Donnerstag, 31. Mai 2018

Brechts Warnung


Brechts Warnung – Zitat aus

"STICH-PROBEN

TOTGESCHWIEGENES
IM RAMPENLICHT"



Unter dem Titel „STICH-PROBEN“ veröffentlichte der Diplom-Journalist und Blogger Harry Popow im Eigenverlag epubli, Erscheinungsdatum 27.04.2018, seine insgesamt über 80 Buchtipps zu gesellschaftskritischen Sachbüchern.  Es trägt mit seinen 376 Seiten Symbolcharakter für die von den Printmedien kaum beachteten bzw. totgeschwiegenen Analysen, Meinungen, Kommentaren sowie autobiografischen Notizen zum Alltag und zu politischen und persönlichen Problemen des gesellschaftlichen Lebens.



Der Autor schrieb diese Buchtipps im Interesse der notwendigen Veränderungen im System der kapitalistischen Herrschaft in der BRD, im Interesse von Abrüstung statt Aufrüstung. Es ist ein bemerkenswerte konzentriertes Angebot an philosophischen, geschichtlichen und besonders aktuellen Erkenntnissen sowie deren Lösungsansätzen. Zu Wort kommen mit ihren Büchern solche Autoren wie Wolfgang Beutin, Hermann Klenner und Eckart Spoo. Sie sind Herausgeber des Buches „Lob des Kommunismus. Darin zitieren sie auf Seite 7 Platon (427-347), einer der bedeutensten Philosophen der Antike: „In einem Gemeinwesen, in dem Reichtum und Armut fremd sind, wird auch die beste Gesittung zu finden sein, denn weder Frevelmut noch Ungerechtigkeit kommen da auf.“ (siehe in diesem Buch S. 191)

Zu danken für ihre polemischen Schriften sind u.a. Lucas Zeise, Daniela Dahn, Jürgen Grässlin, Hans-Dieter Mäde, Jürgen Roth, Matthias Eik & Marc Friedrich, Heiko Schrang, Christiane Florin, Herman L. Gremliza (Hg.), Brigitte Queck oder Wolfgang Bittner, um nur einige zu erwähnen: Wir brauchen in Deutschland nicht den politischen Stillstand, sondern den Aufbruch, die Veränderung, die auch im Buch „Staatsfeind bis heute“ von Gunter Pirntke, die 11. Feuerbachthese betreffend, dringend angemahnt wird.

Der Autor: Geboren 1936 in Berlin-Tegel, erlebte noch die letzten Kriegsjahre. Ab 1953 war er Berglehrling im Zwickauer Steinkohlenrevier und ab Herbst 1954 Angehöriger der KVP, später NVA. In den bewaffneten Kräften diente er bis 1986 u.a. als Militärjournalist. Den Titel Diplomjournalist erwarb er sich im fünfjährigen Fernstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nach Beendigung der fast 32-jährigen Dienstzeit arbeitete Harry Popow bis Ende 1991 als Journalist und Berater im Fernsehen der DDR. 81-Jährig betätigt er sich als Blogger, Rezensent, Autor und Hobbymaler. Er ist seit 1961 sehr glücklich verheiratet.
Harry Popow: „STICH-PROBEN. TOTGESCHWIEGENES IM RAMPENLICHT. Texte: © Copyright by Harry Popow, Umschlaggestaltung: © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Sprache: Deutsch, ISBN: 9783746719931, Format: DIN A5 hoch, Seiten: 376, Preis: 20,99 Euro
https://www.epubli.de/shop/buch/STICH-PROBEN-Harry-Popow-9783746719931/74336


Leseprobe:




BRECHTS WARNUNG




Bertolt Brecht
Zum Völkerkongress für den Frieden (Wien 1952)

Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. Die Beschreibungen, die der New Yorker von den Gräueln der Atombombe erhielt, schrecken ihn anscheinend nur wenig. Der Hamburger ist noch umringt von Ruinen, und doch zögert er, die Hand gegen einen neuen Krieg zu erheben. Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre scheinen vergessen. Der Regen von gestern macht uns nicht nass, sagen viele.

Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod. Allzu viele kommen uns schon heute vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen.

Und doch wird nichts mich davon überzeugen, dass es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen.
Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnung erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!

Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.



Dank der Roten Armee



Befreiung durch die Rote Armee war auch der Sieg von Marschall Georgi K. Shukow



Drachentöter und Volkes Opfermut



Von Dietrich Schulze

Der Oberbefehlshaber der Roten Armee Marschall Georgi Konstantinowitsch Shukow nahm am 8. Mai in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation der faschistischen deutschen Wehrmacht entgegen. Er hatte mit seinem einmaligen militärischen Genie den mit 27 Millionen Opfern erkämpften Verteidigungskrieg der Sowjetunion geprägt. Ohne ihn wäre die Menschheit dem Todesstoß der faschistischen Weltherrschaft ausgesetzt gewesen. Georgi Shukow (1896–1974) ist eine der bedeutendsten Persönlichkeiten aller Zeiten. 

Dem Neuen Deutschland verdanken wir am 25. Mai 2018 die Rezension der neuen Biografie "Marschall Schukow. Der Mann, der Hitler besiegte" von Philipp Ewers in Edition Berolina 2017 [1]. Karl-Heinz Gräfe hat sie unter dem Titel „Der Drachentöter, der die Hakenkreuz-Bestie bezwang“ [2] verfasst. Leider erwähnt er nicht, dass bereits am 24. Juni 2017 eine Rezension von René Lindenau [3] erschienen ist. Anyhow – äußerst lesenswert beide Rezensionen zu einer äußerst lesenswerten Biografie.

Was bewegt den Autor als Marxisten, der sich zum Pazifisten entwickelt hat, den Begriff „militärisches Genie“ in den Mund zu nehmen? Dazu zwei Gedanken:



- Das ist eine historische Ausnahme. Wissenschaftler kennen begründete Ausnahmen von den Prinzipien.

- Wie dem NRhZ-Titel zu entnehmen ist, hatte das Militärische der Sowjetunion eine wesentliche Grundlage, nämlich die unbedingte Bereitschaft der Bevölkerung, lieber in den Tod zu gehen als das Land besetzen zu lassen.
Blick in die Gegenwart

Die Befreiungsfeiern 2018 waren bundesweit gut besucht. Überall wurde die anwachsende Hetze gegen Russland thematisiert und gefordert, Verständigung und Zusammenarbeit mit Russland zu suchen. Dazu nur eine prominente Stimme. Albrecht Müller erklärte 2015 [5] zur Lage in Europa und zum neu belebten West-Ost-Konflikt:

»Putin erinnert an die Hoffnung auf einen Raum gemeinsamer Sicherheit und fragt, warum nach dem Zerfall des Warschauer Paktes man nicht auch die NATO zur Disposition gestellt hat und sie und ihre militärische Infrastruktur stattdessen weiter ausdehnt.«

Lassen wir die Worte von Wladimir Putin am 9. Mai auf den Roten Platz in Moskau in uns wirken [4]:

»Unser Volk hat auf Leben und Tod gekämpft. Kein Land der Welt hat je einen solchen Angriff abgewehrt, keines hat unter dem Beschuss des Aggressors Millionen Menschen und Tausende Fabriken evakuiert, die am neuen Standort praktisch sofort Gerät und Munition für die Front produziert haben. Wir haben das eigentlich Unmögliche geschafft. Unsere Truppen haben in den entscheidenden Schlachten um Moskau und Stalingrad, bei Kursk, am Dnjepr und beim Durchbruch ins belagerte Leningrad grandiose Siege errungen.«

Ja, Shukow war mit seinen Talenten an der Spitze dabei. Das folgende mögen viele nicht hören. Ich sage es trotzdem. Stalin hat die Schukow-Entscheidungen zum Nutzen aller unterstützt.
Rezensionen zur Shukow-Biografie



- Karl-Heinz Gräfe 2018:
»Gestützt auf neue Quellen versucht Philipp Ewers den Militär, Politiker und Menschen im Kontext konkreter Gegebenheiten und Erfordernissen ausgewogen und differenziert zu beurteilen. … Der Biograf beleuchtet den Anteil Shukows an den entscheidenden Operationen der Sowjetarmee (Offensive in der Tiefe des gegnerischen Raumes) vor und im Großen Vaterländischen Krieg (Chalchin Gol, Moskau, Leningrad, Stalingrad, Kursk, Berlin).«

- Und zu einem Schlüsselkapitel nach dem Krieg:
»Shukow hatte wesentlichen Anteil daran, dass die Sowjetarmee ein atomares Schwert erhielt, das er selbst als ein doppelschneidiges empfand - tödlich für den Angegriffenen wie für den Angreifer. Ein atomarer Krieg würde keine Sieger kennen. Shukow beklagte, dass die USA die Sowjetunion mit einem dichten Netz militärischer Stützpunkte umgarnt und in ein Wettrüsten hineingezogen hatte. Er bedauerte, dass der einstige Alliierte, Partner im Kampf gegen Hitlerdeutschland, auf Konfrontationskurs umgesattelt und der von ihm geschätzte Dwight »Ike« Eisenhower (1890 - 1969) sich als USA-Präsident in Geiselhaft des allmächtigen militärisch-industriellen Komplexes begeben habe. Der sowjetische Militär hoffte auf friedliche Koexistenz und Abrüstung.«

- René Lindenau 2017 zur Person und erneut zur Genfer Abrüstungskonferenz:
»Das Leben von Marschall Georgi K. Shukow war eines von zahlreichen Erfolgen, Rückschlägen, Brüchen und politischen wie privaten Tragödien und sicher auch von Momenten des Glücks. .... Eisenhower und Shukow am Rande der Genfer Abrüstungskonferenz. Hier habe sich der neue sowjetische Minister sehr würdevoll und diplomatisch verhalten, wobei er nicht wie der gnadenlose Befehlshaber gewirkt habe, als der er oft beschrieben wurde.«
Zu den Realitäten heute

Als ob die Geschichte komplett vergessen wäre, rollt US-Militär über den hiesigen Boden nach Osten an die russische Grenze [6]. Die Rüstungsexporte an NATO-Freunde und Kriegsgebiete weltweit  werden gerade in einem Staffelrennen „Frieden geht!“ öffentlich gebrandmarkt [7]. Jürgen Grässlin spricht vom Mordsgeschäft Waffenhandel [8]. Zerstörung der für den Frieden notwendigen Verständigung als weltweites westliches Selbstverständnis für Palästina/Israel, Syrien, Iran, Korea, Venezuela und viele mehr. Das will das NATO-Deutsch-Europa und die neudeutsche Weltmacht auf der Lauer. Wir können und werden für das NEIN dazu auf die Straßen gehen und dabei das JA zur multipolaren Weltordnung als Alternative sichtbar machen [9]. Bitte werfen Sie doch mal einen Blick in die WebDoku (Autordaten).
Mahnung von Bert Brecht

Bitte hören Sie doch zum Schluss sein Grußwort an den Völkerkongress für den Frieden 1952 in Wien unter dem Titel „Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz“ [10].


