MORGENROT
LEBENS-TRÄUME
IN
TITANIC-ZEITEN
Unter
diesem Titel veröffentlicht der Autor Harry Popow im Juni 2022 aus
aktuellem Anlass sein neues Buch.
Sprache: Deutsch
Format: DIN A5 hoch
Seiten: 480
Altersempfehlung: Erwachsene (18 - 99)
Erscheinungsdatum: 18.06.2022
ISBN: 9783756506316
Zu bestellen:
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Klappentext:
Das von Harry Popow
vorgelegte Werk nennt sich nicht ohne Grund „MORGENROT“. Ein
Titel, der vor allem an jene Generation erinnern soll, die nach der
Befreiung vom Faschismus mit viel Mühe aus den Trümmern an
materiellen Werten und denen in den Köpfen versucht haben, zunächst
mit viel Erfolg, einen neuen Staat zu errichten, dem als wichtigstes
Anliegen nicht nur die Entmachtung der einst herrschenden Geldeliten,
die Beerdigung sämtlicher Kriegsgelüste als geschichtliche
Notwendigkeit oblag, sondern vor allem dem friedlichen Aufbau sowie
dem militärischen Schutz des Arbeiter- und Bauern- Staates.
Die
480 Seiten umfassende Lektüre teilt der Autor in fünf Abschnitte:
Mit "Vorkriegszeit" skizziert er die erneute brandgefährliche
Vorkriegssituation des Jahres 2022. In den weiteren Kapiteln
berichtet er vom persönlichen Erleben vor und nach 1945, den
neunjährigen Aufenthalt in Schweden nach der Annexion der DDR, die
Rückkehr nach Deutschland sowie die nach wie vor geistig intensiven
Jahre am Rande Berlins als Blogger, Rezensent und Autor.
Der
bald 86-Jährige versteht dies als sehr kleinen persönlichen Beitrag
im Widerstand gegen die Diktatur der Kapitalmacht, als Traum von
einem Neubeginn hin zu einem neuen MORGENROT.
Das
Buch ist gleichzeitig ein nach über 60 Ehejahren sehr authentischer
Liebesroman zwischen seiner Frau Cleo und ihm, zwischen allen
Kindern, Enkeln und Urenkeln einer großen und wunderbaren Familie.
Kurzvita
Geboren 1936 in Berlin Tegel, erlebte Harry Popow noch die letzten
Kriegsjahre und Tage. Ab 1953 war er Berglehrling im Zwickauer
Steinkohlenrevier. Eigentlich wollte er Geologe werden, und so begann
Harry Popow ab September 1954 eine Arbeit als Kollektor in der
Außenstelle der Staatlichen Geologischen Kommission der DDR in Schwerin.
Unter dem Versprechen, Militärgeologie studieren zu können, warb man
ihn für eine Offizierslaufbahn in der KVP/NVA. In den bewaffneten
Kräften diente er zunächst als Ausbilder und danach 22 Jahre als
Reporter und Redakteur in der Wochenzeitung „Volksarmee“. Das Zeugnis
Diplomjournalist erwarb der junge Offizier im fünfjährigen Fernstudium
an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nach Beendigung der fast
32-jährigen Dienstzeit arbeitete er bis Ende 1991 als Journalist und
Berater im Fernsehen der DDR. Von 1996 bis 2005 lebte der Autor mit
seiner Frau in Schweden. Beide kehrten 2005 nach Deutschland zurück. Sie
sind seit über 60 Jahren sehr glücklich verheiratet und haben drei
Kinder, zwei Enkel, zwei Enkelinnen und einen Urenkel.
Zum Inhalt
Nach dem obligatorischen Prolog fällt der Autor dem Leser mit der Tür
ins Haus. Im Buch I schreibt er von der “Vorkriegszeit” im Jahre 2022.
