Sonntag, 30. Dezember 2012
Herbstlandschaft
Acryl auf Leinwand, 50X70 cm, hier habe ich einen ukrainischen Maler kopiert und meine farblichen Vorstellungen umgesetzt.
Dienstag, 25. Dezember 2012
Salbungsvolles
Wenn jemand
eine Ansprache hält, gegen Gewalt aufruft, für Solidarität und Nächstenliebe,
für Gottesgläubigkeit, für Frieden und Wohlgefallen, dann predigt er – wie seit
tausenden Jahren – nur Salbungsvolles, denn kein Wort fließt über schmalzige
Lippen, jeglichem Unverstand und jeglichem Krieg ein Ende zu gebieten. Nicht
grundsätzlich Veränderungen anzumahnen – was das ist? Verarschung. Und das
heißt Verletzung der Menschenrechte: Abwarten und Nichtstun, auf Gott
vertrauen! Es ist genug Geschwätz in der Welt. Genug, Herr Abgesandter…
Harry PopowDa sprach Stunden später jemand in Rom zur Neujahrsansprache jenes Wort aus, wovor sich "unser" Gauckler und die marktkonforme Großchefin fürchten - Profitmaximierung. Nun also doch: Gotteshilfe, ausgerechnet vom obersten Würdenträger!! Richtig ketzerisch! Einfach toll.
Mittwoch, 19. Dezember 2012
Hans-Dieter Mäde: Fragmente einer Motivation
„Nachricht aus Troja"
Buchtipp von Harry Popow
Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung
Buchtipp von Harry Popow
Wer
tief schürft, wird manches finden. Das betrifft bei Weitem nicht nur die
damaligen Wismutleute im Erzgebirge, die nach der Befreiung 1945 im Interesse
des Weltfriedens nach Uranerz (notwendig für den Bau von A-Bomben in der UdSSR)
suchten und fündig wurden. Das geht wohl jedem Menschen so, der nach Erkenntis
sucht, nach größerem Wissen forscht, sein Leben zurückblickend neue Nuancen
seines Denkens, Fühlens und Tuns abzuklappern gedenkt. Wichtig dabei sei, so
Thomas Mann, „daß man mit dem möglichst geringsten Aufwand von äußerem Leben
das innere in die stärkste Bewegung bringe; denn das innere ist eigentlich der
Gegenstand unseres Interesses.“
Hans-Dieter
Mäde hat das getan. Ein bekannter DDR-Regisseur, geboren 1930 in Krakow,
aufgewachsen in Schwerin, als Generalindendant und Chefdramaturg an
verschiedenen Theatern tätig in der DDR, zuletzt u.a. Regisseur am Maxim Gorki
Theater Berlin und Generaldirektor des DEFA-Studios für Spielfilme
Potsdam-Babelsberg. (Nach langer schwerer Krankheit 2009 verstorben.)
Was
er in seinem Buch (der Text, entstanden
seit Mitte der 90er Jahre unter Mitarbeit seiner Frau Karin Lesch und seines
Sohnes Michael Mäde, wurde aus dem Nachlaß herausgegeben) „Nachricht aus
Troja“ ans Tageslicht förderte, wird all jene begeistern, die ebenso wie er
nach 1945 nach neuen Wegen suchten, aus dem Dilemma der Kriegs- und
Nachkriegswirren herauszukommen und sich dort einzubringen, wo endlich etwas
Neues entstehen sollte: Und das war zweifellos im Osten Deutschlands der Fall.
Bemerkenswert,
wie Mäde bereits als Jugendlicher seine Lebensbahnen in die Richtung von
Literatur und Theater gerichtet hat und – das ist nicht zu bestreiten – im
neuen gesellschaftlichen Milieu den Nährboden und seine Chancen sah, an der
großen Umwälzung teilzuhaben. Jedoch nicht nur als Nehmender, als inaktiver
Mitarbeiter, sondern als stets Suchender. Eine Position, die ihm wohl Glück in
der Arbeit als auch manche Unbequemlichkeiten mit den Staatenlenkern einbrachte.
So schreibt Mäde auf Seite 169: „ Das von mir für zeitgemäß gehaltene
Losungswort vom Ideal, für das ich Hamlet antreten ließ, ging von diesem
Gorkischen Glaubenssatz aus“, der da lautete, der forschende, suchende Held sei
für ihn unvergleichlich wertvoller als der, der bereits fest in seinem Glauben
steht und sich dadurch „vereinfacht“ habe.