Philipp Ewers: Marschall Schukow. Der Mann, der Hitler besiegte

Edition Berolina, 335 Seiten, gebunden, 14,99 Euro





Quellen:

[1] https://www.amazon.de/Marshall-Schukow-Hitler-besiegte-Biographie/dp/395841060X
[2] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1089070.der-drachentoeter-der-die-hakenkreuz-bestie-bezwang.html
[3] http://www.scharf-links.de/45.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=61249
[4] https://www.jungewelt.de/artikel/332258.putins-rede-zum-tag-des-sieges-auf-dem-roten-platz-in-moskau.html
[5] https://www.nachdenkseiten.de/?p=27891
[6] https://www.jungewelt.de/artikel/333069.us-milit%C3%A4r-rollt-nach-osten.html
[7] https://www.frieden-geht.de/
[8] http://www.stattweb.de/files/civil/Doku20180525jg.pdf
[9] http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24827
[10] https://www.youtube.com/watch?v=L0Vi3XMVsd4


Über den Autor: Dr.-Ing. Dietrich Schulze (Jg. 1940) war nach 18-jähriger Forschungstätigkeit im Bereich der Hochenergie-Physik von 1984 bis 2005 Betriebsratsvorsitzender im Forschungszentrum Karlsruhe (jetzt KIT Campus Nord). 2008 gründete er mit anderen in Karlsruhe die Initiative gegen Militärforschung an Universitäten „Zivilklausel oder Militärforschung“ (WebDoku www.stattweb.de/files/DokuKITcivil.pdf).
Er ist Beiratsmitglied von NatWiss und publizistisch tätig. Email dietrich.schulze@gmx.de

Online-Flyer Nr. 661  vom 30.05.2018







Montag, 28. Mai 2018

Schätze und Sätze - von Dietmar Dath





Aus: Ausgabe vom 12.05.2018, Seite 12 / Thema

Schätze und Sätze



Entgegen allen Unkenrufen lässt sich die Gegenwart mit Karl Marx ganz wunderbar begreifen. Eine Rede zum 200. Geburtstag des Ökonomen und Philosophen


Von Dietmar Dath

Wir dokumentieren im folgenden die Rede, die der Schriftsteller Dietmar Dath am 5. Mai auf der jW-Veranstaltung »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen« aus Anlass von dessen 200. Geburtstag gehalten hat. (jW)

Das schöne Programm von Frauke und Gina Pietsch heute abend heißt »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen«. Für alle, die keine großen Aktienpakete von Weltkonzernen, keinen umfangreichen Immobilienbesitz und überhaupt keine Gewalt über die Arbeit anderer ihr eigen nennen, könnte es auch heißen: »Seiner Notwendigkeit wegen.«

Die Frage ist nämlich längst nicht mehr, ob die Sätze wohl Schätze sind, die wir von Karl Marx geerbt haben, ob sich darin Weisheiten und gar Wahrheiten entdecken lassen. Dass das so ist, wissen nämlich sowieso alle, auch die ihm feindlichst gesonnenen Wirtschaftswissenschaftler oder politischen Propagandakünstler, und die Besitzenden sowieso – die wissen es instinktiv, die brauchen ihn nicht zu studieren. Diejenigen zum Beispiel, die in diesem Land wie Drohnen über Städten kreisen, um aus der Abstraktionshöhe demographischer und ökonomischer Kenndatensätze, wie sie etwa die Bertelsmann-Stiftung im Projekt »Wegweiser Kommune« ermittelt hat, abzuschätzen, ob es sich lohnt, im sogenannten Speckgürtel der Metropolen Spekulationsgeschäfte mit Wohn- oder Wirtschaftsraum anzuzetteln, verhalten sich ganz selbstverständlich marxistisch, nämlich schlauer als die Sozialdemokratie, die immer noch so tut, als wären die politische Ökonomie und ihre Kritik ohne Verständnis- und Kampfkraftverlust auf den Stummelbegriff »Arbeitsplätze« zusammenzustreichen, während doch in Wirklichkeit das Privateigentum an den Lebensgrundlagen und die Gewalt über die Arbeit anderer das Thema ist.

Kein Unbekannter



Marx hat den Sozialdemokraten (und allen anderen, nicht nur Linken) gerade dies immer wieder erklärt, auch in direkter Konfrontation mit ihren programmatischen Verlautbarungen, in der 1875 geschriebenen »Kritik des Gothaer Programms« etwa. Dort setzt er das Grundeigentum und das Kapitaleigentum auf dem seinerzeitigen Stand so glasklar zueinander in Beziehung, dass sogar die heutige SPD oder die häuslebauenden baden-württembergischen Dunkelgrünen es sollten verstehen und die Verlängerung ins Heute denken können. Aber sie bleiben (oder sie stellen sich) dumm. Statt dessen, wie gesagt, sind es die Kapitalisten und Grundeigentümer, die sich verhalten, wie’s bei Marx steht, weil sie einfach wissen, dass das stimmt, was da steht – genau wie das, was der historische Materialismus über Ursachen und Chancen von Kriegen herausgekriegt hat, weshalb es ohne viel Aufhebens Eingang gefunden hat ins Denken und Handeln der Leute, die Kriege planen (oder, wie sie uns immer wieder glauben machen wollen, entgegen ihrem allerbesten Willen in Kriege schliddern).

Wer immer heute Besitz und Privileg verteidigt oder räuberisch vermehrt, führt sich in zunehmendem Maße geradezu vulgärmarxistisch auf, hält sich also, weniger wertend formuliert, mit bemerkenswerter Treue an Einsichten und Aussichten, die Marx zuerst formuliert hat. Wenn man die Literatur auch nur überfliegt, die Besitzende und Bevorrechtigte für sich sprechen lassen, ihre populären Medien und gelehrten Abhandlungen, findet man immer wieder, dass sie oder zumindest ihre besser bezahlten Vor- und Nachdenkfabrikbeschäftigten Marx kennen, ja: dass sie ihm, so zwischen Krieg und Krise, nicht selten zwischen ihren Schlag- und Zischzeilen gerade das glauben, was ihren offiziellen Erklärungen für ihr abscheuliches Treiben am deutlichsten widerspricht.

Wir verdanken diesem Mann zunächst die moderne Ideologiekritik, also die Erkenntnis, dass die durchschnittliche Geräuschkulisse einer Gesellschaft sehr genau weiß, wer in ihr die Musik bestellt und bezahlt. Wir verdanken ihm und seinem Freund und Förderer Friedrich Engels ferner überhaupt den schon erwähnten historischen Materialismus, das heißt die Wahrheit, dass sich die Menschheitsgeschichte nicht nach Ideen richtet, weder nach falschen noch nach richtigen, und dass man das wissen muss, wenn man sie neu organisieren und nach den richtigen Ideen fortsetzen will. Als Übersetzung von Annahmen über die Ideengeleitetheit der Weltereignisse in Taten kamen ja, bevor Marx für diese Übersetzung ein revolutionäres Wörterbuch anlegte, schon die wichtigsten bürgerlichen Errungenschaften in die Welt, zum Beispiel die heutzutage so gern als Propagandawerkzeug missbrauchten Menschenrechte: Erst glaubte man, theologisch, diese Rechtsform hafte den empirischen Menschen per himmlischem Dekret als evidente Gottesebenbildlichkeit an; dann sah man ein, dass das weder im Dschungel noch auf der Straße, auf Plätzen und in Gebäuden gilt, dann beschloss man, es wenigstens in der menschengemachten Welt durchzusetzen und veranstaltete zu diesem Zweck schließlich die Revolution, zunächst die Französische – Marx hat das, was da geschah, verallgemeinert, sein Materialismus ist ein über sich selbst aufgeklärter Idealismus, einer mit Zähnen, einer, der beißt, wenn man ihn reizt. Die Geschichte der Lehre von Marx ist die Geschichte der Überwindung des Missverständnisses von Geschichte überhaupt als Ideengeschichte.

Ich will die Reihe der Grundverdienste des Jubilars nicht so lange fortsetzen, bis sie euch und mich erschöpft, verwiesen sei nur noch darauf, dass er den Irrtum des bürgerlichen Individualismus kritisch auflöste, »das Individuum« (was immer das sei) stehe im primordialen Gegensatz zur Gesellschaft. Marx wies statt dessen nach, dass jedes Individuum, sofern überhaupt eins existiert, von ganz bestimmten Gesellschaften erreicht, erzeugt, geformt und mit Raum zur Selbsterziehung oder Selbstverhunzung beschenkt wird, darunter der kapitalistischen, die man deshalb studieren muss, wenn man das vorhandene durchschnittliche Individuum eher mangelhaft findet und in den allermeisten Fällen einen armen Hund, dem es besser gehen und der besser (freier, reicher, klüger, offener) sein könnte.

Marx hat seinen eigenen Rat beherzigt und diese Gesellschaft studiert. So gelang es ihm offenzulegen, wie sie ausbeutet, unterdrückt, ausgrenzt, einschließt, wie sie Menschen vereinzelt, vereinsamt, sie verkommen lässt. Weil man so nicht leben kann, hat Marx sich außerdem Gedanken darüber gemacht, wie eine andere, eine im Sinn des verwirklichten und entfalteten menschlichen Potentials eingerichtete Gesellschaft aussehen könnte, und dabei einen Kommunismus skizziert, der nicht fertig aus dem Backofen springt und den man auch nicht downloaden kann.

Dieser Kommunismus hat unter anderem eine niedere Stufe, deren Aufgabe es ist, nach bestimmten, vernünftigen Regeln die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse so zu entwickeln, dass eine höhere Stufe dieses Kommunismus möglich wird, worin dann »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Auf ihr wird dann auch praktisch der Widerspruch zwischen Einzelperson und Gemeinwesen aufgelöst, den Marx zuvor schon kritisch aufgelöst hat.

Es stecken folglich, wie man sieht, anwendbare und tiefgreifende Wahrheiten in den Sätzen des Jubilars, und es stecken Weisheiten drin. Das kann man wissen, das fragt sich nicht. Was sich aber fragt, ist, wie viele und welche von diesen Wahrheiten und Weisheiten wir mit den derzeit schwachen Kräften aller, die überhaupt noch eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Ausgrenzung, Einkerkerung, Entfremdung und Asozialität wollen, durch diese blöden und bösen Zeiten tragen können, wie viele und welche wir weitergeben und was damit sonst geschehen soll.

Eine einfache und, wie ich aus eigener Praxis bezeugen kann, sehr effektive Methode, die Wahrheiten und Weisheiten im Gebrauch zu halten, die wir Marx verdanken, ist die, sich ohne falsche Scheu an Leute zu wenden, die gerade an einem konkreten Fall (und am besten nicht passiv erleidend, sondern im Kampf) etwas für sie Neues über Ausbeutung, Unterdrückung, Ausgrenzung, Einkerkerung, Entfremdung und Asozialität gelernt haben, und ihnen dann zu zeigen, dass diese jeweilige Neuigkeit schon seit mehr als hundert Jahren bei Marx steht und auf sie wartet.

»Schön, dass ihr doch noch gekommen seid«, ist ja der Standardgruß, der aufrichtigen Linken immer wieder aus diesen Texten winkt.

Schrankenlose Verfügung



In Hollywood zum Beispiel, wo der Bewusstseinsstand traditionell tief unterm technisch illusionistischen State of the Art dahinsiecht, hat man neuerdings mit Staunen und Augenreiben strukturelles Unrecht entdeckt, das heißt seltsame Phänomene zwischen Vergütungsgefälle und menschlicher Ekelhaftigkeit, zwischen Rassismus, Sexismus und anderen Arten der Verletzung bürgerlicher Gleichheitsgrundsätze.

Da wundern sich dann ehrliche Gleichheitsbegeisterte, etwa Schauspielerinnen und Schauspieler, öffentlich darüber, dass etwas offenbar gar nicht stimmt, was diese Gesellschaft von sich verbreiten lässt, nämlich die Behauptung, Arbeits- und sonstige Sozialverhältnisse seien in ihr nicht mehr solche der persönlichen Machtausübung wie in der Sklaverei oder der Leibeigenenwirtschaft, sondern unterm Vorzeichen des Verkaufs von Arbeitskraft schön vertraglich geregelt, nicht mehr mit Peitsche und Halseisen, sondern mit dem Handy und dem Beeper, ganz versachlicht, in gerechtem Tausch, zum Beispiel: Schönheit und Talent gegen Reichtum, Drogenabhängigkeit und Ruhm.