Sodann blättert er zurück bis vor 1945 und das Erleben in der SBZ/DDR
als Berglehrling, Offizier und Militärjournalist in der NVA und nach
Beendigung der Dienstzeit als Berater im Fernsehen der DDR, wo alle der
Mauerfall erwischte. Vor allem durchzieht das gesamte Buch die große
Liebe zu seiner Frau, die er Cleo nennt, mit der er bisher über 60
glückliche diamantene Jahre erlebte.
In allen
Lebensdetails erfährt der Leser vor allem die Motive der handelnden
Personen kennen, der Eltern von Cleo und von Henry und ihre eigenen.
Vor dem Hintergrund des Bemühens in der DDR, endlich die Fesseln der
einstigen nazistischen Gewaltherrscher ein für allemal abzuschütteln
und einen sozialistischen Staat aufzubauen, geraten Jung und Alt in
eine gesellschaftlich und politisch aufregende Zeit.
Der Autor Henry, den
seine spätere Cleo bereits beim ersten Anblick als Träumer zu
identifizieren weiß, erfüllt mit viel Nachdenklichkeit und auch
innerer Genugtuung seine Arbeit, sowohl im Bergbau, in der Arbeit als
zukünftiger Geologe als auch später als Militärjournalist. Was er
von seinem Vater als Maschineningenieur und von seiner russischen
Mutter an Lebenserfahrungen und politischen Haltungen erfährt und
erlebt, prägt auch sein späteres Handeln.
So ist zu erfahren,
dass Henry nach der Rückkehr aus Schweden emsig am Computer sitzt
und mehr als 8o Buchrezensionen zu politischen und
gesellschaftskritischen Sachbüchern schreibt und in seinem Blog und
in den Portalen NRhZ und in Linke Zeitung veröffentlicht. Nicht nur
das, er greift nochmals Erinnerungen auf über das Leben in der DDR.
So zum Beispiel, wie er nach dem Abschied aus der NVA den Umbruch im
Fernsehen erlebt, deren Mitarbeiter er in einer Abteilung wird, die
sich mit der Unterstützung des Fernsehens in militärischen Fragen
befasst.
Leseproben
Seite
38:
Träumender
Trommler
Mama
Tamara arbeitet inzwischen als Personalchefin beim 2. Gleisbau, eine
wichtige Strecke für die WISMUT von Johanngeorgenstadt nach Aue im
Erzgebirge. Henry und seine Geschwister werden von Tante Lotte
versorgt. Mit ihr fahren sie im Sommer 1949 nach Rathen im
Elbsandsteingebirge. Sie wohnen in der romantischen Burgruine Rathen,
direkt über der Elbe. In der Burg ist ein Hotel untergebracht.
Früher gehörte sie einem Schweizer Bankier, so ist zu erfahren.
Später wird sich eine Sparkasse aus Berlin die „Ruine“ als
Ferienheim einrichten. In Erinnerung bleiben die Wanderungen zum
Amselsee und zur Bastei, in der Felsenbühne Rathen begeistert sie
die Operette „Schwarzwaldmädel“. Die Burgkost ist schmal,
deshalb holen sie beim Fleischer für fünfzig Pfennige heiße
Knochenbrühe, denn der Hunger ist noch ein ständiger Begleiter.
Henry zeichnet eine Skizze von der Burg. Außerdem will er
„wissenschaftlich“ arbeiten, so beobachtet er mit seinem
einrohrigen Fernglas, das er von seinem Papa hat, die täglichen
Wolkenbewegungen und notiert`s in einem Heftchen. Er fühlt sich
wohl. Schließlich ist eine Karte an Mama fällig: Ich
schreibe Dir den ersten Gruß aus Kurort Rathen. Sei bitte nicht
traurig, dass ich solange nicht geschrieben habe. Eben kommen wir von
einem Spaziergang zurück. Es geht uns hier sehr gut. Ich freue mich
sehr über die herrliche Gegend. Gestern waren wir trotz schlechtem
Wetter mit Eberhardt zum Felsen ‚Talwächter‘. Mama, ich bin
wirklich schreibfaul. Herzliche Küsse von Deinem Henry.