Das
Grundgefühl nach der endlichen Befreiung vom Faschismus, ausgehend von den
Bedürfnissen der Zuschauer, charakterisiert der Autor so: „Das Ideal von einem
vernunftgelenkten Zusammenleben hatte Chance durchzubrechen. Das hieß auch: Wir
stehen erst am Anfang. Jetzt kann es beginnen.“ (S. 164) Mit seinen Nachrichten
aus dem Vergangenen wolle er, Hans-Dieter Mäde, Wege rekonstruieren, die ihn
ans Regiepult führten und Motiven nachspüren, die seine ersten selbständigen
Theaterentscheidungen beeinflußten.
Und
das tut er so umfassend, dass es den Lesern eine reinste Freude sein kann, den
alten Bekannten an Dichtern, Schriftstellern, Schauspielern und Theaterstücken
in diesem Buch wiederzubegegnen, u.a. Goethe, Thomas Mann, Tschechow, Brecht,
Puschkin, Winterstein, Gorki, Ostrowski,
Felsenstein, Shakespeare, Pasternak, Belinski, nicht zu vergessen Ernst Bloch, von
dem sich der Autor in philosophischen Fragen an „die Hand nehmen ließ zu einer
Wanderung durch die ´menschliche Wunschlanschaft´.“
Wer
Ähnliches durchlebt hat, wird verstehen, welch ein Genuß es ist, sich mit
Erkenntnissen – sowohl aus der umgebenden Realität als auch aus denen der
gelesenen Literaturen jene Motivationen herauszusaugen, die einem Mut machten,
immer nach vorne zu sehen, aber auch Kritisches in den Focus zu nehmen. So
nennt Mäde Hamlets Ideale, die er in sein „Motivationsarsenal“ aufgenommen
hatte, ebenso – um nur ein Beispiel zu nennen – sein persönliches
Zusammentreffen mit Walter Felsenstein, dessen Vorstoß auf das Totale, nämlich
das „gesamte Beziehungsgeflecht von Werk – Zeit – Wirklichkeit – Darstellung –
Zuschauer“ neu zu befragen und Antworten vorzuschlagen. Und: Glück sei ohne
Prüfung und Standhaftigkeit nicht zu gewinnen. Felsenstein habe uns mit unseren
Halbheiten und unserem alltäglichen Opportunismus konfrontiert.
Felsenstein
zitierend schreibt der Autor auf Seite 88: „Ich bin ein Fanatiker der Wahrheit,
weil Form ohne Wahrheit Dreck ist.“ Mäde gesteht, den Ensembles, in denen er
arbeitete, oft auf die Nerven gefallen zu sein mit seinen „unermüdlichen
Ermahnungen und Beispielen, wie man sich ideelle Bereicherung“ aus der
Komischen Oper in der Behrenstraße holen könne. „…für das, was ich an der Sache
für das Wesentliche hielt, war ich bereit, mich herumzuprügeln, es war für mich
zu einer Gesinnungs- und Weltanschauungsfrage geworden“, so der Autor.
Schließlich ging es, meint Mäde, um unglaubliche Überanstrengungen im Kalten
Krieg, um keine andere Alternative als um „Wer – Wen?“. Doch mit Widerstand
hatte es, so Mäde, in keiner seiner Lebensphasen zu tun. Er wolle das anmerken
in einer Zeit,, „in der man sich von einer nie geahnten Schar von Regimekritikern
und Reformpolitikern umgeben sieht“. Vermittelt durch Lehrer und Künstler der
unmittelbaren Kriegsgeneration spricht er Klartext: „Die antifaschistische
Position ging als erstes, grundlegendes Element in meine Motivation ein, sie
war eine erworbene, durch Erlebnis und Anschauung gestützte, durch gedankliche
Verarbeitungsanstrengung fundierte Konstante…“
Im
tiefen Schmerz den Untergang „Trojas“, der DDR, bedauernd, kreidet er die
politischen Floskeln an, die „bei der Verdrängung mancher individueller Konflikte
Hilfsdienste leisteten“ (S. 28), die Verdrängung der Generationsfrage als einer
Abart der bürgerlichen Ideologie, die totale Ratlosigkeit der Macht vor den
„Ansprüchen und Affekten der Generation, die den Krieg nicht mehr gesehen und
den gewöhnlichen Kapitalismus nur aus primitiv-vereinfachendem Hörensagen …
kennengelernt hatte“ (S. 110), das Festhalten an der liebgewordenen linearen
Fortschrittsvorstellung (S.121), dass „die sozialistischen Gesellschaften den
Platz nicht auszumachen wußten, den die Lüste, Freuden, Späße und Genüsse in
der dynamisch-hierarchischen Struktur der Antriebe“ einnehmen (S. 275) und
schließlich, dass die „Hypothesen über die Wechselwirkung von veränderten
Lebensumständen und Erziehung“ nicht stand hielten. (S. 276)
Der
Autor Mäde resümiert: Heute regeln sich die Dinge wieder über die Brieftasche.