In Wirklichkeit ist die ganze schöne Pantomime von der Objektivität der Transaktion und dem Tod der subjektiven Willkür ein Ablenkungsmanöver, weil in dieser Gesellschaft schon die Definition dessen, was überhaupt sinnvolle, produktive Tätigkeit sei, ohne die Menschen ja gar nicht leben könnten, einer grauenhaften Wahnvorstellung gehorchen muss, nämlich dem Gebot, dass (bei allem Gelaber von flachen Hierarchien, Teams und gemeinsam erfüllten Aufgaben) immer nur diejenigen Arbeitsresultate als produktiv gelten, die irgendeinem Idioten mit Besitztitel (oder wenigstens einem Unteridioten mit verbrieftem Mandat von so einem Oberiditioten) Profit einbringen. Dass diese Gesellschaft zwischen beruflichem Verhältnis und sexueller Belästigung (bis hin zur Vergewaltigung) ein Kontinuum der schrankenlosen Verfügung gewisser Menschen über andere Menschen eingerichtet hat, steht wortwörtlich bei Marx in den »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie«, die er 1857 und 1858 schrieb, und zwar in der stellenweise obszönen Sprache, die dem obszönen Sachverhalt entspricht, nämlich da, wo er von den modernen Wirtschaftsgelehrten sagt, sie hätten sich zu solchen Liebedienern des abstrakten besitzenden Schweinerkerls (ob das nun ein Fabrikant oder ein Filmproduzent ist, bleibt sich gleich) gemacht, dass sie, und nun wörtlich Marx: »demselben weismachen wollen, es sei produktive Arbeit, wenn einer ihm die Läuse auf dem Kopf suche, oder ihm den Schwanz reibe, weil etwa die letztre Bewegung ihm den dicken Kopf – blockhead – den nächsten Tag aufgeräumter für das Comptoir machen werde. Es ist daher ganz richtig – zugleich aber auch charakteristisch – dass den konsequenten Ökonomen die Arbeiter z. B. von Luxusshops produktive Arbeiter sind, obgleich die Kerls, die solche Gegenstände verzehren, ausdrücklich als unproduktive Verschwender kastigiert werden. Das fact ist, dass diese Arbeiter, indeed, produktiv sind, as far as they increase the capital of their master; unproductive as to the material result of their labour. In fact ist ja dieser ›produktive‹ Arbeiter gerade ebenso interessiert an dem Scheißdreck, den er machen muss, wie der Kapitalist selber, der auch den Teufel nach dem Plunder fragt.«

Wer jemals die Luxusunternehmer, die Figuren, von denen er da redet, in Venedig auf dem Filmfest getroffen hat, weiß, dass das alles stimmt, inklusive Desinteresse an den Uhren und Klamotten, denen sie vordergründig ihr Vermögen verdanken.

Geplantes Schliddern



Wir hier dagegen, heute abend und hoffentlich darüber hinaus, sind sehr interessiert – nicht an Scheißdreck, aber doch an Schätzen, an Sätzen von Marx, die wir reproduzieren müssen, wo sie passen.

Welche werden wir wie weitertragen, weitergeben können?

Das hängt unter anderem davon ab, ob wir das überleben, was auf uns zukommt, nicht zuletzt die Kriege, mit denen jetzt gerechnet wird – einerseits von Investigativdenkern, die glauben, derartige Kriege würden kühl geplant, andererseits von immer wieder neu aus heiterem Himmel entsetzten Medienmenschen, die ganz ungekünstelt für wahr halten, was die Monopolbourgeoisien der vorhandenen paar souveränen Staaten und überstaatlichen Bündnisse erzählen lassen, nämlich, ich sagte es schon, dass sie in Kriege immer nur hineinschliddern. Die Wahrheit liegt, auch das wissen wir von Marx, zwischen Plan und Schliddern, aber nicht platt irgendwie in der Mitte, sondern dialektisch vermittelt: Diese Verbrecher planen kühl, bei Gelegenheit zu schliddern, mehr Plan brauchen sie nicht.

Axel Springers Welt hat das vor rund einem Jahr, am 25. Mai 2017, aus gegebenem Anlass wieder einmal fein bestätigt: »Die Staats- und Regierungschefs der NATO haben 2014 gemeinsam Ziele für ihre Verteidigungsausgaben festgelegt. Das wichtigste von ihnen lautet, dass alle Länder darauf abzielen sollen, spätestens von 2024 an zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung und Militär auszugeben. Das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel wurde unter dem Eindruck der Ukraine-Krise beschlossen.«

Der reine Feinsinn: »unter dem Eindruck«, wie ein Poet was dichtet, wenn er zum ersten Mal die Alpen gesehen hat.

In der Woche, die jetzt direkt hinter uns liegt, erfreute uns die »Tagesschau« der ARD mit einer Zwischenmeldung auf dem Schlidderplanweg: »Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen fordert in der derzeitigen Legislaturperiode zwölf Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr. Damit ist der finanzielle Mehrbedarf, den die CDU-Politikerin in den laufenden Haushaltsverhandlungen angemeldet habe, mehr als doppelt so hoch wie im Entwurf von Finanzminister Olaf Scholz vorgesehen.«

Was machen wir mit diesen ekelhaften Auskünften, wenn wir Marx gelesen haben? Über seine Haltung zu Kriegen ist viel verwirrtes Geschwätz im Umlauf. Waren er und Engels nicht gegen Russland und für einen preußisch-deutschen Angriff aufs Zarenreich? War er nicht auch irgendwann einmal gegen oder für Frankreich? War er nicht für die Union und gegen die Sezession im amerikanischen Bürgerkrieg, der Sklaverei wegen? Und heißt das alles nicht, dass man, wenn man Marx folgen will, der gewiss kein Gesinnungspazifist war, ab und zu auch Kriegsanstrengungen befürworten könne, ja müsse? Nun ja, die Rote Armee gegen die Wehrmacht, selbstverständlich, das ist nicht schwierig, da braucht man aber keinen Marx, das geht mit dem kleinsten Messerspitzchen Verstand und Gewissen. Diejenigen allerdings, die für imperialistische Kriege das Wort ergreifen und es wagen, dabei auf marxistischen Gründen herumzukauen, sollen sich hüten, so zu tun, als wären Stellungnahmen zu Kriegen Fußballwetten und als dürfe man sich die sympathischere Mannschaft aussuchen, um mit gutem Gewissen vom Ergebnis zu profitieren.

Engels hat Marx nämlich ganz richtig verstanden, als er nach dem Tod des Freundes die Arbeiterbewegung als größte Feindin imperialistischer Kriege ansprach und auch sonst unmissdeutbar beschrieb und erläuterte, wie sozialistisches Denken und Handeln im Zusammenhang mit den Kriegen der Besitzenden aussehen – doch, Engels, genau, denn ich werde doch hier keinen Marx-Vortrag halten und diesen Mann nicht oft genug erwähnen, obwohl, nein: gerade weil es eine der übelsten Sitten der bürgerlichen Marx-Entstellerei ist, Engels von Marx zu trennen, etwa, um Marx ins 19. Jahrhundert abzuschieben, über das hinaus Engels so unübersehbar in die Arbeiterbewegung gewirkt hat, oder um Marx in die Philosophie abzuschieben, die für Engels eher von nachrangigem Interesse war, und jedenfalls: um Marx zu isolieren, damit er nicht am Ende noch mit Lenin in Kontakt kommt, dazu gleich mehr.

Engels also, um zu ihm zurückzukehren, hat spät im Leben, lange nach dem Tod des Freundes, ein neues Vorwort zu einer von Marxens wichtigsten kürzeren, eingreifenden Schriften verfasst, den »Klassenkämpfen in Frankreich 1848 bis 1850«.

Politisch vermittelte Ökonomie



Der Nachlasstreuhänder stellte gleich zu Beginn seines späten Vorworts klar, was diese Arbeit so wichtig macht: »Die hiermit neu herausgegebene Arbeit war Marx’ erster Versuch, ein Stück Zeitgeschichte vermittelst seiner materialistischen Auffassungsweise aus der gegebenen ökonomischen Lage zu erklären. Im ›Kommunistischen Manifest‹ war die Theorie in großen Umrissen auf die ganze neuere Geschichte angewandt, in Marx’ und meinen Artikeln der Neuen Rheinischen Zeitung war sie fortwährend benutzt worden zur Deutung gleichzeitiger politischer Ereignisse. Hier dagegen handelte es sich darum, im Verlauf einer mehrjährigen, für ganz Europa sowohl kritischen wie typischen Entwicklung den inneren Kausalzusammenhang nachzuweisen, also, im Sinn des Verfassers, die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wirkungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen.«

Beim Ersterscheinen waren der Schrift die Sätze vorangestellt: »Mit Ausnahme einiger weniger Kapitel trägt jeder bedeutendere Abschnitt der Revolutionsannalen von 1848 bis 1849 die Überschrift: Niederlage der Revolution! Was in diesen Niederlagen erlag, war nicht die Revolution. Es waren die vorrevolutionären traditionellen Anhängsel, Resultate gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich noch nicht zu scharfen Klassengegensätzen zugespitzt hatten – Personen, Illusionen, Vorstellungen, Projekte, wovon die revolutionäre Partei vor der Februarrevolution nicht frei war, wovon nicht der Februarsieg, sondern nur eine Reihe von Niederlagen sie befreien konnte. Mit einem Worte: Nicht in seinen unmittelbaren tragikomischen Errungenschaften brach sich der revolutionäre Fortschritt Bahn, sondern umgekehrt, in der Erzeugung einer geschlossenen, mächtigen Konterrevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Bekämpfung erst die Umsturzpartei zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifte. Dies nachzuweisen ist die Aufgabe der folgenden Blätter.«

Für uns, die wir die Zerstörung der sozialistischen Staatenwelt erlebt haben, ist hier eine unschätzbar wichtige Wahrheit aufbewahrt: Die Niederlage und ihre Analyse sind der Lehre von Marx nicht nur nicht fremd, sie gehören im Innersten zu ihr, soll sagen: Sie haben ihr dazu verholfen, überhaupt so gründlich und so wahr zu werden, wie sie ist, eben weil die Niederlagenanalyse eines der wichtigsten Momente jeder Theorie sein muss, die es unternimmt, »die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wirkungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen«.

Die Kräfteverhältnisse zwischen Frankreich und anderen Staaten waren für die Analyse, die Marx 1850 schrieb, solche ökonomischen Ursachen, aber in politischer Vermittlung, als relativer Stand des Klassenkampfes nämlich, als Zustand der beiden nationalen Bourgeoisien und als Metrik des Spielraums für ihre Gegner. Das Modell, das Marx davon gebaut hatte, bestätigte sich in den Jahrzehnten danach, wie Engels in seinem späten Vorwort ausführt, schlagend und glänzend: »Nach dem Kriege von 1870/71 verschwindet Bonaparte vom Schauplatz, und Bismarcks Mission ist vollendet, so dass er nun wieder zum ordinären Junker herabsinken kann. Den Abschluss der Periode aber bildet die Kommune von Paris. Ein heimtückischer Versuch von Thiers, der Pariser Nationalgarde ihre Geschütze zu stehlen, rief einen siegreichen Aufstand hervor. Es zeigte sich wieder, dass in Paris keine andere Revolution mehr möglich ist als eine proletarische. Die Herrschaft fiel der Arbeiterklasse nach dem Sieg ganz von selbst, ganz unbestritten in den Schoß. Und wiederum zeigte sich, wie unmöglich auch damals noch, zwanzig Jahre nach der in unserer Schrift geschilderten Zeit, diese Herrschaft der Arbeiterklasse war. Einerseits ließ Frankreich Paris im Stich, sah zu, wie es unter den Kugeln Mac-Mahons verblutete; andererseits verzehrte sich die Kommune im unfruchtbaren Streit der beiden sie spaltenden Parteien, der Blanquisten (Majorität) und der Proudhonisten (Minorität), die beide nicht wussten, was zu tun war. Ebenso unfruchtbar wie 1848 die Überrumpelung, blieb 1871 der geschenkte Sieg.

Mit der Pariser Kommune glaubte man das streitbare Proletariat endgültig begraben. Aber ganz im Gegenteil, von der Kommune und vom Deutsch-Französischen Krieg datiert sein gewaltigster Aufschwung. Die totale Umwälzung des gesamten Kriegswesens durch die Einrangierung der ganzen waffenfähigen Bevölkerung in die nur noch nach Millionen zu berechnenden Armeen, durch Feuerwaffen, Geschosse und Explosivstoffe von bisher unerhörter Wirkungskraft machte einerseits der bonapartistischen Kriegsperiode ein jähes Ende und sicherte die friedliche industrielle Entwicklung, indem sie jeden anderen Krieg unmöglich machte als einen Weltkrieg von unerhörter Greuelhaftigkeit und von absolut unberechenbarem Ausgang. Andrerseits trieb sie durch die in geometrischer Progression steigenden Heereskosten die Steuern zu unerschwinglicher Höhe und damit die ärmeren Volksklassen in die Arme des Sozialismus. Die Annexion von Elsass-Lothringen, die nächste Ursache der tollen Konkurrenz in Kriegsrüstungen, mochte die französische und deutsche Bourgeoisie gegeneinander chauvinistisch verhetzen; für die Arbeiter beider Länder wurde sie ein neues Band der Einigung. Und der Jahrestag der Kommune von Paris wurde der erste allgemeine Festtag des gesamten Proletariats.«

Richtmaß: Umsturz



Was hier klargestellt ist, kann man gar nicht oft genug sagen: Die Partei, zu der Marx hielt, war schlicht in jedem Land diejenige, die antrat, die Klassenherrschaft der Besitzenden zu stürzen. An ihr und sonst an nichts richtet er seine Einschätzung auch jeder militärischen Lage aus, vor dem Krieg, nach dem Krieg, im Krieg. Wer ihm das nicht nachtun will, soll sich auf was und wen immer berufen – nicht auf Marx.