Zurück nach
Berlin-Friedrichshagen. In der Bölschestraße, der Hauptstraße,
wird ein Jugendklub gegründet. Der gehört der neuen
Pionierorganisation. Dort trifft man sich und bekommt auch blaue
Halstücher. Henry will auch mitmachen. Er geht einfach hin. Der
soeben gegründete Fanfarenzug zieht ihn an, vor allem das Trommeln.
Man übt oft. Erst im Keller des Klubs, dann auf der Straße, wo
viele interessiert zusehen. Das gefällt Henry. Und dann heißt es:
„Wir bereiten uns auf eine große Sache vor ...“ Nach der Schule
wird tüchtig geprobt. Fast jeden Abend. Dann ist es soweit. Ein
neuer Staat wurde am 7. Oktober 1949 gegründet – die DDR! Der
Fanfarenzug trifft sich am 11. Oktober mit Tausenden anderen im
Lustgarten. Fackeln, Fanfaren, Menschen über Menschen. Und alle
fröhlich und voller Erwartung. Extra für diesen Anlaß wurden viele
kleine Bäumchen am Rande des Platzes gepflanzt. Dieser historische
Abend war ein unauslöschliches Erlebnis. Wenige Tage danach bekommt
auch Henry sein blaues Halstuch. In der Pioniergruppe geht es
lebendiger zu als in der Schule. Da gibt es Bücherabende, man übt
sich im Laienspiel, man lernt Lieder wie „Du hast ja ein Ziel vor
den Augen“, „Dem Morgenrot entgegen“ und „Dunja unser
Blümelein ...“ Er fühlt sich wohl, ist mittenmang. „Disziplin
Pioniere!“, ermahnt oft der Gruppenleiter. Neue Worte für die
Schüler. Langsam nisten sie sich ein in den Köpfen. Im Kino von
Karlshorst besuchen die „Jungen Pioniere“ eine Veranstaltung mit
Erich Weinert. Wer das ist? Der Gruppenleiter erklärt, es ist ein
Schriftsteller, der in die Sowjetunion emigrieren musste und dort im
Nationalkomitee Freies Deutschland gegen die Faschisten gekämpft
hat. Dieser Mann beeindruckte Henry ungemein. Er tastet sich
unbewusst vor zur Schönheit eines friedlichen Lebens auf der Erde...
Aphrodite ist noch nicht in Sicht, dem Symbol für hohe
Menschlichkeit.
Henry ist seit der
Scheidung der Eltern mit seinen Geschwistern oft alleine. Mama
arbeitet im Erzgebirge, zum Vater gibt es keine Kontakte und Tante
Lotte hat andere Sorgen, als die vielen Fragen zu beantworten,
besonders die von Henry. Es interessiert ihn, warum wird denn soviel
aufgebaut, wenn doch wieder Krieg kommen könnte, wie man im
Radio immer hört...
Aber er bleibt alleine mit seinen Fragen. Er weiß noch nicht, dass
das Denken mit Fragen beginnt. So geht er in die Spur auf der Suche
nach Aphrodite, von der er noch nie etwas gehört hatte.
Seite
32:
1945:
Weiße Armbinden
Donnerwetter, so ein
Glück, sagen Mama und Papa, als sie ihr Mietwohnhaus in
Berlin–Schöneberg unzerstört wiedersehen. Hier hat die Familie
vor der Evakuierung gewohnt. Aber deren Wohnung in der dritten Etage
links ist inzwischen besetzt, die Ziebells dürfen in die zweite
Etage rechts. Aber noch heulen herzzerreißend und furchterregend die
Sirenen. Nacht für Nacht, manchmal auch tagsüber. Sie müssen im
Keller bleiben. Provisorisch sind Bettgestelle aufgebaut, manchmal
liegen nur Matratzen da. Brot auf Zuteilung, gleich für mehrere
Tage. Wenn irgendwo Bomben heulend und krachend in Häuser schlagen
und die Erde bebt, dröhnt und stöhnt, dann bleibt das Herz stehen
vor Angst. Jede Sekunde kann es auch das eigene Miethaus erwischen,
jede Minute ... Papa muss nun doch noch an die Front, zum Volkssturm,
wie er sagt. Nach drei Tagen ist er wieder da. Dort, wo er sich
melden sollte, seien schon die Russen. Wie froh die Kinder sind ...