Ihn erstaune, in welchem Tempo sich die Neue Ordnung – den Kommerz als einzigen
Maßstab zu akzeptieren – durchgriff. (S. 221) Schlimmer noch: Das Ende der
europäischen sozialistischen Staaten habe ein Ende der Gewalt nicht näher
gebracht, „auch keine Zunahme von Güte und Toleranz.“ Die „neue Weltordnung“
ziehe eine frische, mörderische Spur von Blut und Gewalt aus dem vorigen ins
gerade angebrochene Jahrhundert…“ (S. 121)
Dem
Autor Mäde stellt der Rezensent den Schauspieler Eberhard Esche (Deutsches
Theater) zur Seite, der in seinem Buch „Der Hase im Rausch“ zu den neuen
Mißständen u.a. formulierte: „Die Zeitläufe sind so geraten, daß
kleinbürgerliche Seelchen die großstädtischen Theater Europas … beherrschen.“
Es lohne nicht einmal die Polemik gegen diese Vize-Lümpchen, die die Zerstörung
der Theater und damit unserer Kultur betreiben. Er beklage sich nicht, denn er
– Eberhard Esche - hatte das Glück, Maßstäbe zu lernen. So ergänzen sich ein
Regisseur und ein Schauspieler, die beide – und mit ihnen viele Millionen
DDR-Bürger – ihr behütetes Glück lebten. (S. 102)
Gleich
dem Autor Mäde nimmt wohl auch mancher Leser im tiefsten Inneren wahr: Was
jetzt Wirklichkeit ist, hat ferngerückt, mit welchen Absichten wir angetreten
sind. Immer noch liege Gorki dem Autor mit der Frage in den Ohren, die seine
Gestalten mit stoischer Hartnäckigkeit wiederholen: „Und so wollt ihr also
tatsächlich leben?“ (S. 239)
„Nachricht
aus Troja“ ist ein anstrengendes aber lohnenswertes Buch. Es steht dem
Zeitgeist entgegen und ordnet sich gerade deshalb würdevoll in die Reihe der
bereits aus über tausend Bänden bestehenden Erinnerungsliteratur zur
DDR-Geschichte und ihren Erfolgen und Versäumnissen ein.
Diesem
Satz des Autors ist wohl erst recht zuzustimmen: „Die Gründlichkeit, mit der
Troja geschleift wurde, konnte nicht verhindern, daß Nachrichten an die
Späteren kamen von denen, die trotz allem ´Mut schöpften und gute Hoffnung´.
Tief
schürfen - das muß man also erst einmal wollen. Ohne das läuft gar nichts. Ohne
dem bist du ein Anhängsel, ein nur Gläubiger, eine Marionette in den Händen
anderer. Es sei denn, man gibt sich selbstzufrieden mit einem ewigen Taumel
zwischen hoher Sinngebung und Barbarei…
Hans-Dieter
Mäde: „Nachricht aus Troja“, Fragmente einer Motivation, Taschenbuch: 292 Seiten, Verlag: Edition Schwarzdruck; Auflage: 1 (8. März 2012), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3935194498, ISBN-13: 978-3935194495, 24 Euro
Dienstag, 18. Dezember 2012
NEUES von ALEX
Alex ist mein Freund. Reiner Zufall: Habe ihn per
Mausklick im Internet kennengelernt. Etwas älter als ich. Mit einem ganzen Rucksack
voller Erlebnisse und Erfahrungen. Ein einstiger DDR-Bürger, der sein Hirn noch
voll in Gebrauch hat und – das vor allem – das Herz auf dem rechten Fleck. Mit
seinem Einverständnis nehme ich gelegentlich diese oder jene Zeilen, die er mir
per E-Mail sendet, in meinem Blog auf. Warum nicht?
Mail vom 18. Dezember 2012:
Guten Tag lieber Freund, ich habe soeben in Deinem Blog gelesen und bin fasziniert von dieser Rezension. (Er meint die über das Buch „Auf Rehwildjagd mit Jesus“, H.P.) Mann, Du hast was drauf .... Ich gäbe was drum, könnte ich mich so ausdrücken. Aber leider ...