Diese Umsturzpartei ist heute vergleichsweise schwach. Man stellt ihr nach, wo sie sich zu erkennen gibt, sie wirkt von abseits her, man muss sie manchmal suchen. Aber das gab’s schon früher, sagt Engels mit bösem Witz in seinem Vorwort zu den »Klassenkämpfen in Frankreich«:

»Es sind nun fast aufs Jahr 1.600 Jahre, da wirtschaftete im Römischen Reich ebenfalls eine gefährliche Umsturzpartei. Sie untergrub die Religion und alle Grundlagen des Staates; sie leugnete geradezu, dass des Kaisers Wille das höchste Gesetz, sie war vaterlandslos, international, sie breitete sich aus über alle Reichslande von Gallien bis Asien und über die Reichsgrenzen hinaus. Sie hatte lange unterirdisch, im verborgenen gewühlt; sie hielt sich aber schon seit längerer Zeit stark genug, offen ans Licht zu treten. Diese Umsturzpartei, die unter dem Namen der Christen bekannt war, hatte auch ihre starke Vertretung im Heer; ganze Legionen waren christlich. Wenn sie zu den Opferzeremonien der heidnischen Landeskirche kommandiert wurden, um dort die Honneurs zu machen, trieben die Umstürzlersoldaten die Frechheit so weit, dass sie zum Protest besondere Abzeichen – Kreuze – an ihre Helme steckten. Selbst die üblichen Kasernenschurigeleien der Vorgesetzten waren fruchtlos. Der Kaiser Diokletian konnte nicht länger ruhig zusehen, wie Ordnung, Gehorsam und Zucht in seinem Heere untergraben wurden. Er griff energisch ein, weil es noch Zeit war. Er erließ ein Sozialisten-, wollte sagen Christengesetz. Die Versammlungen der Umstürzler wurden verboten, ihre Saallokalitäten geschlossen oder gar niedergerissen, die christlichen Abzeichen, Kreuze etc. wurden verboten wie in Sachsen die roten Schnupftücher. Die Christen wurden für unfähig erklärt, Staatsämter zu bekleiden, nicht einmal Gefreite sollten sie werden dürfen. Da man damals noch nicht über so gut auf das ›Ansehen der Person‹ dressierte Richter verfügte, wie Herrn von Köllers Umsturzvorlage sie voraussetzt, so verbot man den Christen kurzerhand, sich vor Gericht ihr Recht zu holen. Auch dies Ausnahmegesetz blieb wirkungslos. Die Christen rissen es zum Hohn von den Mauern herunter, ja sie sollen dem Kaiser in Nikomedien den Palast über dem Kopf angezündet haben. Da rächte sich dieser durch die große Christenverfolgung des Jahres 303 unserer Zeitrechnung. Sie war die letzte ihrer Art. Und sie war so wirksam, dass siebzehn Jahre später die Armee überwiegend aus Christen bestand, und der nächstfolgende Selbstherrscher des gesamten Römerreichs, Konstantin, von den Pfaffen genannt der Große, das Christentum proklamierte als Staatsreligion.«

Man muss die letzte Stufe nicht erobern wollen. Es gibt Schöneres als Staatsreligionen, zum Beispiel sozialistische Staatsmacht.

Unsere Zeichen



Wir, die wir die Schätze und Sätze, die Wahrheiten und Weisheiten von Marx im Gebrauch und am Leben halten wollen, haben allerdings auch unsere Zeichen, wenn schon nicht das Kreuz, das der Herr Söder jetzt wieder in die Amtsgebäude hängen will. Wir haben zum Beispiel Hammer und Sichel, wir haben Zirkel und Ährenkranz, das sind keine schlechten, keine schwachen oder mehrdeutigen Symbole, man weiß ganz gut, was sie bedeuten, wofür sie stehen. Auch sie sind verboten worden, etwa in Lettland, Ungarn, Polen, also unter anderem da, wo der Imperialist Donald Rumsfeld im Jahr 2003 das von ihm so genannte Neue Europa heraufziehen sah, als der reiche Westen Europas einmal nicht gar so viel Lust hatte, für ihn im Nahen Osten die Weltordnerei zu versuchen.

Auch in Deutschland hat man gefordert, unsere Zeichen zu verbieten – es stand am 15. Mai 2014 in der Taz, in dem Jahr also, als die NATO beschloss, deutlich mehr Geld für Rüstung vom Mehrwert abzuzweigen: »Sollte die Verwendung des Symbols der Freien Deutschen Jugend genauso bestraft werden wie die des SS-Totenkopfs? Ist ein roter Stern ebenso schwer erträglich wie ein Hakenkreuz? Sind die Uniformen der Ernst-Thälmann-Pioniere so abstoßend wie jene der Wehrmacht? Und muss Energie Cottbus sein Stadion der (deutsch-sowjetischen) Freundschaft umbenennen? Ginge es nach Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, und seiner ideologischen Mitstreiter, wäre die Antwort ein eindeutiges Ja.«

Es wird nicht der letzte Versuch gewesen sein, etwas wenigstens symbolisch ungeschehen zu machen, was die Besitzenden und Befehlenden der heutigen Weltordnung selbst im Rückblick kaum ertragen können.

Es gibt indes einen Unterschied zwischen dem Kruzifix auf der einen, den sozialistischen Symbolen auf der anderen Seite: Wir kennen niemanden mehr, der bei Golgatha dabei war. Aber es wissen noch Leute, von wem Hitler aufgehalten wurde, oder wo die Hauptstadt der DDR sich befand. Das ist ein Wissen, das nicht weniger wichtig ist als die Kenntnis der Schätze und Sätze, der Wahrheiten und Weisheiten von Karl Marx, ohne den es die Macht, die Hitler aufhielt, und die Hauptstadt der DDR, in der Hitlers – von ihm verfolgten, aber nicht besiegten – Feinde regierten, nie gegeben hätte.

Es hat sie gegeben, und das wird nicht umsonst gewesen sein.







Donnerstag, 24. Mai 2018

Berüchtigte Schnell-Justiz zu MH 17



MH 17: Der Russe war es!
War es der Russe?



Autor: U. Gellermann


Datum: 24. Mai 2018

Kaum sind Vater und Tochter Skripal – die angeblichen Opfer eines russischen Gift-Anschlages – mangels Beweisen in der Mediengruft des öffentlichen Schweigens verschwunden, zeigt der nächste deutsche Medienfinger erneut auf die Russen: Danach stammte der Raketenwerfer, von dem aus 2014 die malaysische Passagiermaschine MH 17 über der Ukraine abgeschossen wurde, vom russischen Militär. Ein internationales Ermittler-Team habe seinen Bericht vorgelegt, wird von der "Tagesschau" berichtet. Und von den epigonalen deutschen Blättern im Chor nachgesungen: FOCUS, SÜDDEUTSCHE, SPIEGEL, alle, alle verkünden diese angebliche Nachricht im Brustton der Überzeugung. Kaum jemand mag erzählen, wer denn dieses Team ist und was es denn genau gesagt hat.

Das "Joint Investigation Team JIT" ist einfach eine „gemeinsame Ermittlungsgruppe“, die auf Zeit für einen bestimmten Fall unter Beteiligung von Behörden aus zwei oder mehr EU-Mitgliedstaaten zusammentritt. Im MH 17-Team JIT arbeiten die niederländische Staatsanwaltschaft und die niederländische Nationalpolizei mit den Polizei- und Justizbehörden von Australien, Belgien, Malaysia und der Ukraine zusammen. Kein Russe, versteht sich. Denn die Russen wurden ja von Beginn an als Täter angesehen. So gehen voreingenommene Ermittlungen. Und auch wie die Ermittler zu ihren Ergebnissen gekommen sind, ist spannend: Jennifer Hurst, Kommandantin der australischen Bundespolizei und Teil des JIT, erläuterte den Befund auf der Grundlage einer Animation. Was mag das für eine Animation gewesen sein? Video? Foto-Shop? Virtuelle Realität? Jedenfalls hat das Team dringend die Öffentlichkeit aufgerufen, Hinweise für weitere Ermittlungsschritte zu geben. Von einer Schuldzuweisung ist nicht die Rede. Auch nicht von Beweisen.

Das alles lässt sich auf der Web-Site des "Openbaar Ministerie", der niederländischen Staatsanwaltschaft, die in der Ermittlungsgruppe mitarbeitet, nachlesen. Auf deren Website lassen sich auch zwei fantasievolle Videos aufrufen, die kyrillisch untertitelt sind. Das sind die Schriftzeichen, die in der Ukraine verwandt werden. Die Untertitel sind nicht in Englisch, der Sprache, die in den Niederlanden, in Australien und auch in Malaysia – den Nationen aus denen die Ermittler kommen – verstanden und genutzt wird. Sondern in jener Schriftsprache, die das ukrainische Propagandaministerium verwendet. Und natürlich auch der ukrainische Geheimdienst. Das mag die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG zum Beispiel ihren Lesern nicht mitteilen. Aber dies: "Damit rückt auch die politische Verantwortung von Präsident Wladimir Putin für den Tod der 298 Insassen in den Fokus."

Bei dieser Form von öffentlicher Schnell-Justiz muss es nicht wundern, dass die offenkundig hilflose Sprecherin des internationalen Ermittler-Teams, Jennifer Hurst, eine imaginäre Öffentlichkeit dringend um Hilfe bittet: Sachdienliche Hinweise können sicher bei der nächsten Polizei-Dienststelle abgeliefert werden. Aber sicher auch bei den deutschen Medien: Denn die haben schon lange große Mühe, Gründe für die Sanktionen gegen Russland zu finden.




Mittwoch, 23. Mai 2018

Tiefer ausloten




Wurzeln und Böden reaktionärer Ideologie und Politik


Wir sollten wesentlich tiefer graben


Von Rudolph Bauer

Es gibt in Deutschland eine Reihe von gefährlichen Parteien. CDU/CSU, FDP, SPD und GRÜNE gehören ohne Zweifel dazu. Sie haben bereits zur Genüge gezeigt, dass sie im Auftrag des großen (internationalen) Kapitals Krieg nach innen und außen führen: Jugoslawien 1999, Afghanistan ab 2001, Hartz IV 2004, Syrien ab 2011 - um nur einige jüngere Beispiele zu nennen. Sie operieren mit gefakten Feindbildern und erheben Kriminalität zur Staatsräson - siehe Israel. Da reiht sich nun auch die LINKE ein. Eine Partei, die in den vergangenen Jahren einen beträchtlichen Stimmenzuwachs zu verzeichnen hat, ist die so genannte Alternative für Deutschland (AfD). Im Buch "Unsere Antwort. Die AfD und wir – Schriftsteller*innen und der Rechtspopulismus" befassen sich mehrere Autoren mit diesem Phänomen. Einer der Autoren ist Rudolph Bauer. Die NRhZ gibt seinen Beitrag hier wieder.

I. Definition, Geschichte und Rechtsverständnis von Unvereinbarkeit

Unvereinbarkeitsbeschluss (Begriffe und Passagen, die im Wortlaut aus dem Text von Michael Wildenhain übernommen wurden bzw. darauf verweisen, werden nachfolgend kursiv zitiert) ist ein schwerfälliges Siebensilben-Wort, vergleichbar dem Wortungetüm Vorratsdatenspeicherung. Es betrifft „Regelungen von Parteien, Vereinen und Verbänden, nach denen die gleichzeitige Mitgliedschaft in dieser Organisation mit der Mitgliedschaft in einer anderen, namentlich benannten Organisation unvereinbar ist und ein Aufnahmehindernis oder einen Ausschlussgrund darstellt.“ (Wikipedia) Unvereinbarkeit schließt aus, dass der mit dem Bann der Unvereinbarkeit belegten Organisation Haushaltsmittel, Räume oder Sachleistungen zur Verfügung gestellt werden. Seinen Gebrauch fand das U-Unwort schon früh in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Diese hatte erstmals 1925 entschieden, dass eine Mitgliedschaft in der SPD die gleichzeitige Mitgliedschaft im Internationalen Jugendbund und in der Roten Hilfe ausschließe – und umgekehrt. Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete sich in den Westzonen ein entsprechender SPD-Beschluss 1948 (bis zur Aufhebung 2010) gegen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und in der Bundesrepublik 1960 gegen den Demokratischen Kulturbund Deutschlands, 1961 gegen den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und 2005 gegen die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG). Mitglieder dieser Organisationen hatten kein Anrecht auf die gleichzeitige Mitgliedschaft in der SPD. Das war formal rechtens. Ob die Beschlüsse politisch klug waren, steht auf einem anderen Blatt.

