republik“

5. Mit Scheuklappen gegen Rot

6. Einäugigkeiten

7. Es kriecht immer noch aus dem gleichen Schoß

8. “Gefährliches“ Erbe

9. Den eigentlichen Verklärern ins Handwerk pfuschen

10. Bevor das Licht ausgeht…, Gedanken zu einem Buch

11. Dieser Geist unter´m Helm, Buchtipp

12. Mein erstes Bild gespachtelt

13. Motiverkundung, Gedankensplitter

14. Zum TV-Film „Die lange Welle hinterm Kiel“

15. Flachgebürstet

16. Der Mensch vor dem Supermarkt, ein Essay

17. “Friede den Hütten!...“

18. Transparenz von EINS&EINS, Offener Brief an die Piratenpartei

19. Ein Leben mit „Plauener Spitze“, Buchtipp von Hartmut Besser zum Titel „In die Stille gerettet“

20. “Glückwunsch“

21. Unsterbliche Spuckteufeleien

22. “Politisieren“ durch entpolitisieren?

23. Politik auf Samtpfoten für die kleinen Leute, Buchtipp

24. “In die Stille gerettet“, 1. Leseprobe

25. “In die Stille gerettet“, 2. Leseprobe

26. “In die Stille gerettet“, 3. Leseprobe

27. Der Ruf der Kassandra, Buchtipp


28. Ich schäme mich für Deutschland


29. Erlebtes, Gelesenes, Kommentiertes


30. "In die Stille gerettet", 4. Leseprobe


31. "In die Stille gerettet", 5. Leseprobe

32. "Schnüffler an der langen Leine", Buchtipp

33. „In die Stille gerettet“, Leseprobe „Befreiung“

34. Kurzvita H.P. /

35. Tamara in der Krypta / Besuch im Treptower Ehrenmahl

36. "In die Stille gerettet", 6. Leseprobe

37. Bisherige Buchtipps von Harry Popow /

39. „No way out?“, Buchtipp

38. „In die Stille gerettet“, 7. und 8. Leseprobe


38a. Echo von Usern

40. „Unter Piraten“, Zwischen Froschgesang und Revolte, Buchtipp

41. Der brave Soldat


42. Wenn ein Brief Bände spricht…

43. "Verführungs-Kunst" / Buchtipp zum Titel "Design und Verbrechen", Autor: Hal Foster

44. "In die Stille gerettet" (Textauszug - das war vor 23 Jahren...)

45. "Im Narrenzug ins Disneyland..." / Buchtipp zu "Euroland wird abgebrannt"

46. Treffsicher - "Narrenzug..."

47. Aufs "Shoppen" reduziert

48. Auf der Spur von "Spürhunden", Buchtipp von Harry Popow zum Buchtitel "Antideutsche!" (Autor Anton Stengl)

49. "Staatsnahe" Feldhasen, Staatsjagden im Bezirk Erfurt, Peter Schreiber

50. "Wer den Milchstrom bestimmt..." Kommentar zum privaten Erinnerungsbuch "Mein Leben mit Rindviechern, Politikern und Menschen" / Autor Dr. Rolf Funda

51. "Der Grenzraum als Erinnerungsort"

52: "Auf Rehwildjagd mit Jesus"

53. "Die Jäger im Schnee", Gemälde, Kopie von Pieter Bruegel d. Ä.

54. NEUES von ALEX

55. Hans-Dieter Mäde: Fragmente einer Motivation, Nachricht von Troja

56. Salbungsvolles

57. Gemälde Herbstlandschaft

58. "Drei Generationen" , Migranten

59. Info für DDR-Erinnerungsschreiber

60. "Verbotene" Buchtipps

61. "Heimatdiskurs"

62. "Der Krieg ist kein Gesetz der Natur..."

63. "Mein Leben in der Piratenpartei 2012", Jo Menschenfreund

64. Aktuelles aus der Blog-Statistik

65. Piratenangst vor Klartext?

66. "Danke für die Rezensionen"

67. Weichspüler am Werk

68. Ein Schauspieler vor dem Herrn

69. Der Mensch in der Kälte, Rezension zu "Albtraum Erziehungsheim"

70. 10. Textauszug von "In die Stille gerettet" (Cleo)

71. DER GROSSE ABSCHIED, "Auf der Sonnenseite", Buchtipp

72. "Wir sind der Staat", Daniea Dahn

73: "Schmerzliche Heimat", Semiya Simsek

74. Quotenjäger im Skandalrausch (Blattkritik)

75. Vom Trotz der "Schwachen"

76. Die "Platons" lassen grüßen (Lob des Kommunismus)

77. Mit Gott auf "Sklavensuche"

78. Torschütze und lahmes Schaf? (Ein bekennender Buddhist bekennt...)

79. Verleger - Latein

80. Von Marotten und Schrullen (Risse im Balkon)

81. Nächstenliebe & Peitschenhiebe

82. Ungeliebte Propheten