Henry hört, wie er Mama von Menschen berichtet, die an Laternen
aufgehängt wurden, an ihnen ein Schild mit der Aufschrift: Ich bin
ein Verräter. Es ist alles so schrecklich und gruselig. Eines Nachts
nimmt Papa seinen Größten mit aufs Dach des Hauses. Der Ängstliche
sieht die langen bläulich-weißen Strahlen der Scheinwerfer, die den
Himmel nach Flugzeugen abtasten. Dann schrillen wieder die Sirenen.
Henry schaut tapfer und zitternd. Papa lässt ihn wieder frei und
Mama schimpft unten im Keller.
Seite
45:
Steinkohlen-Zeit
Als
Berglehrling „Unter Tage“
Zwickau,
Seminarstraße 1. Ein großes graues Gebäude - die
Bergbauberufsschule. Glück für Henry. Die Lehrzeit beginnt erst
Mitte September, also noch über zehn Tage Zeit. Er meldet sich
jedenfalls an und wohnt ab 15.9. im Lehrlingswohnheim. Das Bergwerk
der Steinkohle heißt „Karl Marx“. Es gibt noch ein zweites
Bergwerk - „Martin Hoop“. In den Schaufenstern der Stadt sieht er
die ersten Fernsehapparate mit den kleinen Bildschirmen. Aber so
etwas Technisches macht ihn nicht an. Zuerst paukt er nur
Theoretisches. Über die Geschichte des Bergbaus, über die
Untertagearbeiten, wie die Technik heißt, die die jungen Leute da
unten erwartet, und dass die Steinkohlenflöze noch Vorräte für
weitere siebzig Jahre im Berg festhalten. Also ganz schöne
Aussichten. Im Sommer beginnt die praktische Arbeit unter Tage. Zuvor
Kleider wechseln in einer großen Halle. Von der Decke herab baumeln
an langen eisernen Ketten wie geräucherte Ware die dunklen
Arbeitsklamotten. Der Lehrling öffnet das Sicherheitsschloss, lässt
die Kette herunter. Sein sauberes Zeug kommt an den Haken, alles
hochziehen, fertig. Grubenlampe empfangen. Rein in die Fahrt, so
nennt sich der „Fahrstuhl“, und ab in die Tiefe. Kribbeln im
Bauch, denn die Mannschaftsfahrt hat eine Sinkgeschwindigkeit von
sechs Metern pro Sekunde. (Die Produktenfahrt ist doppelt so
schnell.) 900 Meter Tiefe (Teufe). Eine unheimliche Stille empfängt
die jungen Bergleute. Irgendwo kreischt ein „Hunt“ in den
Weichen, so heißen die kleinen Wägelchen für den Kohletransport.
Langsam tasten die Lehrlinge sich vorwärts, die elektrisch
betriebenen Grubenlampen in ihren Händen werfen nur ein spärliches
Licht auf den dunklen Stollenboden. Manchmal blitzt eine kleine
Wasserpfütze auf. Dann und wann müssen die Männer eine „Schleuse“
passieren, ein Wetter, durch die der Grubenwind geregelt wird.
Endlich am Ziel, man sagt „vor Ort“. Aus einer Kiste holt Henry
sein Gezähe (Werkzeug), lockert mit dem Picker das Schwarz aus der
Grubenwand, haut Stempel (Stützbalken) zurecht, hilft mit, den neu
entstehenden Stollen abzusichern, übt sich im Handversatz, verletzt
sich an der Schüttelrutsche, trinkt schwarzen Kaffee aus der großen
Blechkanne, wartet sehnsüchtig auf das Ende der Schicht, auf den
hellen Himmel über der Stadt ... Nach der Ausfahrt unter die Dusche.
