„IKARUS.
Mein wunderbares richtiges Leben im doch so miesen falschen.
Lebensschnipsel eines militanten Pazifisten aus drei Ismen“ - von
Karl-Heinz Otto
ZIELGENAU
Buchtipp
von Harry Popow
IKARUS
ist nicht totzukriegen. Hatte er vor 27 Jahren den
Gegner noch mit modernsten Fla-Raketen-Komplexen
im Schach gehalten,
so hält er nunmehr die laut Weißbuch der Bundeswehr wieder in den
Kriegsstartlöchern lauernden Menschenfeinde mit mentalen
Pfeilspitzen im Visier.
Ikarus
– so wähnt sich lt. Buchtitel ein einstiger NVA-Offizier, der sich
dank seiner Bildungsstärke bis in die Königsebene hocharbeitete,
oft von manchen Kleingeistern misstrauisch beäugt oder auch
behindert, heute im Jahre 2016 von durchweg nach wie vor
antikommunistisch aufgeheizten Möchte-Gern-Kriegern im Interesse
einer „höheren Verantwortung Deutschlands an der Seite der USA und
der NATO“ verschmäht, missachtet, kleingeredet und schließlich
totgeschwiegen wird.
Der
unermüdlich gegen Krieg und Kriegsgefahr agierende 78-jährige
Offizier a.D. und Schriftsteller heißt Karl-Heinz Otto. Nach
unzähligen Romanen und Erzählungen – bereits unter den Fittichen
der NVA – raffte er sich nach so langen Jahren nach der sogenannten
Wende (die
er historisch korrekt Rückwende nennt)
auf, sein Leben aufzuschreiben. Mit all den alten und den neuen
Beulen, die er sich holen musste – und trotzdem nie aufgab. Er, der
Überzeugungstäter. Wollte er zu hoch hinaus?
Das
480-Seiten-Buch trägt den Titel „IKARUS“. Diese spannende
Lektüre strotzt nur so von Fakten, Episoden, Berichten,
Zerwürfnissen, Begegnungen und geschichtlich ergänzenden
Informationen. Der Leser wird Augenzeuge, wie ein junger Mann vom
flachen Lande alle Hürden in Schulen und Dienst- und Arbeitsstellen
wie mühevolle Sprünge übers´s langgestreckte Pferd trotz mancher
objektiver und subjektiver Stolpersteine genommen hat. Und so
durchzieht auch sein jüngster Roman „IKARUS“ das, was man
Selbstüberwindung nennt. Schwierigkeiten nicht aus dem Wege zu gehen
und mutig Dummköpfen die Stirn zu bieten. Kraftakte, die ohne eine
tief auslotende innere Überzeugung – sprich politische Motivation
– nicht zu bewerkstelligen sind.
Auch nicht ohne Selbstvertrauen, ohne Bildung und Ehrgeiz.
Wenn
Thomas Mann in seinem Beitrag
„Es geht um den Menschen, Prosa aus fünf Jahrzehnten“, Seite
286/287 (sich auf Walter Scott beziehend) forderte, die Kunst bestehe
darin, dass man mit dem möglichst geringsten Aufwand von äußerem
Leben das innere in die stärkste Bewegung bringe; denn das innere
„ist eigentlich der Gegenstand unseres Interesses. Die Aufgabe des
Romanschreibers ist nicht, große Vorfälle zu erzählen, sondern
kleine interessant zu machen“, dann kommt der Autor Karl-Heinz Otto
dem mit großem Können entgegen.
Deshalb
sei an dieser Stelle zunächst lediglich ein Umriss seines Wirkens in
der DDR gegeben. Im Epilog fasst er sein Leben so zusammen: Als er
drei Jahre alt war, tobte der beschissne
Kriech, von dem die
Erwachsenen erzählten und den
sein Vater mit dem Leben bezahlen musste. Als der zu Ende war, räumte
uns unser Staat, „den bisher Benachteiligten, den
Unterprivilegierten und Bildungsfernen, alle Möglichkeiten ein,
unabhängig von Herkunft und vom Geldbeutel der Eltern zu neuen
Ufern aufzubrechen...“ (S. 479) Karl-Heinz Otto legte
das Abitur ab
und wollte Architektur studieren. Er, der auch als Junger Pionier die
Welt zu verbessern gedachte, entschied sich nach dem Abitur für den
Dienst als Offizier, dem sich, so erinnert sich der Autor, keiner der
Jungs verschlossen hätte. Wie auch an anderen Textstellen fügt
Karl-Heinz Otto in diesem Zusammenhang Worte des Kanzlers Adenauer
an, wonach es gelte, nicht die Wiedervereinigung anzustreben sondern
die Befreiung der Ostzone.
