junge Welt dokumentiert auszugsweise die Rede von Sahra Wagenknecht, Erste Stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag, in der Haushaltsdebatte am Mittwoch:
Sahra Wagenknecht (Die Linke): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, Sie werden hier gleich ans Mikrofon treten und wieder ausgiebig Ihre Politik loben. (Unruhe bei der CDU/CSU)
Aber wenn man sich die derzeitige Politik und die derzeitige Situation in Deutschland, in Europa und in der Welt ansieht und wenn man vor allen Dingen Ihre ganz persönliche Mitverantwortung für diese Situation in Rechnung stellt, dann fragt man sich schon, wie Sie darauf auch noch stolz sein können.
Ja, wir leben in einem reichen Land, das gute Autos und international gefragte Maschinen produziert. Aber es ist ein zutiefst gespaltenes Land. Es ist ein Land, in dem selbst fleißige Arbeit nicht mehr vor Armut schützt und in dem inzwischen die Auswahl des Elternhauses wichtiger geworden ist als die Auswahl des Berufs. Es ist ein Land, in dem kaum noch investiert wird, in dem Straßen und Brücken verrotten, in dem viele Kinder in verwahrlosten Wohngebieten aufwachsen,
Norbert Barthle (CDU/CSU): Sprechen Sie jetzt von Afrika?
in dem ihnen elementare Bildung vorenthalten wird.
Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Um Gottes willen! Wo leben Sie eigentlich?
Was tun Sie, Frau Bundeskanzlerin? Statt Problemlösungen liefern Sie Taschenspielertricks, statt solider Finanzierungen liefern Sie kreative Buchführung, und statt wirtschaftspolitischer Rationalität liefern Sie okkulte Opferrituale vor Ihrer neuen Göttin, der schwarzen Null, die Ihnen trotz aller Beschwörungsformeln im nächsten Jahr wieder nicht erscheinen wird. (Unruhe bei der CDU/CSU)
Solide öffentliche Finanzen gibt es eben nicht ohne eine dynamische Wirtschaft. Es gibt sie nicht ohne Konsumenten, die genug Geld in der Tasche haben, um sich ein gutes Leben leisten zu können, und es gibt sie auch nicht ohne Unternehmen, die genau wegen dieser Nachfrage Anreize haben zu investieren, statt ihr Geld zu bunkern oder ihre Aktionäre mit immer neuen Rekorddividenden glücklich zu machen. Es gibt solide öffentliche Finanzen auch nicht, wenn gerade die reichsten Familien und die größten Konzerne kaum noch einen müden Euro zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen und der Staat dabei wegschaut.
Und deswegen ist für mich die schwarze Null eigentlich ein Ausdruck einer Null-Kompetenz in der Wirtschaftspolitik.
Das ist das Urteil des Wirtschaftsweisen Peter Bofinger über Ihre Politik, Frau Kanzlerin. Vielleicht erinnern Sie sich auch noch, was Sie im August im schönen Lindau am Bodensee von den Wirtschaftsnobelpreisträgern zu hören bekommen haben. Ich gebe eine kleine Kostprobe:
Merkel verfolgt ... eine völlig falsche Politik.
Merkel scheint den Ernst der Lage nicht kapiert zu haben.
Merkels Rede sei eine einzige Katastrophe gewesen. Wohlgemerkt: Das ist kein Mitschnitt aus einer Mitgliederversammlung der Linken. Das waren die Urteile international renommierter Wirtschaftsnobelpreisträger über Ihre Politik, Frau Merkel. Wenn Sie vielleicht einmal zuhören könnten, vielleicht würde Ihnen das zu denken geben; (Beifall bei der Linken) aber offensichtlich interessiert Sie das überhaupt nicht.
Weggucken, wegducken, wegreden – das ist Ihr Dreiklang im Umgang mit den Gefahren und Problemen der Gegenwart.
Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Das sieht die ganze Welt anders!
Aber die Gefahren sind einfach zu groß und die Probleme zu ernst, als dass wir so weiter mit ihnen umgehen könnten. Die deutsche Wirtschaft stagniert. Alle Prognosen für das nächste Jahr mussten nach unten korrigiert werden.