Er lernt, sich richtig zu waschen. Beim zweiten Mal glaubt er, jetzt
geht‘s. Ein Blick in den Spiegel überzeugt ihn vom Gegenteil: Die
Augenbrauen, der Haaransatz am Kopf, die Ohrmuscheln – alles ist
noch pechrabenschwarz. Zum Teufel noch mal! Das ganze noch einmal.
Seite
52:
Knobelbecher-Zeit
Was ist also zu tun?
Das wissen sicherlich die da oben. Henry denkt an die großen
Zusammenhänge noch nicht. Jetzt ist er auf den nächsten Augenblick
fixiert. Was wird ihn erwarten, den Ahnungslosen? Es ist der 23.
November 1954. Erfurt. Ein Jüngling, schmal, etwas blass, knapp 18
Jahre alt, im hellen und dünnen Sommermantel, ein kleines Köfferchen
in der Rechten, meldet sich an einem Kasernentor. Dann ist er drin.
Noch weiß er nicht, dass ein Rückzug nicht mehr in Frage kommen
wird, selbst bis zum ersten Ausgang werden Wochen vergehen. Eine
Schule für zukünftige Offiziere – sie wird ihn und all die
anderen Schüler festhalten für drei Jahre, soviel ist klar. Am
nächsten Tag geht es bereits in die B/A- Kammer, das heißt
Bekleidung und Ausrüstung. Henry sieht die Knobelbecher und ihm
zieht sich das Herz zusammen. „Die sollen nun mein Schuhwerk sein,
diese klobigen Dinger“, denkt er. Damit nicht genug. Die von der
Aufnahmekommission haben wegen der „Militärgeologie“ kaum
merklich gegrinst. Ja, bei den Pionieren, da beschäftige man sich
mit so etwas, aber dazu wiederum sei er zu schwach gebaut, solle er
doch allgemeiner Truppenkommandeur werden, da habe man Befehlsgewalt
über alle, über die Infanterie, die Flugzeuge und über die
Schiffe, und einer der Offiziere breitet weit die Arme aus ... Dem
sensiblen jungen Mann wird beinahe schwarz vor Augen, über andere
herrschen, das will er ja gar nicht.
Er
spürt, da kommt was auf ihn zu. Doch nun ist es wohl zu spät. Soll
er sich zurückziehen? Feige und kleinmütig? Zurück in den Betrieb,
der ihn so „patriotisch“ verabschiedet hat? Der ihm das restliche
Gehalt von November, etwa 50 DM, erlassen und ihm eine gute
Beurteilung mitgegeben hat? „Nach
Aussagen des Leiters der Außenstelle kann seine Arbeit mit sehr gut
bewertet werden“,
so steht es in dem Papier. Nein, ausgeschlossen. Er wird, er muss
sich durchbeißen. Sich abhärten, sich standhafter machen. Bedenkt
er, dass sich hinter ihm mit dem Kasernentor auch seine noch nicht
einmal gelebte Jugendzeit schließt, nahezu eingegrenzt und
beschnitten wird? Nein, das erscheint ihm nicht wichtig genug. Und so
soll’s denn sein ... Henry stürzt sich in die Zeit der Fußlappen
und der Stiefel. Aus dem im Sternenbild Schütze geborenen soll nun
ein echter Schütze werden.
Seite
249:
„Kampfplatz“
Adlershof
Es ist der erste
Dezember 1986, da geht Henry das erste Mal wieder seit dem Herbst
1954, also seit 32 Jahren, in Zivil zur Arbeit. Mit der S-Bahn von
Friedrichshagen nach Köpenick, von dort fährt er mit der
Straßenbahn nach Adlershof, betritt dann diesen riesigen
Gebäudekomplex des Fernsehens der DDR: Sein neuer Arbeitsplatz.