Seit geraumer Zeit sitze ich über einer Niederschrift
eines mich nie mehr loslassenden Ereignisses meines Lebens. Der 19. März 1945.
An diesem Tag haben 436 B-17- Bomber (Fliegende Festung) 1103,4 t Spreng -und
Splitterbomben auf Plauen (i.Vogtland, H.P.) mit Ziel VOMAG (Vogtländische
Maschinen-AG, H.P.) abgeworfen . Da zumeist Wohngebiete betroffen waren, wurde
auch unser Wohnhaus voll getroffen und stürzte ein. Wir wurden verschüttet. Aber
wir überlebten. Im Nachbarhaus 11 Tote. Insgesamt 304 Tote in Plauen an diesem
Tag durch die Bomben. Hinzu kamen noch 20 Tote infolge einer im Hammerkeller (Brauerei
in der Brunnenstrasse) ausgebrochenen Panik. Diese Menschen hatten sich selbst
erdrückt .
Ich habe dieses und andere damit im Zusammenhang
stehende Erlebnisse noch in Erinnerung. Sie haben mich nie losgelassen. Sie blieben
prägend für mein ganzes Leben. Bis in die Gegenwart. Es fällt mir schwer, das
alles niederzuschreiben. Aber ich muß es tun. Nur langsam komme ich voran. Ich
gerate immer wieder an eine Art Barriere im Beschreiben. Kannst Du das
verstehen ?
Machs gut!
Montag, 10. Dezember 2012
Mittwoch, 5. Dezember 2012
"Auf Rehwildjagd mit Jesus"
Meldungen
aus dem amerikanischen Klassenkampf
„Auf
Rehwildjagd mit Jesus“ / Joe Bageant
Buchtipp von
Harry Popow
Das
nenne ich Glück - das Erlebnis des Ensembles Cirque du Soleil (Im Zirkus der
Sonne). Du fühltest dich wie in eine andere Welt versetzt, gleichsam auch
emporgehoben. Wieviel menschliche Leistungsfähigkeit, Akrobatik, Schwung,
anmutige Leichtigkeit, begleitet von einer Musik-Produktion, die sich laut
Programmheft u.a. von den Beatles inspirieren ließ, von herrlichen Farben, von
tollen Lichteffekten. Ein Kunstwerk, was wohl mehr Sehnsucht nach
Menschlichkeit nicht ausstrahlen kann. Das Schöne, die Grösse des Menschen
wirbelte den vor Beifall tobenden Zuschauern entgegen. Im Programmheft steht: „Der
Cirque du Soleil macht sich Gedanken über die Welt von morgen und richtet sein
Engagement vor allem auf den weltweiten Kampf gegen die Armut.“ Das trifft
nicht nur die Amüsier- und Spassstrecke der Zuschauer, sondern gleichermaßen deren
Hirn und Herz, stimmt nachdenklich. Fragt sich, wie weit ist der reale Weg vom
Zirkus zur Welt der Sonne?
Dazu
hat der amerikanische Autor Joe Bageant (1946-2011) etwas zu sagen. In seinem Buch „Auf Rehwildjagd mit Jesus“ beschreibt er
ebenfalls eine Welt – allerdings mit weniger Sonne, eine Welt, die uns in
Europa nicht so fremd sein dürfte. Die Größe des Autors: Er besingt förmlich
die Schönheit des Menschen, seine Sehnsucht nach Erfüllung und Frieden,
abzulesen an den Schicksalen derjenigen, die der Autor in seinen acht Essays
vorstellt, darunter eine Karaoke-Sängerin, eine Putzfrau, ein Vorarbeiter, eine
Hühner-Schlacht-Gehilfin, ein Folter-Girl oder die verarmte Witwe eines
Kurzstrecken-Truckers. Er webt deren Leben ein in die gesellschaftlichen
Umstände, in die Widrigkeiten dieses so gelobten Landes, in die angeblich
„klassenlose Gesellschaft“. Das alles beschreibt er mit einem gekonnten
Schreibstil, mit Liebe, mit Wärme für die Benachteiligten dieser
kapitalistischen Gesellschaft, Spannung inklusive.