Aus konjunkturellen wie aus prinzipiellen Gründen braucht dieses Land endlich mehr Investitionen. Sie haben nun lauthals ein Investitionsprogramm angekündigt. Aber was sieht man, wenn man in das Kleingedruckte schaut? Dann sieht man, dass nach Ihren eigenen Planungen der Anteil der Investitionsausgaben des Bundes weiter sinken soll, nämlich von aktuell 10,1 Prozent auf nur noch 8,3 Prozent im Jahr 2018. So viel wirtschaftspolitische Ignoranz kann einem wirklich die Sprache verschlagen.
Norbert Barthle (CDU/CSU): War das ein Versprechen?
Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Das wäre schön! Wir wollen Gysi!
Sie können sich ruhig aufregen. Es wäre aber besser, wenn Sie sich nicht nur aufregen würden, sondern auch Konsequenzen ziehen würden. (Beifall bei der Linken)
Es geht nicht nur um Straßen, es geht auch nicht nur um Brücken, es geht auch um Zukunftstechnologien und Innovationen. Wer meint, dafür wird schon der Markt sorgen, der sollte sich einmal fragen, warum sich eigentlich alle wichtigen digitalen Technologien heutzutage in der Hand von US-Unternehmen befinden, die Möglichkeit zur globalen Überwachung inklusive. Nicht, weil der Markt jenseits des Atlantiks so viel besser funktioniert, sondern weil sich der Staat das zumindest früher ziemlich viel hat kosten lassen. Fast die gesamte Technologie, die heute in einem iPhone steckt, ist doch nicht in Steve Jobs Garage entwickelt worden. Die ist in staatlichen Forschungszentren entwickelt worden. Wer glaubt, dass ein fundamentaler technologischer Umbruch wie die Energiewende möglich wäre ohne massive öffentliche Investitionen in die Erforschung und Umsetzung alternativer Technologien, der hat wirklich nichts verstanden.
Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Sie hatten doch nur Robotron! Die größten Chips der Welt!
Aber statt über solche Fragen auch nur nachzudenken, verhandelt diese Regierung lieber über Investorenschutz. Genaugenommen verhandelt sie nicht, sondern der Wirtschaftsminister führt einen unglaublichen Eiertanz auf, um der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen. Ich rede von den geplanten Freihandelsabkommen CETA und TTIP,
Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Eine große Chance! Die müssen wir schnell umsetzen!
und ich rede von den Sondergerichten für große Konzerne, mittels derer diese Konzerne den deutschen Staat in Zukunft für jede Mindestlohnerhöhung und für jedes Umweltschutzgesetz vor den Kadi ziehen können.
(...)
Man hat allerdings den Eindruck, es gibt etwas, das Ihnen, Frau Merkel, noch wichtiger ist als die Interessen der deutschen Unternehmen: Das sind die Interessen der amerikanischen Regierung und der amerikanischen Wirtschaft. Bei Ihrer Rede in Sydney, Frau Merkel, haben Sie sich furchtbar darüber empört, dass es 25 Jahre nach dem Fall der Mauer immer noch altes Denken in Einflusssphären gibt, das das internationale Recht mit Füßen tritt. »Wer hätte das für möglich gehalten?« wurden Sie zitiert. Man fragt sich ernsthaft, Frau Merkel: Wo leben Sie eigentlich? Und wo haben Sie in den letzten Jahren gelebt?
Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Bei Ihrer Rede frage ich mich auch, wo Sie leben!
Wo haben Sie gelebt, als die USA das internationale Recht im Irak mit Füßen getreten haben, um ihre Einflusssphäre auf das irakische Öl auszudehnen? Wo waren Sie, als unter Beteiligung Deutschlands das internationale Recht in Afghanistan mit Füßen getreten wurde, was es im Übrigen immer noch wird? Wo waren Sie, als Libyen bombardiert wurde und als die syrische Opposition aufgerüstet wurde, Waffenlieferungen an den IS eingeschlossen? War das alles Ihrer Meinung nach in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht? Selbstverständlich ging es dabei auch nie um Einflusssphären.
Ich darf Ihnen die Lektüre eines Buches von Zbigniew Brzezinski, langjähriger Vordenker der US-Außenpolitik, empfehlen.
Max Straubinger (CDU/CSU): Sie lesen die falschen Bücher!
Das Buch aus dem Jahr 1997 trägt den schönen Titel »Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft«. In bezug auf Europa plädiert Brzezinski darin für eine konsequente NATO-Osterweiterung zunächst nach Mitteleuropa, dann nach Süden und über die baltischen Republiken bis zur Ukraine, und zwar weil, wie der Autor schlüssig begründet – ich zitiere – »mit jeder Ausdehnung … automatisch auch die direkte Einflusssphäre der Vereinigten Staaten erweitert« wird.