Konkreter: Die Räume der Beratergruppe. Die ist im grauen
Verwaltungsgebäude im obersten Stockwerk untergebracht. Einige
Mitarbeiter sind dafür verantwortlich, dass in Drehbüchern über
die Armee und bei allen zu bearbeitenden militärischen Problemen
keine fachlichen und politischen Unebenheiten stehen. Ein Oberst ist
Henrys Vorgesetzter, sehr korrekt im Umgang mit seinen zwei
Zivilleuten, zu denen auch Detlef gehört, ein äußerst beweglicher
Geist mit immer neuen Ideen. Vor allem: Er hilft Henry, in der für
ihn fremden Welt des Fernsehens allmählich Fuss zu fassen, die
einzelnen Bereiche wie Unterhaltung und Dramatik kennenzulernen, aber
auch die Leute von „Radar", dem militärpolitischen Magazin.
Er muss an „Abnahmen“ – seien es die Radar-, seien es
publizistische Beiträge, seien es Spielfilme mit Armeeproblematik –
teilnehmen und den jeweiligen Inhalt mit begutachten.
Seite
257:
Aufruhr
in Leipziger Kinosälen
Neubrandenburg -
Henry liebt diese Stadt, in der er mit Cleo und den drei Kindern so
gute Jahre gelebt hatte. Nun ist er erneut hier – vom
10.10.-13.10.88 zum 11. Nationalen Festival des Dokumentar- und
Kurzfilms der DDR. Er stellt fest: Besonders beeindruckend: die
Beiträge „Die Karbidfabrik“, „Das Singen im Dom“, „Winter
ade“, „Erich Fried, ein Porträt“. Dann ein Streifen über die
Armee - „Was jeder muss“. Ein junger Mann zwischen Verweigerung,
Hoffnung und berechtigten Fragen. Aber das Schlussbild: Im
Hintergrund die Kaserne in der Abenddämmerung, im Vordergrund ein
Ausschnitt der Sturmbahn, und zwar so gefilmt, dass er wie ein Galgen
aussieht. Widerlich. Welch ein Bild wird da suggeriert! Ich rege mich
auf. Innerlich! Soll ich in der Diskussion dazu etwas sagen?
Andererseits, habe ich den Film überhaupt richtig verstanden? Würde
ich mich, der ich von der Filmsprache im Grunde wenig Dunst habe,
mich mit giftigen und unqualifizierten Bemerkungen nicht absolut
lächerlich machen? Ich unterdrücke mein „Pflichtgefühl“.
Manchmal muss man schweigen. Oder feige sein? So reibungslos geht’s
nicht mehr wie gedacht... Was deutet sich an?
November 1988 in
Leipzig. Bin das dritte Mal hier zur Dokumentar- und Kurzfilmwoche.
Soviel Kritisches zum Leben in sozialistischen Ländern habe ich
überhaupt noch nie gesehen. Ein großer Lacher bei studentischem
Publikum, als der Film über den Zeiss-Biermann und die DDR-Ships
gezeigt wurde. Stinkendes Eigenlob, das zu selbstherrlich daherkommt
– das will man nicht, denn das ist unehrlich. Und hinter dem Lachen
hört man das Knistern steigender Unzufriedenheit. Ich staune nur,
und das Staunen wird zum Nachdenken. Mehr als bisher. Ein Mitarbeiter
vom Magazin „Radar“, er sitzt in der Jury, kommt zu mir,
flüsternd, sich fast schon vorsichtig umsehend: „Du, da soll noch
ein Streifen aus Moskau eintreffen, aber ob der gezeigt wird?“ Ich
sitze oft bis früh zwei Uhr im Saal, großartige Stimmung, auch als
„Winter ade“ abläuft, Beifall auf offener Szene.
Wieder in Berlin.