Anders verhält es sich mit den Gewerkschaften. Es wird argumentiert, dass sie im wirtschaftlichen bzw. sozialen Bereich über eine herausragende Macht- und Monopolstellung verfügen. Deshalb sei die Aufnahme als Mitglied für Lohnabhängige aus beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Gründen von erheblicher Bedeutung. In seiner Rechtsprechung unterwirft der Bundesgerichtshof die Gewerkschaften deshalb einem grundsätzlichen Aufnahmezwang und leitet daraus ein nur begrenztes Ausschlussrecht ab, das ausschließlich im Fall einer gewerkschaftsfeindlichen Betätigung eine Ausnahme zulässt.

Mit dieser Feststellung könnte man die von M. W. erhobene Forderung eines Unvereinbarkeitsbeschluss(es) für den VS bzw. ver.di mit der AfD formalrechtlich als erledigt abhaken. ver.di ist eine Gewerkschaft, und der Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) ist als Fachgruppe Literatur Teil der ver.di-Fachgruppe 8. Eine Unvereinbarkeit kommt daher nur dann in Frage, wenn ein AfD-Mitglied sich innerhalb der Organisation gewerkschaftsfeindlich betätigt. In einem solchen Fall greifen die gewerkschaftsinternen Ausschlussmechanismen, ohne dass ein Unvereinbarkeitsbeschluss vorliegen muss. Was aber hat man sich vorzustellen unter einer „gewerkschaftsfeindlichen Betätigung“ innerhalb der Fachgruppe Literatur?

II. Zur Dialektik der Begriffe Nation und Volk

Das von M. H. erhobene Plädoyer für einen gewerkschaftlichen Unvereinbarkeitsbeschluss nimmt nicht nur nachweisliche Handlungen zum Anlass. Gefordert wird die Unvereinbarkeit auch für den Fall einer Nicht-Handlung, nämlich einer Meinungsäußerung. Geahndet werden soll bereits eine reaktionäre Gesinnung, nicht erst die gewerkschaftsfeindliche Tat. Begründet wird das wie folgt:

Das Programm der AfD geht aus von einem … Konstrukt, das sich in zwei Begriffe fassen lässt: Nation und Volk. Prägnanter: Deutschland und Deutsche zuerst.

Zutreffend verweist die Argumentation darauf, dass man bei Nation und Volk von geschichtlich gewordenen Phänomene(n) sprechen kann. Von einem Nationalisten würden beide Begriffe jedoch nicht als überholt und vergänglich angesehen werden, sondern als unhintergehbare geistige Entitäten einer unmittelbaren Evidenz (welch eine bräsige Formulierung!). Die Begriffe Nation und Volk als vergänglich zu bezeichnen, mag angehen (obwohl die Sache so einfach nicht ist; Lebewesen sind vergänglich, aber Begriffe …?). Begriffe sind so lange nicht überholt, so lange sie im Umlauf sind, auch wenn dies in rückwärtsgewandt reaktionärer Absicht und Gesinnung der Fall ist.

Die Begriffe Nation und Volk den Herrschenden und ihrem völkisch-faschistischen Fußvolk kampflos als ideologische Versatzstücke zu überlassen, ist ein politischer Fehler. Nation und Volk sind Termini, deren emanzipatorisch-fortschrittliche Bedeutung nicht übersehen werden darf. So lange Demokratie Volksherrschaft bedeutet, so lange ist die Distanzierung von einem Begriff wie Volk auch ein Abgesang auf die Rolle des Volkes in einer demokratischen Gesellschaftsordnung – also tendenziell antidemokratisch.

Warum sollte das Wort Volk – wenn es in seiner Bedeutung nicht auf den rassistischen Mythos von Blut und Boden verkürzt wird – nicht die gesamte Bevölkerung umfassen, auch die Zugewanderten, Migranten und Flüchtlinge, Männer und Frauen, Kinder und Alten? Warum beinhaltet Deutsch-Sein den Unsinn, den die Rechten damit verbinden: germanisch zu wabern und preußisch zu salutieren? Kann Deutschland nicht einfach begriffen werden als das Territorium des Geltungsbereichs der Verfassung, des Grundgesetzes von 1949? Warum sprechen wir nicht einfach von der Bundesrepublik?

Dem reaktionär vereinnahmten Begriff Nation kann dialektisch eine fortschrittliche, zukunftsweisende Bedeutung entgegen gehalten werden – eine, die das kulturell gewachsene und progressive Element betont, welches im Verlauf der Französischen Revolution mit der Entstehung der Nationalstaaten verbunden war. Wenn Ernst Bloch in sozialistisch-utopischer Absicht vom „Umbau der Welt zur Heimat“ spricht, dann kann darunter sehr wohl auch der Umbau zur Nation als heimatlicher Ort verstanden werden – als Ort von existenzieller Sicherheit und Geborgenheit in zukunftsoffener Perspektive. An diesem geschichtsmächtigem Entwurf kollektiver Verbundenheit hatten Philosophen und Intellektuelle, nicht zuletzt auch bedeutende Schriftsteller, ihren wesentlichen Anteil. Nation und Nationalgefühl weisen einerseits eine dunkle Seite auf. Diese speist sich aus einer Heroisierung und den Mythen der Vergangenheit.

Hieran angedockt, entstand die „rassereine“ völkische Nazi-Gesinnung. Hieraus speist sich auch heute wieder eine in die Geschichte zurückschweifende, dumpfe Deutschtümelei: die identitäre Abgrenzung gegenüber den fremden Anderen, die Pegida-Sehnsucht nach dem Vorgestern, das Ausposaunen einer Alternative, die gar keine ist. Andererseits weist die lichte Seite, die auf eine fortschrittliche Entwicklung abzielende Seite von Nation und Nationalbewusstsein den Weg vorwärts in eine solidarische Zukunft der Freien und Gleichen.

III. Die Rolle politisch-ökonomisch verursachter Krisen und Konflikte

Das Anliegen, sich beim Unvereinbarkeitsbeschluss auf einen einzigen Hauptfeind, auf die nationalistischen und rechtsradikalen Parteien sowie auf die AfD als die bei weitem stärkste explizit nationalistische Gruppierung zu konzentrieren, greift viel zu kurz. Die AfD, so wird dramatisch beschworen, werde alles daran setzen, Einfluss in sämtlichen Sektionen der ver.di zu gewinnen. Die verständliche Aufregung über sie lenkt jedoch von der viel wichtigeren Frage ab, woran es liegen mag, dass sie hohen Zulauf erhält, zahlreich gewählt wird und als Bedrohung für die Gewerkschaft ausgerufen wird.

Die Beantwortung dieser von M. H. vernachlässigten Frage hat eine Oberflächen- und eine Tiefendimension. Sowohl die Angst als auch die Wut, wodurch Teile der Deutschen in die Arme der Rechten flüchten, haben Ursachen. Sie sind einerseits die Folgen einer bedrohlichen Stimmungsmache durch tägliches Krimi-Gruseln, Terrorismus-Bilder und Islamfeindlichkeit, Untergangs-Szenarien, Militarisierung, Russophobie usw. Mehr noch sind sie andererseits die Konsequenz von gesellschaftlichen Entwicklungen, Krisen und Konflikten, die politisch-ökonomische Wurzeln haben.

Stichworte müssen hier genügen, um zunächst die beunruhigenden Oberflächenphänomene anzudeuten. Es handelt sich um:
politische Krisen und Konflikte: z.B. rechte Regierungsmehrheiten und Sezessionsbestrebungen in der EU; Große Koalitionen; sog. Politikverdrossenheit; Militarismus und Kriegseinsätze entgegen deren mehrheitlicher Ablehnung seitens der Bevölkerung; Rüstungsexporte in Krisenregionen; Tabuisierung linker Regierungsmehrheiten; das Versagen der Medien als kritische Instanz; Vorratsdatenspeicherung; Staatstrojaner usw.;

ökonomische Krisen und Konfliktlagen: Bankenkrise; Umweltzerstörung und Klimawandel; Globalisierung; Dieselskandal; Investitionsstau in den Bereichen für Bildung und Infrastruktur; Maßnahmen und Folgen der Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge; steigende Mieten usw.;

gesellschaftliche Krisen und Konfliktherde entlang der Widersprüche arm/reich, alt/jung, gesund/krank, Deutsche/Ausländer, christlich-jüdisch vs. islamisch, feste vs. prekäre Beschäftigung; Arbeitslosigkeit, Hartz IV und Mindestlöhne; Massenmigration; Antisemitismus als Tendenz und Etikettierung; soziale Folgen der Ökonomisierung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche usw.

In der Tiefendimension verweisen sämtliche dieser Krisen und Konfliktfelder direkt oder mittelbar auf das gegenwärtige Wirtschaftssystem der Ausbeutung, der Unterdrückung und der Anhäufung von übermäßigem Reichtum auf Kosten der großen Mehrheit. Das Diktat der Profitmaximierung durch Leistungssteigerung einerseits sowie der Rüstungswahnsinn und der Irrsinn kriegerischer Zerstörungen zum Zweck des profitablen Wiederaufbaus andererseits beherrschen auf allen Ebenen die politisch-ökonomischen Prozesse: vom entfremdeten und geschundenen Individuum bis hin zu den tödlichen Auswirkungen im globalen Ausmaß.

Die zunehmenden Erfolge der AfD-Partei sind eine Reaktion auf die grenzenlos anwachsende Häufung der kapitalistischen und imperialistischen Reichtums- und Machtexpansion sowie auf die damit im Zusammenhang sich verschärfenden Gefahren unterschiedlicher Grade der Vernichtung des Planeten. Sie sind ein Reflex auf die damit einhergehenden Krisen und Konflikte.

Wer sich schon allein durch den Blick auf die Stärke der AfD blenden lässt, der kann nicht erkennen (ja, er stellt nicht einmal die Frage), welche tiefer liegende Ursachen es gibt, die durch einen Unvereinbarkeitsbeschluss allein noch nicht aus den Angeln gehoben oder gar beseitigt werden. Es ist notwendig, wesentlich tiefer zu graben, um die Wurzeln und die Nährböden reaktionärer Ideologie und Politik zu erkennen und Erfolg versprechend bekämpfen zu können.

IV. Die Rolle von Gewerkschaft und Sozialdemokratie

Die antifaschistische Fixierung auf die AfD sowie auf andere politisch rechte Gruppierungen nützt diesen und der Partei mehr als sie ihnen schadet. Auf sie konzentriert sich alles – auch in der von M. W. ausgearbeiteten Begründung für den Unvereinbarkeitsbeschluss. Die Reaktionäre erscheinen als die eigentliche Wurzel allen Übels. Die wahren Verursacher und Verursachungszusammenhänge werden jedoch ausgeblendet und übersehen. Stattdessen erlangen die Partei und ihre Anhänger Aufmerksamkeit und Publizität. Ihnen wird besondere Bedeutung beigemessen, beispielsweise indem es heißt:
Im Falle eines umfassenderen Erfolgs der AfD würde die Politik der Partei zwingend zu einer Erosion Europas führen … (als ob die EU nicht längst schon erodiert).

Wenn es der Partei nicht versagt wird, wird sie ihre Positionen innerhalb der Gewerkschaften ausbauen. (Hängt es nicht in erster Linie vom Bewusstsein der organisierten Mitglieder und von den demokratischen Strukturen einer Gewerkschaft ab, ob die AfD gewerkschaftliche Positionen einnehmen und ausbauen kann?)

Die Einheitsgewerkschaft … könnte sich im schlechtesten Fall ins genaue Gegenteil verkehren.

Der DGB würde dann zum Transmissionsriemen einer gesellschaftlichen Wende nach rechts. (Ein ,interessanter‘ Gedanke, hier noch im Konjunktiv.)