Auf
Seite 27 bekennt er: Ich möchte dem Leser „das Leben der amerikanischen
Arbeiter näherbringen, näher, als dies unsere Medien jemals tun würden.“ Sarkastisch
beantwortet er sich die Frage, was ihn berechtigt, sich derart
gesellschaftskritisch zu äußern: „Eigentlich nichts, bis auf die Tatsache, dass
ich der eingeborene Sohn eines Landes von Arbeitern bin, das auf den Hund
gekommen ist.“
Joe
Bageant – einer, der das Schuften und Mühen Auge in Auge mit der Arroganz der
links-liberalen Elite kennengelernt hatte: Als Marinesoldat, Arbeiter,
Journalist, Pferdezüchter, Kneipenwirt, Redakteur, Mitwirkender in Sendungen
des Radio und in Dokumentarfilmen und im Internet.
Gerade
deshalb wird der Autor bissig und wütend, wenn er ganz unbarmherzig die
sozialen Zustände dieses großen Amerika anprangert, aufdeckt, entlarvt. Ja, er
reißt förmlich die Maske herunter von dem angeblich so tollen auf hohem Pferd
sitzenden Amerika. Der oft propagierte „Amerikanische Traum“ bekommt – nicht
erst jetzt – einen gewaltigen Kratzer.
Den
Titel des Buches könnte man nach dem ersten Lesen bereits abwandeln: Mit der
Waffe in der Hand und Jesus im Kopf verteidige ich mein arg geschütteltes
Vaterland. In den acht Kapiteln berichtet der Autor u.a. von den Konsequenzen
der Globalisierung für die Einwohner einer Stadt, von der Abzockerei beim
Erwerb von mobilen Eigenheimen, vom Waffenkult, vom tiefen Glauben an Gott, von
den Verwerfungen im Gesundheitswesen. Und, und und…
Dem
Autor geht es vor allem um das untere Drittel der amerikanischen Gesellschaft,
Menschen, „die sich wie folgt beschreiben lassen: konservativ, politisch
fehlinformiert oder passiv und patriotisch, auch wenn es zu ihrem eigenen
Schaden ist.“ Viele glauben noch an den Amerikanischen Traum, der sich
„ausschließlich über Geld definiert“. (S. 60) Dieser Traum besage auch, „unsere
aus dem Bauch kommenden, uninformierten Meinungsäußerungen seien so etwas wie
ungeschminkte und fundamentale politische Wahrheiten.“ (S. 231) Es fehle die
„Befähigung zum kritischen Denken“, schreibt der Autor auf Seite 287.
Als
ein Mensch, der komplex denken gelernt hat, erwähnt er dabei zunächst auch die „Errungenschaften“
dieses Amerika, z.B.: Cineplex-Kinos, Outlet Stores, dreistöckige Straßen,
extragroße Wegwerf-Bierdosen Hummers, Honda, Game Boys,
Dale-Earnhardt-Gedenk-Dampfkochtöpfe … „die ganze dynamische, blinkende,
digitale Phantasmagonie.“
Arbeitslosigkeit?
Die nationale Mythologie (S. 35) propagiere Amerikaner, die „schrecklich
gesund, gebildet, reich und glücklich sind.“ Der Autor setzt dagegen: Mit mindestens
19 Millionen Arbeitslosen oder arbeitenden Armen unter den Weißen habe man es
zu tun, wobei der gewiß höhere Prozentsatz bei den Schwarzen liege. Die Armen
und die an der Armutsgrenze angesiedelten Arbeiter unter den Weißen bewegen
sich, so der Autor, „analog zu den Schwarzen und Latinos, die in Ghettos ums
Dasein kämpfen, innerhalb einer mit einer Sackgasse vergleichbaren sozialen
Matrix, bei der ein Scheitern vorprogrammiert zu sein scheint.“ (S. 19) Den
Blick auf die Arbeiterklasse richtend, stellt Joe Begeant resignierend fest:
„Die Krise, in der die Arbeiterschaft steckt, ist ebenso schrecklich wie
unspektakulär. Die Passivität der Arbeiterklasse, ihre Abneigung gegenüber
allem, was sie für zu intellektuell halten, und ihre Aggressivität gegenüber
der Welt“ würden sich bereits zu Hause und in der Grundschule bemerkbar machen.