Bin aufgeladen. Stehe noch unter Strom. Will einen Diskussionsbeitrag
für die Parteiversammlung über Erlebnisse in Leipzig halten. Vor
allem über den Widerspruch zwischen dem vom Politbüro
hochgejubelten Mikroship-Film und der gar nicht rosigen Resonanz bei
jungen und sehr kritischen Zuschauern. Man macht sich was vor!! Den
Vorgesetzten fährt der Schreck in die Glieder, ich sehe in
ablehnende, verständnislose Gesichter meiner Genossen: „Um Gottes
willen, bleibe bei der Militärpolitik, willst du etwa gegen die
Einschätzung von ganz oben wettern?“ Mir ist richtig unwohl. So
offensichtliche Fehleinschätzungen, so ein hausgemachter „Erfolg“,
so viel Mittelmäßigkeit, so drastisch und niederschmetternd.
Seite 314:
Schwedische
Gastfreundschaft
Silvester 1996. 17
Uhr sind Erna und Gerd bei uns, die älteren Nachbarn. Sie ist eine
weltoffene, charmante, weißhaarige Frau, liebenswert und
gastfreundlich, versteht sich mit Cleo sehr gut. Er zeigt mir auf der
Karte, dass in der Nähe des Stjönsees (Steinsee) sein Vater gewohnt
hat. Gegen 22 Uhr ruft Cleo bei Diana und Thomacz an, sie möchten
herüberkommen. Auch die Familie von Johannes, unsere deutschen
Nachbarn, ist kurz bei uns. Wir tanzen nach Herzenslust bis in den
schwedischen Morgen. Wir fühlen uns frei und glücklich wie noch
nie. Habe ich nicht die für mich tollste Frau? Beste Geliebte und
guter Kamerad? Haben wir Sorgen? Gibt es Termine? Müssen wir etwa
noch die hohe deutsche Miete bezahlen? Haben wir nicht sehr schnell
neue schwedische Bekannte gefunden? Winken uns nicht etwa
interessante Jahre? Im Haus, in den endlosen Wäldern, an Seen, in
der Hafenstadt Kalmar und anderswo?
Nach Neujahr 1997.
Wir schnallen vor der Türe die Skier an. Plötzlich entdeckt Cleo im
Schnee einen Flaschenhals, zieht eine noch halbvolle „Korn“
heraus, hält sie fragend in die Höhe. Ich hatte die Flasche in der
Silvesternacht kalt gestellt und dann glatt vergessen. So tun sich
nichtsahnend Reserven auf. Wir jubeln.
Seite
389:
Am
„Ortsrand“ Berlin
Pünktlich zu Cleos
Geburtstag treffen wir, von Schweden kommend, mit unserem Skoda in
Schöneiche bei Berlin ein. Große Überraschung: Unsere Kinder haben
nicht nur unsere neue Wohnung gemalert, sondern auch Helfer
mitgebracht, die Möbel in den zweiten Stock dieser hübschen
Drei-Zimmer-Wohnung zu tragen. Großartig fühlen wir uns. Der
wievielte Umzug ist es für uns? Leider kein Sinn dafür,
nachzuzählen...
Seite
447:
Innerlich
gesteht er sich ein, ein Träumer zu sein. So, wie Fjodor Dostojewski
(1821-1881) seinen Helden in seinem Roman „Der Traum eines
lächerlichen Menschen“ beschreibt? Dem russischen Autor ging es um
die unermüdliche Suche nach „Erneuerung des untergegangenen
Menschen“.
Nun
aber stürzen die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg ins Hirn.
Soll das nach der Befreiung vom Faschismus eine Erneuerung des
Menschen sein? Es ist zweifelsohne ein Rückfall in die kriegerische
Barbarei, diese Tragödie in der Ukraine.
Im
Klappentext des Buches von Dostojewski heißt es: Es sei die
Enttäuschung „über die Ergebnisse der bürgerlichen Revolutionen
Westeuropas und über das Scheitern der utopischen sozialistischen
Versuche, die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft zu
überwinden...“
Ergibt
sich die Frage: Kann der „lächerliche Mensch“ auch nach diesem
Rückfall wieder zum Propheten eines humanistischen Menschheitsideals
werden, gänzlich ohne Kriege?