Aus diesen Bemerkungen spricht die Überschätzung der Erfolgsaussichten eines Unvereinbarkeitsbeschlusses im Kampf gegen die AfD. Zugleich werden die tieferen politisch-ökonomischen Ursachen der Entstehung der AfD und ihrer zunehmenden Verankerung in der Gesellschaft übersehen bzw. verkannt. Damit einher geht eine massive Fehleinschätzung des DGB und seiner Einzelgewerkschaften. Die Gewerkschaft gilt als
mächtiger Akteur mit Millionen Mitgliedern,
Versicherung gegen nationalistische und neonazistische Kräfte,
Transmissionsriemen,
Bollwerk gegen nationalistische und extrem rechte Bestrebungen,
Raum, in dem die Diskussion für einen notwendigen Neuanfang linker Politik … organisiert werden kann.

In der Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung war das Politische seit jeher eine Sache der Partei. Sache der Gewerkschaft war es hingegen, in Fragen von Lohn, Arbeitsorganisation und innerbetrieblicher Ordnung aktiv zu sein. Das ist heute nicht anders. Zwischen Partei und Gewerkschaft gibt es eine Art Arbeitsteilung. Für das Politische zuständig ist die Partei. Sie, die staatstreue SPD, ist nach Einschätzung von M. W. gegenwärtig allerdings dort, wo sie aktuell hingehört: am Boden.

Diese Argumentation lässt den Schluss zu, dass M. W. der Gewerkschaft jene politische Rolle zutraut, die bisher von der SPD ausgefüllt wurde bzw. werden sollte und von ihr aktuell nicht mehr wahrgenommen wird. Können wir realistisch damit rechnen, dass ver.di oder der gesamte DGB bereit und in der Lage sind, die Rolle der Partei einzunehmen und beispielsweise zum politischen Streik aufzurufen? Mir scheint, dass die Argumentation von M. W. auf Illusionen gründet, hinter welchen der politisch wenig wirksame Zustand des Gewerkschaftssektors der Bundesrepublik wie hinter einem dichten Nebel sich verbirgt. Hier werden Erwartungen in die Welt gesetzt, denen keine Analyse vorausgegangen ist und die keiner ernsthaften Prüfung standhalten.

V. Statt eines Unvereinbarkeitsbeschlusses: drei Notwendigkeiten

Die Forderung nach einem Unvereinbarkeitsbeschluss ist formalrechtlich schwer umsetzbar. Kampflos überlässt sie Begriffe wie Nation und Volk den Herrschenden und ihrem völkisch-faschistischen Fußvolk als ideologische Versatzstücke. Verbissen fokussiert M. W. seine ablehnende Haltung auf die AfD und andere reaktionäre Organisationen. Er nimmt aber nicht deren Wurzeln und Nährböden zur Kenntnis: die politisch-ökonomisch verursachten Krisen und Konflikte. Sein Votum für einen Unvereinbarkeitsbeschluss beruht auf einer Fehleinschätzung hinsichtlich der Rolle der Gewerkschaften.

Was bleibt da noch, um der reaktionären Herausforderung zu widerstehen? Die Antwort lautet, dass mehr und anderes notwendig ist, als die mit ziemlicher Sicherheit zum Scheitern verurteilte Forderung nach einem gewerkschaftlichen Unvereinbarkeitsbeschluss in die moralisch und emotional aufgeladene Debatte zu werfen. Drei Notwendigkeiten stehen an:
Es ist notwendig, dass sich der VS kritisch positioniert, ohne mit Hilfe der Unvereinbarkeit den Ausschluss von Mitgliedern der AfD zu exekutieren. Letztere sollen begreifen, dass sie im VS politisch keine Chance haben. Am 10. Mai 1933 haben Studenten, Professoren und Mitglieder der NS-Parteiorgane in Berlin und in 21 weiteren Universitätsstädten die Werke von pazifistischen und anderen oppositionellen oder politisch verfemten, sozialdemokratischen, kommunistischen und jüdischen Autorinnen und Autoren verbrannt. Viele von ihnen mussten ihre Zuflucht im Ausland suchen und retteten sich durch den schwierigen Weg in das Exil. Der VS sollte regelmäßig (aber nicht rituell!) an die NS-Bücherverbrennung und den Exodus der deutschen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen erinnern. Daraus erwächst ihm die Verpflichtung, sich für das Asylrecht politisch verfolgter Schriftstellerinnen und Schriftsteller einzusetzen. Angesichts der Konzentration im Verlagswesen ist es erforderlich, dass der VS die Arbeit von unabhängigen freien Autoren, Übersetzern und Verlagen bekannt macht, sie ideell und materiell fördert. Neben diesen Beispielen praktischer Positionierung muss der VS auch schriftlich Position beziehen – und zwar in einer Art und Weise, die es klar darauf anlegt, dumpfsinnigen Zeitgenossen die Mitgliedschaft zu vereiteln. Wenn es dem VS ernst ist mit dem Kampf gegen Rechts, für Demokratie und Fortschritt, sollten das Motto und die Veranstaltungen des Literaturkongresses 2019 inhaltlich darauf ausgerichtet werden.

Es ist notwendig, dass die Gewerkschaft ver.di auf Orts-, Bezirks-, Landes- und Bundesebene jede Art von Zusammenarbeit mit der AfD ablehnt und dies durch einen Beschluss bekräftigt. Gleiches gilt für die Zusammenarbeit mit den der Partei nahestehenden Organisationen. Die Nazis haben die Gewerkschaften 1933 zerschlagen und gleichgeschaltet. Die Gewerkschaftshäuser wurden besetzt, die Streikkassen konfisziert. In Erinnerung an die gewerkschaftlichen Erfahrungen zur Zeit der NS-Diktatur und als Lehre aus der Vergangenheit, aber auch mit Blick auf vergleichbare Regime in der Gegenwart muss ver.di über die Ursachen der Entstehung und des Erfolges von rechten Organisationen sowie der Motive ihrer Mitglieder, Anhänger und Sympathisanten aufklären. Zentraler Teil gewerkschaftlicher Bildungsarbeit hätte es zu sein, die politischen und ökonomischen Zusammenhänge, Krisen und Konflikte zu thematisieren und damit auch in die anderen Fachbereiche von ver.di sowie in die übrigen Einzelgewerkschaften hineinzuwirken.

Es ist notwendig, dass sich der DGB für eine Politik stark macht, welche dem Frieden dient und die Interessen aller Lohnabhängigen vertritt: der einheimischen ebenso wie der geflüchteten und der Arbeitsmigranten, der Kolleginnen und Kollegen in den Ländern der EU, ferner des Proletariats international. 1939 hat das Nazi-Regime den Zweiten Weltkrieg begonnen, die Männer der Arbeiterklasse an die Front geschickt, die Frauen für die Rüstungsindustrie rekrutiert, Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter geschunden und zu Tode gebracht. Daher ist es die Pflicht des DGB, den Kampf gegen Rechts zu erweitern und zu konkretisieren: ihn als Kampf gegen Militarisierung und Militarismus zu führen, gegen Rüstungsproduktion, für Konversion, gegen den Export von Waffen und Kriegsmaterial, gegen die Entsendung von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in andere Länder, für Frieden und gerechte Entwicklung hierzulande und weltweit. Demokratie und gesellschaftlicher Fortschritt brauchen Frieden, Völkerverständigung und Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen.

Die drei Notwendigkeiten resultieren aus der Überzeugung, dass es gilt, angesichts der AfD, ihrer Ideologie, ihres Personals und ihrer institutionellen Begleiterscheinungen wesentlich tiefer zu graben, um die Wurzeln des Schreckens freizulegen. Ein Unvereinbarkeitsbeschluss trocknet nicht die Nährböden aus und nicht den Schoß, der immer noch fruchtbar ist.


Mit Dank entnommen aus "Unsere Antwort. Die AfD und wir – Schriftsteller*innen und der Rechtspopulismus",
herausgegeben von Klaus Farin, mit Texten von Rudolph Bauer, Zoë Beck, Carlos Collado Seidel, Lena Falkenhagen, Klaus Farin, Nina George, Werner Schlegel, Leonhard F. Seidl, Sophie Sumburane und Michael Wildenhain, Hirnkost-Verlag, Hardcover, 172 Seiten, 12 Euro

Online-Flyer Nr. 660  vom 23.05.2018






Samstag, 19. Mai 2018

China & Russland contra Kriegsgelüsten



Die multipolare Welt


China und Russland werden das kriegerische Agieren der USA nicht länger hinnehmen.


von Rubikons Weltredaktion


Sowohl die USA als auch seine Vasallenstaaten Großbritannien und Frankreich setzten in den letzten Monaten alles daran, Russland zu diskreditieren und zu diffamieren. Ihre Rechnung scheint jedoch nicht aufzugehen: Russland lässt sich nicht provozieren und erhält Unterstützung von China. Dagegen verlieren die USA an Glaubwürdigkeit und werden weltweit zunehmend als Schurkenstaat erkannt. Michael Krieger skizziert, wie sich das globale Machtgefüge hin zu einer multipolaren Welt verschiebt.

Russland und China haben die Nase voll
von Michael Krieger

Teil 1 dieser Serie zeigt auf, dass die Weltmacht USA dem amerikanischen Durchschnittsbürger keinen echten Nutzen mehr bietet. Stattdessen wird der Gewinn aus Kriegen in Übersee, dem heimischen Überwachungsstaat und einer insgesamt korrupten Wirtschaft systematisch einer schrumpfenden Gruppe von im Allgemeinen unliebsamen Personen zugeführt. Die Öffentlichkeit erkennt diese Realität zunehmend, was die Entstehung großer populistischer Bewegungen sowohl auf der rechten als auch der linken Seite des politischen Spektrums im Jahre 2016 erklärt.

Während Millionen von Amerikanern aus ihrem langen Schlaf erwachen, ist dem Großteil der Welt diese Realität schon seit langem bewusst. Er sieht die USA nicht als großherzige, menschenfreundliche Nation – dieses märchenhafte Bild ist eher für Kinderbücher oder die Massenmedien geeignet.

Tatsächlich erscheint es offensichtlich, dass die Milliarden von Menschen in unterschiedlichen unabhängigen Nationen auf der ganzen Welt es vorziehen würden, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, anstatt eine Existenz in reinen Vasallenstaaten der USA zu fristen. Bisher fehlte es ihnen allerdings an der militärischen oder wirtschaftlichen Macht, um sich zu erheben und einen eigenen Kurs einzuschlagen. Doch die Dinge sind dabei, sich zu ändern.

Die entscheidendsten geopolitischen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts sind der Aufstieg Chinas und der Wiederaufstieg Russlands zu global bedeutsamen Militärmächten. Hier liegt die treibende Kraft hinter der Panik, die das Establishment gegenüber Russland verspürt. Sie hat nichts mit Putins autoritärem Regierungsstil oder seinen Verstößen gegen die Menschenrechte zu tun. Das ist lediglich eine Marketingstrategie, die auf ein bislang äußerst leichtgläubiges Publikum abzielt.

In Wahrheit sind diejenigen, die eine US-gelenkte, unipolare Weltordnung aufrecht erhalten wollen, entsetzt und besorgt über die Tatsache, dass es Russland gelungen ist, sich in Syrien zu engagieren und einen beabsichtigen weiteren Regime change zu verhindern. Auf sehr öffentliche und sehr erfolgreiche Weise hat Russland ein „Nein“ zu den imperialen Ambitionen der USA in Syrien demonstriert. Dies ist nicht nur historisch bedeutsam, sondern aus Sicht des von den USA vorgegebenen Status quo geradezu frevelhaft und aufmüpfig.

Hier noch einmal ein paar Auszüge aus meinen am Wochenende verfassten ersten Gedanken zu den jüngsten Militärschlägen gegen Syrien:

Die russische Führung ist weder ein Haufen von Idioten, noch wird sie einen Rückzieher machen. Nach der vergangenen Nacht weiß sie mit Sicherheit, dass die USA gewillt sind, sie um jeden Preis in ihrer globalen Wirksamkeit zu beschneiden, um die unvermeidbare Entstehung einer multipolaren Welt zu verhindern.

Ich glaube nicht, dass Russland oder der Iran in naher Zukunft mit einer Schock-Attacke reagieren werden, oder dass die Situation in absehbarer Zeit außer Kontrolle geraten wird. Wahrscheinlicher ist es, dass sich all dies innerhalb des Zeitraums der nächsten fünf Jahre abspielen wird.