(S. 46)
Die
Folge: „Eine lausige Bildung und ein Leben in der Gladiatoren-Arena einer
Marktwirtschaft, in der jeder gezwungenermaßen gegen jeden kämpft, sind
ungeeignete Voraussetzungen, um Grundeinstellungen wie Optimismus oder
Unvoreingenommenheit zu entwickeln, die den Liberalismus kennzeichnen.“ Ein
solcher Hintergrund, meint der Autor, münde in einer Art von düsterer Grobheit
und emotionaler Verrohung. Sie führe dazu, dass die betroffenen Arbeiter Kriege
des amerikanischen Imperiums hinnehmen, „ohne auch nur mit der Wimper zu
zucken.“ (S. 87) Was Wunder, wenn die mitunter sehr gottgläubigen Menschen darauf
hören, was die radikale christliche Konservative predigen, „dass Frieden
niemals zur ersehnten Wiederkunft Christi führen kann und dass jeder, der sich
um Frieden bemüht, ein Werkzeug Satans ist.“ (S. 186)
Unter
dem Dach des peitschenschwingenden Großunternehmentums (S. 294) entpuppe sich
die viel gepriesene amerikanische Freiheit größtenteils als Fiktion. (S. 295)
Die Kultur basiere auf Fernsehen und Öl. (S. 294) Das Fernsehen entmündige den
amerikanischen Durchschnittsbürger, indem es ihm „die politische und
intellektuelle Sphäre aus den Händen nahm.“ (S. 296)
Ohne
Bildung, meint Joe Bageant, könne sich nichts ändern. Und dann haut er wieder
einen sehr persönlichen Satz rein, der ihn ebenfallls sympathisch macht: „Was
meine Leute wirklich brauchen, ist jemand, der einmal ordentlich auf den Tisch
schlägt und laut und verständlich sagt: ´Hört mal zu, Ihr verdammten
Büffelhörner! Wir sind blöder als ein beschissener Hackklotz und hätten dafür
sorgen sollen, dass man uns was beibringt, damit wir wenigstens ein bisschen
kapieren, was in dieser beschissenen Welt abläuft.´“
Auswege? An
die Linke gewandt mahnt er, echte Bewegungen sollten das Protestpotenzial, das
unter unzufriedenen und enttäuschten Leuten vorhanden ist, für ihre Ziele im
Interesse der Menschen nutzen. (S. 99) Sein persönliches Fazit drückt der Autor
auf Seite 213 so aus: „Ich warte begierig darauf, dass mein Streben nach einer
besseren Gesellschaft endlich Früchte trägt…“
Alles
in Allem: Das Buch ist eine politisch-soziale Fundgrube, auch wenn vieles
bekannt ist. Aber nach dem Lesen dieser gesellschaftskritischen Arbeit ist
einem die amerikanische Seele näher gekommen. Das liegt auch an der sehr
gründlichen Recherche durch den Autor, seinen zahlreichen Konsultationen mit
Freunden und Wissenschaftlern. Fremdwörter, spezifischen Vokabeln aus der
amerikanischen Geschichte, findet man in den Anmerkungen wider.
Amerika in
diesem interessanten und aufschlußreichen Buch - welch ein Erkenntnisgewinn! Dass
der bundesdeutsche Leser manches wiedererkennen wird beim Lesen an Zuständen in
seinem eigenen Land mag durchaus kein Zufall sein. Solch einen Spiegel vor der
Nase möchte man da rufen: „Ach wie gut, dass niemand ahnt, dass wir gar nicht
soweit weg sind vom gelobten Land…“ Cirque du Soleil!! Was heißen soll „Im
Zirkus der Sonne“. Der Weg ist noch weit von diesem herrlichen Zirkus zu einer
Welt der Sonne…
Joe
Bageant: „Auf Rehwilsjagd mit Jesus“, gebundene Ausgabe: 350 Seiten, Verlag: VAT Verlag André Thiele; Auflage: 1 (9. Oktober 2012), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3940884928, ISBN-13: 978-3940884923, Originaltitel: Deer Hunting with Jesus. Dispatches from America's Class War
, Größe und/oder Gewicht: 21,4 x
13,2 x 2,4 cm
Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung
Mittwoch, 21. November 2012
"Der Grenzraum als Erinnerungsort"
Über den Wandel zu einer
postnationalen Erinnerungskultur in Europa
„Der Grenzraum als Erinnerungsort“ /
Patrick Ostermann, Claudia Müller, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.)
Buchtipp von Harry Popow
Geburtsort,
Wohnort, Arbeitsort, Urlaubsort, Lieblingsort – der Mensch hat viele Orte, an
die er denken mag, wenn er sich erinnert. Je nachdem, welchen Einfluß sie auf
das Denken und Fühlen haben oder hatten. In der Regel bewegen sie sich im
nationalen Rahmen. Mit allen schlechten und auch guten Erinnerungen.