Dieses alte Denken in Einflusssphären, das sehr erfolgreich umgesetzt wurde, ist Ihnen wirklich nie aufgefallen, Frau Merkel? Dabei gehörten Sie doch zu denen, die genau das in Europa weiter umgesetzt und unterstützt haben. Sie gehörten doch zu den Vasallen, um in der Sprache Brzezinskis zu bleiben, die genau diese Strategie mitgetragen haben. (...)
Frau Merkel, jetzt haben Sie Deutschland in die Neuauflage eines kalten Krieges mit Russland hineingetrieben, der das politische Klima vergiftet und den Frieden in ganz Europa gefährdet. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
Sie haben einen sinnlosen Wirtschaftskrieg angezettelt, der vor allem der deutschen und der europäischen Wirtschaft massiv schadet. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Da Sie so stöhnen: Sie müssen ja nicht in den Unternehmen sitzen, denen die Aufträge wegbrechen. Sie sind da nicht Arbeitnehmer oder Unternehmer. Sie müssen das nicht ausbaden, was Sie angerichtet haben.
Sie warnen vor einem Flächenbrand, Frau Merkel. Aber Sie gehören doch zu denen, die mit brennendem Zündholz herumlaufen. »Verbale Aufrüstung war noch immer der Anfang von Schlimmerem.« Das hat Ihnen Hans-Dietrich Genscher nach Ihrer Rede in Sydney zugerufen.
Nein, man muss Putin wirklich nicht mögen. Man muss auch den russischen Kapitalismus mit seinen Oligarchen nicht mögen. Aber Diplomatie heißt, die Interessen des Gegenübers ernst zu nehmen und sich nicht ignorant über sie hinwegzusetzen. Es fällt schon auf, dass Helmut Kohl und Michail Gorbatschow nahezu wortgleich warnen, dass ohne eine deutsch-russische Partnerschaft keine Stabilität und keine Sicherheit in Europa möglich sind. Der frühere SPD-Vorsitzende Platzeck hat darauf hingewiesen, dass der Handel zwischen Russland und den USA in diesem Jahr zugenommen hat, während der Handel zwischen Russland und Europa und vor allen Dingen Deutschland massive Einbrüche erlebt hat. Als Reaktion arbeitet die CDU/CSU daran, sogenannte vermeintliche Russland-Versteher wie Herrn Platzeck aus dem Petersburger Dialog herauszudrängen.
Statt auf Verstehen setzen Sie offenbar lieber auf Unverstand. In der Ukraine kooperieren Sie mit einem Regime, in dem wichtige Funktionen des Polizei- und Sicherheitsapparates mit ausgewiesenen Nazis besetzt werden. Der Präsident Poroschenko redet vom totalen Krieg und hat den Krankenhäusern und den Rentnern in der Ostukraine alle Zahlungen abgeklemmt. Für Premier Jazenjuk sind die Aufständischen – ich zitiere – »Unmenschen, die es auszulöschen gilt«. Statt sich mit solchen Hasardeuren zu verbünden,
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Ja, sind die gewählt oder sind die nicht gewählt?
brauchen wir endlich wieder eine deutsche Außenpolitik, der Sicherheit und Frieden in Europa wichtiger sind als Anweisungen aus Washington. (Beifall bei der Linken – Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD)
In einem Jahr, in dem sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. und der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal jährt, wäre es dringend angebracht, sich an die Aussage Willy Brandts zu erinnern: »Krieg ist nicht mehr die Ultima ratio, sondern die Ultima irratio.« Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein, Frau Merkel.
Deshalb: Kehren Sie auf den Weg der Diplomatie zurück! Stellen Sie die Sanktionen ein! Sollten sich in der SPD tatsächlich die Stimmen der außenpolitischen Vernunft durchsetzen – von Helmut Schmidt bis Matthias Platzeck –, dann, bitte, Frau Merkel, hören Sie auf Ihren Koalitionspartner. Beenden Sie dieses Spiel mit dem Feuer! (...)
Johannes Kahrs (SPD): Ziemlich mäßige Rede!
Vollständiger Wortlaut und Video: www.sahra-wagenknecht.de