Auch
wenn dem feinsinnigen Karl-Heinz die vorgesetzten Unteroffiziere
während der Grundausbildung (in Vorbereitung auf die
Offiziersschule) mit ihren Ordnung erheischenden „Hocker umwerfen“
bei ungenügendem Päckchenbau schier die Galle hochkommt – er wird
demnächst als Kanonier, Truppenoffizier, Erfinder, engagierter
Stabsoffizier und Spitzengeheimnisträger für Fla-Raketentechnik
sowie viel später als Filmemacher und Schriftsteller seinen Beitrag
zur Friedenserhaltung leisten. Gekrönt wurden anlässlich der „Messe
der Meister von Morgen“ seine Bemühungen um eine hohe Kampfkraft
und Gefechtsbereitschaft bereits
als Funkmessoffizier im Truppendienst mit zwei Goldmedaillen – für
Simulatoren, die er für die Ausbildung von Operateuren an
Rundblickstationen entwickelte und schließlich mit der zweimaligen
Auszeichnung mit dem Friedrich-Engels-Preis, mit dem besondere
militärwissenschaftliche Leistungen geehrt wurden.
Auch dies: Nach siebenjährigem Fernstudium zum Diplomingenieur der
Elektronik an der Technischen Hochschule Ilmenau erhält er für sein
Diplom als einziger der Matrikel E III ein summa cum laude.
Bereits
als junger Offizier beruft man ihn in die Verwaltung
Truppenluftabwehr im Ministerium für Nationale Verteidigung, wo er
sich als Offizier für Rundblickstationen bewährt und bald in
verantwortlicher Position den Wechsel veralteter Flak- zu moderner
Fla-Raketentechnik mitbestimmt.
Auf Seite 7 gesteht er: „...stets glich meine Perspektive der einer
gewöhnlichen Feldmaus denn der eines stolzen Adlers. Und stets, wenn
ich wie Ikarus wagte, in unergründete Höhen abzuheben, fanden sich
Förderer wie Neider meiner Kreativität.“ Die ersteren wollten
sich der Ergebnisse seines Forscherdranges bedienen, während die
Geheimdienstler ihn als negativ-feindliches Element denunzierten und
„unermüdlich an meinem Absturz werkelten...“
Nicht
nur die mitunter bösartige Unterstellungskunst der Abwehrorgane der
NVA, auch die Versuche, ihn vom Studium in der SU wegen
fadenscheiniger Begründungen abzuhalten, übrigens auch vom
Fernstudium innerhalb der DDR, ließen ihn, den vorwärts jagenden
jungen Adler, sich
verwundert die Augen
reiben, ob er denn noch bei soviel Dogmatismus richtig liege, mit
seiner Überzeugung von der Überlegenheit des Sozialismus.
Unvermeidlich auch andere – für viele wohlbekannte enttäuschende
Erlebnisse mit der hoch angebundenen Waffenbrüderschaft zur
Sowjetarmee - als nämlich eine persönlich beginnende enge
Freundschaft mit einem sowjetischen Offizier urplötzlich an dessen
Versetzung nach Kamtschatka zusammenbrach. Barrikaden der
Freundschaft traf er als Kursant der Militärakademie in Kiew an, als
ausländischen Studenten jedwede Besuche außerhalb von Kiew
untersagt blieben.
Wer
tief zu loten vermag, der gibt nicht auf, der sieht die Dinge
komplex, der sieht sie in Zusammenhängen und gesellschaftlichen
Dringlichkeiten ob des Kalten Krieges. So legt sich der Autor bereits
im Prolog seiner Erinnerungen fest, indem er „penetranten
Geschichtsklitterern“ in die Suppe spuckt, „die sich in unser
Leben einmischen“. Er möchte nicht, dass Leute, die nicht einen
einzigen Tag in der DDR gelebt, geschweige in deren Volksarmee
gedient haben, (…) erzählen wollen, wie seine Lebenszeit (…)
verlaufen sei. „Ich schreibe also, um mir die Deutungshoheit über
mein eigenes wunderbar-mieses Leben nicht von anderen stehlen zu
lassen“. (S. 6) Auf Seite 7 fährt er fort, er nenne es ein
historisches Unrecht, diese Volksarmee zu verteufeln, statt sie dafür
zu loben, dass sie nie einen Krieg führte und verantwortungsbewusst
ihre schmerzhafte Selbstauflösung wählte, um damit einen blutigen
Bürgerkrieg zu vermeiden. Doch schon wieder würden „Abermillionen
von Schwertern darauf warten, zu Pflugscharen umgeschmiedet zu
werden“.