Das hat sich
in der heutigen Zeit des 21. Jahrhunderts vielfach geändert. In Europa zum
Beispiel. Es will größer werden. Es läßt den Blick über die Grenzen – die
eigentlich keine mehr sind – hinausschwirren in das Größere, in das Mächtigere.
Und da stößt der einzelne Mensch auf den Nachbarn, auf andere Gewohnheiten,
Mentalitäten, auf andere persönliche Erinnerungen – das vor allem. Mit ihnen
kann er sich anfreunden oder es auch sein lassen. Auf jeden Fall ist Toleranz
angebracht. Das Nachdenken über noch Trennendes und über das Gemeinsame. Man
spricht davon, dass eine „postnationale Erinnerungskultur“ notwendig wäre – im
Interesse eines geeinten Europa.
Was ergibt
sich daraus für die Menschen in den einzelnen Ländern, vor allem jenen, die
naturgemäß einen sehr engen Kontakt zum Nachbarland haben? Patrick Ostermann,
Claudia Müller und Karl-Siegbert Rehberg haben dazu ein Buch mit dem
vielsagenden Titel „Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer
postnationalen Erinnerungskultur in Europa“ herausgegeben.
In vier
Kapiteln werden Aspekte „zur Konjunktur nationaler Geschichtskonstruktionen“ gekennzeichnet,
es geht um „neue Formen und Funktionen der Lern- und Geschichtsorte im
Grenzraum von Trentino – Südtirol“; sodann wird „der schwierige Wandlungsprozess
der Erinnerungskultur von einer nationalistischen zu einer pluralen Perspektive
im italienisch-slowenischen Grenzraum“ beleuchtet. Nicht zuletzt wird mit
„Agenturen der Vergegenwärtigung“ die Funktion der Geschichtsmuseen und
Gedenkorte als Stätten historischen Lernens beschrieben.
In der
Einleitung wird darauf verwiesen, dass das Ende des Kalten Krieges nicht etwa
für die Aufhebung der Grenzen schlechthin, „sondern vielmehr für deren
Neufestlegung“ sorgte. Umso dringlicher sei es, sie näher zu untersuchen. Auf
Seite 14 heißt es dazu: „In einem zusammenwachsenden Europa verlieren
Staatsgrenzen an ihrer sicherheitspolitischen Relevanz. Heute werden ihre Linien
und Demarkationspunkte vielmehr zu Orten der Erinnerung vergangener Kriege und
nationaler Selbstbehauptungsbestrebungen.“ Jedoch gelte für alle Grenzräume,
„dass sie Kontakt- und Transferräume sind, in denen die aufeinandertreffenden
Kulturen und Nationen mit ihren jeweiligen Geschichtserzählungen nach wie vor
um die Deutungshoheit kämpfen.“ (S. 17)
Als Orte der
grenznahen Erinnerungen werden u.a. Bozen, Trient, Triest, Orte im Elsass und
andere angeführt. Um nur ein Beispiel einer konfliktbeladenen
Auseinandersetzung zu benennen: Die „Autonome Provinz Bozen-Südtirol“, die
nördlichste Provinz Italiens, sei ein kleines, widersprüchliches, „zugleich exzelentes
Zentrum europäischer Gedächtnis-Stadien“, so Hans Heiss. (S. 67) Der Stadt und
ihren Bürgern sei es bis heute nicht gelungen, sowohl den Nationalismus als
auch den faschistischen Imperialismus als Erfahrungsräume sichtbar und nutzbar
zu machen. Angeführt wird der Streit um die Umbenennung des Siegesplatzes in
„Friedensplatz“, was letztendlich nicht gelungen war. Interessant in diesem
Zusammenhang: „Es gab keine professionale Werbekampagne, keinerlei
Informationsmaterial, (…), auch keine (…) historische Aufklärung über die
Hintergründe von Platz und Denkmal“, so der Autor. Er bezeichnen dies als einen
„beeindruckenden Dilettantismus der ´Wohlgesinnten´, die das gute Argument
allein schon für ausreichend hielten…“ (S. 69)
Ein Kapitel wird
der Erinnerungskultur im italienisch-slowenischen Grenzraum gewidmet. Italien maß
den ethnischen Minderheiten im Staat wenig Bedeutung zu. In Bezug auf das
Kriegsgedenken wurde die Erinnerung an die Gefallenen lediglich mit
„Unbekannter Soldat“ bezeichnet. In einem anderen Beitrag dieses Buches
schreibt die Autorin Christiane Liermann: „Schaut man auf die (…) politische
Kultur in Italien und allgemein auf die italienische Gesellschaft scheint es,
als besitze Geschichte keine dominante Bedeutung als Motor einer (…)
´kollektiven Identität´ mehr.“ (S. 43)
In
zahlreichen Fallbeispielen, die hier nicht alle benannt werden können,
analysieren die Autoren die Bedeutung von Geschichtsmuseen und Gedenkorten –
besonders in Grenzregionen - , indem sie konträre nationale Ansprüche und ihre
geschichtliche Deutung darstellen und dabei Völkerverbindendes in den
Mittelpunkt rücken. Es geht dabei um Denkmäler, Plätze, Straßennamen, Friedhöfe,
Städte und vor allem Museen. Hervorzuheben
sind dabei die Probleme, die die Autoren bei der weiteren Bildungs- und
Erinnerungsarbeit sehen.