Ich glaube ebenfalls nicht, dass sich das Ganze zu einem Atomkrieg auswachsen wird. Doch ich halte es für zunehmend wahrscheinlich, dass die USA einen Zusammenbruch ihres Weltreiches erleben werden, der vergleichbar wäre mit dem der Sowjetunion (oder eines anderen unkontrollierbaren und korrupten Imperiums der Vergangenheit). Meine Einschätzung lautet wie folgt: In den kommenden Jahren werden sich die USA und ihre globale Machtposition so dramatisch verändern, dass sie bis zum Jahre 2025 kaum wiederzuerkennen sein werden, als Folge von wirtschaftlichem Niedergang und schwerwiegenden geopolitischen Fehlern. Dies wird bewirken, dass die Öffentlichkeit zu Recht den Glauben an jegliche Führungsriegen und Institutionen verliert.

Je mehr ich über die gegenwärtige Situation nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass die USA versuchen, Russland durch ihre Provokationen zu einer Reaktion anzustacheln. Ich glaube, dass sich die Russen dessen bewusst sind und genau deshalb kühlen Kopf bewahren angesichts eines offenkundig illegalen und verfassungswidrigen Militärschlags, dessen Anlass wahrscheinlich ein gefälschtes Narrativ war. Tatsächlich haben wir noch immer keine verlässlichen oder wasserdichten Beweise zu den Geschehnissen. Selbstverständlich hat dies weder Donald Trump noch Theresa May davon abgehalten, einen Bombenangriff zu befehlen, jeweils ohne sich mit dem Kongress oder dem Parlament abzustimmen. Wie war noch die Geschichte von unseren ehrwürdigen westlichen Demokratien? Ich fürchte, sie ist bloß ein weiteres Märchen zur Abspeisung der Öffentlichkeit.

Zudem sollte das Ausbleiben einer militärischen Antwort von Seiten Russlands nicht als Zeichen der Schwäche interpretiert werden, sondern als beabsichtigte und wohlüberlegte Strategie. Die Russen scheinen zu denken, dass sich die USA (und Großbritannien) wie wildgewordene Verrückte benehmen, und dass sie selbst sich am besten zurücklehnen, auf Abwehr setzen und abwarten, bis sich die kurzsichtigen Dummköpfe, die das amerikanische Weltreich führen, selbst ruinieren.

Die sprunghafte, offenkundig aggressive und fragwürdig Art und Weise, die die USA, Großbritannien und Frankreich während dieser jüngsten kriminellen Handlung an den Tag gelegt haben, ist den Menschen weltweit nicht entgangen; darunter beträchtlichen Teilen der amerikanischen und britischen Bevölkerungen, denen zuwider ist, was diese Regierungen in unserem Namen tun.

Russlands Strategie ist es nun, auf der Weltbühne als vernünftig aufzutreten, im Gegensatz zu den zunehmend verrückt und zerrüttet anmutenden USA. Dies scheint zu funktionieren.

Dessen ungeachtet wäre Russland jedoch nicht in der Lage, den USA auf längere Sicht erfolgreich die Stirn zu bieten. An dieser Stelle kommt China ins Spiel. Die chinesische Führung hat ebenfalls genug, hält sich jedoch wie die Russen zurück und verhält sich wie der vernünftige Erwachsene im Raum. Erkennbar war diese Taktik kürzlich, als China den Handelskrieg zurückfuhr. US-Experten bejubelten dies als Zeichen der Schwäche, doch ich glaube an das Gegenteil. China spielt dasselbe Spiel wie Russland: Sie lassen zu, dass sich die US-Führung auf der Weltbühne weiterhin wie ein unausstehlicher Tyrann benimmt, bis jeder der amerikanischen Vorherrschaft vollkommen überdrüssig ist.

Ein Leser, der in Europa lebt, kommentierte meinen letzten Post mit den folgenden Worten, die wohl eine angemessene Darstellung der derzeitigen öffentlichen Meinung weltweit darstellen:

Das Sowjetreich brach zusammen, weil die Kosten des Wettrüstens dem Rest der Gesellschaft so viel abverlangten, dass ein Kollaps unvermeidlich war. Ich glaube, dass sich die USA nun in einer ähnlichen Situation befinden. Die derzeitigen Kriege werden mittels Technologien über die Distanz oder von Stellvertreterkämpfern geführt, doch ohne dass Amerikaner selbst auf dem Schlachtfeld sind. Wie lange können die Bürger diese Last tragen?

Zur selben Zeit verlieren die USA die moralische Unterstützung der Öffentlichkeit ihrer Verbündeten, wie ich aus erster Hand berichten kann, da ich aus einem verbündeten europäischen Land komme. Auch wenn unsere hiesige politische Führung und die Mainstream-Medien die USA unterstützen, besonders wenn diese ein paar Raketen abfeuern, wachsen die Opposition und die Zweifel der normalen Leute. Die USA haben ihre Position als leuchtendes Vorbild verloren, nicht nur unter den Linken, sondern aus Sicht des ganzen Spektrums. Der Wahnsinn und die Lügen werden so offensichtlich, dass es unmöglich ist, das zu leugnen.

Rapide verlieren die USA die Unterstützung und das Vertrauen in der Basis der Gesellschaft, sowohl auf heimatlichem Boden als auch außerhalb ihrer Grenzen. Wir sehen die Lügen und wir sehen die Missachtung der Verfassung.

Sollten sie so weitermachen, werden die USA und ihre Lieblingsverbündeten wie Großbritannien und Frankreich von einem Großteil der Welt zunehmend als Schurkenstaaten wahrgenommen werden.

Für jene, die zweifeln, auf welcher Seite China steht, hier abschließend einige Passagen aus einem Anfang dieser Woche in der staatlich geförderten Global Times veröffentlichten Leitartikel:

Die Fakten lassen sich nicht verdrehen. Dieser Militärschlag war von der UNO nicht genehmigt und zielte auf die rechtmäßige Regierung eines UN-Mitgliedsstaates. Die USA und ihre europäischen Verbündeten führten Militärschläge durch, um Präsident Baschar al-Assad für eine vermutete Giftgasattacke in Duma vergangene Woche zu bestrafen. Jedoch gab es bisher keine Bestätigung, dass diese Giftgasattacke stattgefunden hat, oder, sollte sie stattgefunden haben, ob Regierungskräfte oder oppositionelle Kräfte dafür verantwortlich waren. Internationale Organisationen haben keine zuverlässigen Untersuchungen durchgeführt.

Die syrische Regierung hat wiederholt betont, dass sie den Einsatz von chemischen Waffen zur Rückeroberung der von der Opposition kontrollierten Stadt Duma nicht für nötig hält, und dass der Einsatz chemischer Waffen eine Ausrede für die Einmischung des Westens darstellt. Die Argumente der syrischen Regierung oder Trumps Anschuldigungen gegen das „böse“ Assad-Regime – was davon entspricht der simplen Logik? Die Antwort ist recht offensichtlich.

Die USA haben nachweislich eine Reihe von Kriegen auf Basis vorgetäuschter Gründe vom Zaun gebrochen. Die Bush-Regierung behauptete, das Saddam-Regime besäße chemische Waffen bevor amerikanisch-britische Koalitionstruppen 2003 im Irak einmarschierten. Allerdings fanden die Koalitionstruppen nach dem Sturz des Saddam-Regimes keine Massenvernichtungswaffen. Sowohl Washington als auch London räumten später ein, dass ihre Geheimdienstinformationen falsch gewesen seien.

Washingtons Angriff auf Syrien, wo russische Truppen stationiert sind, stellt eine ernsthafte Missachtung der militärischen Fähigkeiten und politischen Würde Russlands dar. Als würde er einen Schüler rügen, forderte Trump Moskau – eine der weltweit führenden Atommächte – dazu auf, seinen „dunklen Weg“ zu verlassen.

Beunruhigenderweise scheint Washington Gefallen daran gefunden zu haben, Russland auf diese Weise zu verspotten. Russland ist fähig, einen zerstörerischen Vergeltungsschlag gegen den Westen auszuüben. Russlands schwache Wirtschaft wird durch westliche Sanktionen und Einschränkung ihrer strategischen Bewegungsfreiheit drangsaliert. Dass der Westen Russland auf solche Weise provoziert, ist unverantwortlich hinsichtlich des Weltfriedens.

Die Situation wird weiter angeheizt. Die Trump-Regierung verkündete, sie würde die Militärschläge fortführen. Doch es bleibt ungewiss, wie lange das militärische Vorgehen andauern und ob Russland zurückschlagen würde, wie es dies früher angekündigt hatte. Die westlichen Staaten schikanieren Russland unvermindert, doch scheinen sie sich vor einem möglichen Gegenangriff nicht zu fürchten. Ihre Arroganz schürt Risiken und Gefahren.

China und Russland werden, oftmals hinter den Kulissen, zusammenarbeiten, um den Rest der Welt davon zu überzeugen, dass die USA sich in einen Schurkenstaat verwandelt haben. Sie werden so argumentieren, um internationale Unterstützung für eine multipolare Welt zu gewinnen. Diese Entwicklung könnte nur verlangsamt werden, wenn die USA aufhörten, sich wie ein Schurkenstaat zu benehmen. Mit Mike Pompeo als Außenminister und John Bolton als Nationalem Sicherheitsberater scheint das jedoch zunehmend unwahrscheinlich.

Michael Krieger stammt aus New York und ist Herausgeber der Website https://libertyblitzkrieg.com. Er ist weder Demokrat, noch Republikaner, er will sich bewusst jeder politischen Einordnung entziehen.

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „As Trump Berates Iran, His Options are Limited“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam korrigiert.





Dienstag, 15. Mai 2018

Verrat an den Palästinensern



Westliche Führer haben die Palästinenser vor 70 Jahren verraten. Es weist nichts darauf hin, dass sich das ändern wird



VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 15. MAI 2018


von Jonathan Cook – http://www.antikrieg.com

Israel hat eine unehrliche Gegenerzählung erfunden, die die Historiker, die die Archive von der Nakba durchkämmen, hochgehen lassen haben.

Am Dienstag gedenken die Palästinenser des Jahrestages der Nakba, der Katastrophe, ihrer Massenvertreibung und Enteignung vor 70 Jahren, als der neue Staat Israel auf den Ruinen ihres Heimatlandes errichtet wurde. Infolgedessen wurden die meisten Palästinenser zu Flüchtlingen, denen Israel das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat verweigerte.

Israel ist nervös, weil viele Zehntausende in dieser Woche in den besetzten Gebieten gegen die jahrzehntelange Weigerung protestieren, seine unterdrückerische Herrschaft wiedergutzumachen oder zu beenden.

Der Umzug der US-Botschaft nach Jerusalem, einer Stadt unter kriegerischer Besatzung, hat nur palästinensische Unruhen entfacht – und das Gefühl, dass sich der Westen immer noch zu ihrer Enteignung verschwört.

Der erwartete Schwerpunkt der Proteste ist Gaza, wo sich seit Ende März jeden Freitag unbewaffnete Palästinenser an dem Zaun, der zwei Millionen von ihnen einsperrt, versammeln.

Für ihre Probleme wurden sie mit einem Hagel von scharfer Munition, Gummigeschossen und Tränengaswolken konfrontiert. Dutzende wurden getötet und viele hundert weitere verstümmelt, darunter auch Kinder.

Aber seit mehr als einem Monat arbeitet Israel daran, die westlichen Wahrnehmungen der Proteste auf eine Weise zu managen, die den Zorn der Palästinenser diskreditieren soll. In einer Botschaft, die von einigen westlichen Zuhörern nur allzu gerne angenommen wird, hat Israel die Proteste als „Sicherheitsbedrohung“ dargestellt.

Israelische Beamte haben sogar vor dem Obersten Gerichtshof des Landes argumentiert, dass den Demonstranten jegliche Rechte fehlen – dass Armeescharfschützen berechtigt sind, sie zu erschießen, selbst wenn sie keiner Gefahr ausgesetzt sind – weil Israel sich angeblich in einem „Kriegszustand“ mit Gaza befindet und sich verteidigt.

Viele Amerikaner und Europäer, die über einen Zustrom von „Wirtschaftsmigranten“ in ihre eigenen Länder besorgt sind, haben Verständnis für Israels Anliegen – und sein Handeln.

Bis jetzt war die große Mehrheit der Demonstranten in Gaza friedlich und versuchte nicht, den Zaun zu durchbrechen.

Aber Israel behauptet, dass die Hamas die Proteste dieser Woche in Gaza ausnutzen wird, um die Palästinenser zu ermutigen, den Zaun zu stürmen. Die Folge ist, dass die Demonstranten eine „Grenze“ überschreiten und illegal nach Israel „einreisen“ werden.