So
sehr sich die Staatssicherheit der DDR auch bemühte, den
„aufsässigen“ Offizier Karl-Heinz Otto aus der Armee zu
entfernen, wozu er 16 Jahre lang bespitzelt wurde, eines müsse man
einigen Leuten lassen – es gab auch ehrliche Urteile, ohne
Denunzierungen und Herabwürdigungen. So liest sich dies auf Seite
372 so: Er sei ein kluger Theoretiker, in der praktischen Tätigkeit
versiert, allseitig anerkannt, „wie man es in der NVA nur selten
findet“. (…) Er ist ein Mensch, der nicht alles widerspruchslos
hinnimmt, der tiefgründig nachdenkt und mit seinen Gedanken (…)
nicht hinter dem Berg hält“.
Die
vom Autor – vor dem Abgang vom Armeedienst verteidigte
der ehrgeizige Offizier noch seinen Doktortitel – bezeichneten
Lebensschnipsel eines militanten Pazifisten erweisen sich als ein
großartiges lebensvolles Mosaik, das jedem, der die DDR bewusst
erlebt hat, einen Genuss an Erinnerungen bereitet. Dazu
gehören nicht nur
die III. Weltfestspiele, Biermanns Ausbürgerung, Ernteeinsätze der
NVA oder gar die Enttäuschungen, wenn Lehrer plötzlich die Seiten
wechselten. Mit gezielten Argumenten widerlegt der Autor Anmaßungen
der bürgerlichen Historiker und der Medien über die Geschichte der
DDR. Beeindruckend ebenfalls zahlreiche Naturbeschreibungen, ob auf
dem DDR-Übungsgelände oder in der Kasachischen Steppe. Hilfreich
sind des Autors jeweilige Ergänzungen zur Geschichte sowie seine
Vorliebe, Dichter und Denker wie Bertold
Brecht, Louis Fürnberg und Konfuzius
zu Rate zu ziehen. Interessant des Autors Reisen nach Vietnam und
Namibia und seine persönlichen Beobachtungen.
Im
Epilog bedauert der Autor und widerständiger Oberstleutnant a.D.,
„dass wir die bisher einmalige Chance, eine gerechtere Gesellschaft
zu gründen, glattweg vergeigten“. (S. 480) Auf dieser Seite findet
sich auch der auf Karl Marx zurückführende Ausspruch, das Kapital
habe ein Horror vor Abwesenheit von Profit. Sehr oft verwendet der
Autor das Wort indoktrinär für die Propaganda in der DDR. Er
schreibt zu recht, man solle auch die Möglichkeit haben, die Welt
selbst anzuschauen. Dem ist nichts hinzuzufügen, die Welt anschauen
mit theoretischer Vertiefung – daraus wird ein Schuh.
Und
so hofft der Autor, sich auf Oscar Wilde berufend, dass die
Menschheit, sollte sie ein besseres Land sehen, die richtigen Segel
setzen möge. „Dass Sozialismus und Demokratie zusammengehören –
und Stasispitzel verzichtbar sind – sollte nach unserem vergeigten
Sozialismus-Experiment Allgemeingut und zur wichtigsten Lehre
geworden sein.“ Der IKARUS im Träumer Karl-Heinz - er lässt die
Gegenträumer nicht aus den Augen.
Karl-Heinz
Otto: „Ikarus. IKARUS. Mein wunderbares richtiges Leben im doch so
miesen falschen. Lebensschnipsel eines militanten Pazifisten aus drei
Ismen“ 1. Auflage 2016, Edition Märkische Reisebilder, Dr.
Karl-Heinz Otto, Vertrieb FON 0331 270 17 87, E-Mail:
dr.otto.edit.maerk.reisebilder@t-online.de,
Bisher
veröffentlichte Bücher des Autors Dr. Karl-Heinz Otto / Pseudonym:
CarlOtto:
Probezeit,
Roman, 1985, 1987
Die
Riesenkuh Agathe,
Kunstmärchen, 1995
Silberfäden,
Erzählungen, 1995
Reisen
und Speisen in Brandenburg, Reiseführer,
1996
Klöster,
Schlösser und Burgen in Brandenburg, Reiseführer,
1998
Kamerad
Parkinson, Roman,
1999
Historische
Gasthäuser in Brandenburg, Reiseführer,
1999
Brandenburg,
Reiseführer, 2001
Im
Schatten der Flämingburg, Kriminalroman,
2003 (unter Pseudonym CarlOtto)
Der
herbe Duft der Chrysantheme, Kriminalroman,
2007 (unter Pseudonym CarlOtto)
Der
Windmüller und der Flötenkönig von Sanssouci, Kunstmärchen,
2007
Operation
Taubenhaus, Kriminalroman,
2012 (unter Pseudonym CarlOtto)
Märkische
Reisebilder, eine Edition kulturhistorischer Reiseführer zur
Berliner und brandenburgisch-preußischen Geschichte