Die Wahrheit ist etwas anderes. Es gibt keine Grenze, weil es keinen palästinensischen Staat gibt. Dafür hat Israel gesorgt. Palästinenser leben unter Besatzung, wobei Israel jeden Aspekt ihres Lebens kontrolliert. In Gaza sind sogar die Luft und das Meer die Domäne Israels.

Inzwischen ist das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr in ihr ehemaliges Land – jetzt in Israel – völkerrechtlich anerkannt.

Nichtsdestotrotz hat Israel seit der Nakba eine unehrliche Gegenerzählung erfunden, Mythen, die Historiker, die die Archive durchkämmen, langsam hochgehen haben lassen.

Die Behauptung, dass die arabischen Führer den 750.000 palästinensischen Flüchtlingen 1948 sagten, sie sollten fliehen, wurde tatsächlich von Israels Gründervater David Ben Gurion erfunden. Er hoffte, dass es den Druck der USA auf Israel ablenken würde, seinen Verpflichtungen nachzukommen, die Flüchtlinge zurückkehren zu lassen.

Selbst wenn die Flüchtlinge in der Hitze des Gefechts gegangen wären, anstatt auf ihre Ausweisung zu warten, wäre es nicht gerechtfertigt gewesen, ihnen ein Recht auf Rückkehr zu verweigern, wenn die Kämpfe beendet waren. Es war diese Verweigerung, die die Flucht in eine ethnische Säuberung verwandelte.

Laut einem anderen Mythos, der von den Aufzeichnungen nicht unterstützt wird, soll Ben Gurion an die Flüchtlinge appelliert haben, zurückzukommen.

In Wahrheit definierte Israel Palästinenser, die versuchten, in ihr Land zurückzukehren, als „Eindringlinge“. Das berechtigte die israelischen Sicherheitsbeamten, sie sofort zu erschießen – in einer Art Abschreckungspolitik.

Sieben Jahrzehnte später hat sich nicht viel verändert. Ein Großteil der heutigen Bevölkerung von Gaza stammt von Flüchtlingen ab, die 1948 in die Enklave getrieben wurden. Seitdem sind sie wie Vieh eingesperrt. Deshalb finden die aktuellen Proteste der Palästinenser unter dem Banner des Rückkehrmarsches statt.

Seit Jahrzehnten verweigert Israel den Palästinensern nicht nur die Aussicht auf einen Minimalstaat. Sie hat palästinensische Gebiete in eine Reihe von Ghettos zerlegt – und im Fall von Gaza 12 Jahre lang blockiert und in eine humanitäre Katastrophe getrieben.

Trotzdem will Israel, dass die Welt Gaza als einen embryonalen palästinensischen Staat betrachtet, der angeblich 2005 von der Besatzung befreit wurde, als Israel mehrere tausend jüdische Siedler abzog.

Auch diese Erzählung wurde nur zur Täuschung erstellt. Die Hamas durfte nie Gaza regieren, ebenso wenig wie die Palästinensische Autonomiebehörde von Mahmoud Abbas das Westjordanland regiert.

Aber wie die Ereignisse der Nakba hat Israel die Demonstranten als „Eindringlinge“ dargestellt, eine Erzählung, die die meisten Beobachter seltsam gleichgültig gegenüber dem Schicksal der palästinensischen Jugend gelassen hat, die für ihre Freiheit demonstriert.

Wieder einmal sollen Hinrichtungen, die angeblich von der israelischen Armee in Selbstverteidigung durchgeführt werden, die Palästinenser davon abhalten, ihre Rechte einzufordern.

Israel verteidigt nicht seine Grenzen, sondern die Mauern der Käfige, die es gebaut hat, um den anhaltenden Diebstahl palästinensischen Landes zu sichern und das jüdische Privileg zu bewahren.

Im Westjordanland zieht sich das Gefängnis von Tag zu Tag zusammen, da jüdische Siedler und die israelische Armee immer mehr Land stehlen. Im Fall von Gaza kann das Gefängnis nicht kleiner werden.

Viele Jahre lang haben die Staatsoberhäupter der Welt die Palästinenser wegen der Anwendung von Gewalt verurteilt und die Hamas wegen des Abschusses von Raketen aus dem Gazastreifen beschimpft.

Aber jetzt, da junge Palästinenser es vorziehen, zu zivilem Ungehorsam zu greifen, erregt ihre Not kaum Aufmerksamkeit, geschweige denn Sympathie. Stattdessen werden sie dafür kritisiert, dass sie „die Grenze überschreiten“ und die Sicherheit Israels bedrohen.

Der einzige legitime Kampf für die Palästinenser, so scheint es, besteht darin, Stillschweigen zu bewahren, damit ihr Land geplündert und ihre Kinder ausgehungert werden können.

Westliche Führer und Öffentlichkeit haben 1948 die Palästinenser verraten. 70 Jahre danach gibt es keine Anzeichen dafür, dass der Westen sich ändern wird.

erschienen am 13. Mai 2018 auf > JonathanCook.net > Artikel

http://www.antikrieg.com/aktuell/2018_05_13_westliche.htm



Montag, 14. Mai 2018

Der wahre Reichtum - Tipp von Lotti


Der wahre Reichtum

Gedanken zum Buch „WIR SONNENKINDER – AUTHENTISCHE LEBENBILDER“
Buchtipp von Lotti M., Mitautorin von „EISZEIT-BLÜTEN“

Vor uns liegt der Lebensbericht – der Autor Harry Popow nennt ihn authentische Lebensbilder - eines Zeitgenossen, der vom wahren Leben in der DDR berichtet. Er geht gegen die Verzerrungen und Anfeindungen des Lebens im DDR – Staat, als erster Arbeiter-und-Bauern-Staat nach dem Krieg entstanden, durch konservative und postnationalsozialistische Kreise an. Er stellt sein Anliegen am Leben des Einzelnen, seiner eigenen Familie, dar, wobei dieses Bedürfnis das Zeitgeschehen vom Ende des 2. Weltkrieges bis zur immer bedrohlicher werdenden Gegenwart einschließt.



Dem Autor ist es gelungen, in Anerkennung und sehr kritischen Sicht des Geschehens, ein Kaleidoskop der unterschiedlichsten persönlichen Entwicklungen in der DDR herzustellen. Durch die sehr lebendige Darstellung der Agierenden, besonders natürlich der Familie Popow/Orlow, lernt man einerseits mit den Personen zu leben und Verhältnisse, in denen sie nach schlimmen Kriegserfahrungen des 2. Weltkrieges in der DDR aufwachsen, verstehen und Gleichaltrige sich mit leisem Lächeln selbst erinnern. Es sind für viele Menschen stehende, deutsche Schicksale.

Zur Familiengeschichte gehört das Leben der russischen Mutter Tamara, begabt und schön, an den Künsten interessiert, die Mitte der 30iger Jahre ihrem deutschen Mann Erich (Ingenieur) nach Deutschland folgt und in Höhen und Tiefen, erst an der Seite Ihres Mannes, dann allein, ihr Leben und das ihrer vier Kinder bewältigt. Dieser Teil der Familiengeschichte umfasst die schwere Kriegs – und Nachkriegszeit. Hier wird der Leser viele Erlebnisse des eigenen Werdens finden. Er kann die Erlebnisse des Aufbaus in der DDR, der Berufswahl und Ausbildung, bis zur Hochzeit und vielen glücklichen Ehejahren nachempfinden. Besonders bewegend sind aber auch die kritikwürdigen Erfahrungen im Umgang mit den Menschen, die der gestandene Offizier und spätere Diplomjournalist in seinem Arbeitsumfeld und im Privatleben machen musste. Ehrlich und sehr kritisch berichtet er als Mitarbeiter der Wochenzeitung „Volksarmee“ über seine letzten Jahre in der DDR. Er charakterisiert im Jahr 1984 die Zeit mit den Worten: „Es kracht im Gebälk“. Er beschreibt viel Nachdenkliches und kritisiert den sozialistischen Alltag, aber es führt nie zur Negation des Sozialismus, den er nach wie vor für den einzig richtigen Weg hält, ein für allemal Kriegsgefahren zu bändigen.

Die Wende 1989 erlebte er als Mitarbeiter des Fernsehens der DDR, mit diesem abgewickelt, die demütigende Zeit ohne Arbeit und gesellschaftlichen Bezug zum neu organisierten Umfeld. So stürzen Harry und seine Cleo wie Millionen DDR-Bürger ins Ungewisse, sie kehren in Schweden ab dem Jahr 1996 (Harry ab Dezember als Rentner) unter dem Motto „In die Stille gerettet“ dem umgekrempelten und vom großen Geld geenterten Heimatland den Rücken. Es folgen Jahre der Ruhe, des sich Findens und der Bekanntschaft mit vielen neuer schwedischer Freunde, deren Lebensgefühl sie teilen und interessant ist. Das sind für Cleo und ihrem Harry Jahre voller Glück und kraftschöpfender Energie, um nach neun Jahren nach Deutschland zurückzukehren und sich vereint dem Leben des neuen/alten Deutschlands zu stellen.

Nun bekommen die Popows kräftig den „Westwind“ um die Ohren geblasen. Ein sehr „ neutraler“ Briefschreiber fragt ihn im Internet, warum in den Medien so viele Unwahrheiten über die DDR verbreitet werden. Dieser und anderen Fragen zur Gegenwart in Deutschland geht er im 4. Teil der „Lebensbilder“ nach. Als Blogger und Rezensent stellt er über 80 Sachbücher und Zeitungsartikel vor, setzt sich mit ihnen auseinander und führt eine spitze Feder gegen Verlogenheit in der Politik und der damit verbundenen oder zielgerichtet beförderten Volksverdummung, der Ablenkung der Menschen von den eigentlichen politischen Aufgaben der Zeit. In Essays und in seinem Blog geht es darum, auf die große Kriegsgefahr der Gegenwart aufmerksam zu machen und die Menschen vom verlogenen Demokratiebild in Europa auf die Demokratie zu verweisen, die echte Volksherrschaft vertritt.

Der erfreuliche Nebenaspekt des Buches ist die klare umgangssprachliche Gestaltung. Ein Buch, welches man ohne Fremdwörter- oder gar Englischwörterbuch lesen kann. Ihm kann man ein humanistisches Weltverständnis als menschliches Vorbild entnehmen und das Bemühen der Altvorderen im Sinne Hessels zu sagen „Empört Euch!“ Dazu setzt er gegen den heute in der kapitalistischen Welt entwickelten „homo ökonomicus“ in seinem Buch den Ausspruch eines berühmten Deutschen entgegen: „Der wahre Reichtum des Menschen ist sein Reichtum an gesellschaftlichen Beziehungen“.

So konnte der Autor von den „SONNENKINDERN“ berichten. Sie lebten und arbeiteten in einer Zeit ohne Kriege zwischen Ost und West, abgesehen von den Auswirkungen des faschistischen 2. Weltkrieges und des nachfolgenden Kalten Krieges. Sie waren materiell bescheiden gesichert, ohne Arbeitslosigkeit, mit einer intakten Kinderbetreuung und einem auf hohem Niveau funktionierendem Schul – und Gesundheitssystems. Ohne Einschränkung durch gesellschaftliche oder Geldschranken. SONNENKINDER – Der Neuanfang in der DDR: Nachahmbares für gegenwärtiges Denken, Tun und Kämpfen. Der wahre Reichtum. Damit nicht wiederholt eine Mutter einen Sohn durch gegenwärtige Eroberungskriege beweinen muss.

Harry Popow: „WIR SONNENKINDER. AUTHENTISCHE LEBENSBILDER“. Umschlaggestaltung: Harry Popow, Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, ISBN: 978-3-746719-09-2, 504 Seiten, 26,99 Euro, https://www.epubli.de/shop/buch/WIR-SONNENKINDER-Harry-Popow-9783746719092/74250

Alle Rezensionen von Harry Popow sind im folgenden kürzlich veröffentlichtem Buch vereint:
Harry Popow: „STICH-PROBEN. TOTGESCHWIEGENES IM RAMPENLICHT. Texte: © Copyright by Harry Popow, Umschlaggestaltung: © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Sprache: Deutsch, ISBN: 9783746719931, Format: DIN A5 hoch, Seiten: 376, Preis: 20,99 Euro
https://www.epubli.de/shop/buch/STICH-PROBEN-Harry-Popow-9783746719931/74336