So nimmt
Patrick Ostermann die Doppelfunktin des Rassenbegriffs für die italienische
Außenpolitik unter die Lupe. Er legitimierte einerseits den Führungsanspruch
der beiden ´arischen´ Nationen Italien und Deutschland sowie andererseits den
italienischen Führungsanspruch innerhalb der ´Neuen Ordnung Europas´ gegenüber
Deutschland. Luigi Cajani kritisiert, dass bis Ende der 1990er Jahre
Kriegsverbrechen der Italiener nicht in den Schulbüchern erwähnt und Eingriffe
der Politik in die Geschichtsschreibung vorgenommen wurden. Francesco Fait
schreibt in Bezug auf Triest von einer starken Präsenz von Gedenktafeln, Feierlichkeiten,
Ausstellungen, Führungen und Publikationen, gibt allerdings zu bedenken: Das
führe jedoch dazu, sich „dem Dialog mit der Zeit zu entziehen und ihn dauerhaft
gleichsam in Bernstein einzuschließen.“ (S. 175) Kurz: Die
Geschichtsmanifestationen sollten einen Bezug zur Gegenwart und zur Zukunft
herstellen. Zur Arbeit an Gedenkstätten und in Museen meint Alfons Kenkmann,
sie sollten vor allem Orientierungsangebote für die Zukunft anbieten. An
anderer Stelle mahnt Bert Pampel, Gedenkstätten mögen „Raum für Gespräch und
Austausch“ bieten.
Augenfällig
in nahezu allen Beiträgen: Die Kritik der Autoren an Erscheinungen in der Politik
und in maniepulierten Medien: Die Terminologie der Verharmlosung faschistischer
Verbrechen, die Technik der Verschleierung, der Personalisierung, der
Ausblendungen, der „Vermenschlichung“ (z.B. Mussolinis), der Entzeitlichung
historischer Vorgänge, des Verschweigens, der Reduzierung auf Details, der
Verengung, zum Beispiel auf nur eigene Opfer, der Beschönigungen, der
Oberflächlichkeit usw. Nicht zu vergessen die absurde und dumme Einteilung von
Geschichte und Nationen in Gut und Böse.
Dies alles
verurteilen die Autoren. Nicht ohne Grund. Denn die Taktik der Massenverdummung
ist noch nicht aus der Welt. Sind wir doch alle – auch die Autoren dieses
Buches – im System der antagonistischen Widersprüche verstrickt. Nach wie vor.
Wer denkt da u.a. nicht an verfälschte Aussagen über die Geschichte der DDR, an
Reduzierungen auf die Opfer der Stasi u.a.m. In diesem Zusammenhang ein Zitat
von Seite 194/195. Da berichtet der Autor von einer Umfrage unter Schülern, die
die Gedenkstätte Bautzen (Haftanstalt) besucht hatten. „Dabei stellte sich
heraus, dass die konkreten Einsichten über das Unrecht in Bautzen zwar nicht
zum vollständigen Bereinigen des DDR-Gesamtbildes von verklärenden Aspekten
(weniger Kriminalität, keine Arbeitslosigkeit, niedrigere Mieten, stärkerer
gesellschaftlicher Zusammenhalt) führten.“ Bautzen wird höher bewertet als das
gesamte Leben in der DDR? Das Leben als verklärende Aspekte? Da muß man sich
doch fragen: Wer oder was hat hier die Hand im Spiel zu dieser
unwissenschaftlichen, unhistorischen und nur aufs Einzelne reduzierten Falschaussage?
Der Mensch
und seine Orte. Es ist sehr dringlich, die Erinnerungskultur zur Kultur des Umgangs miteinander machen zu wollen.
Befinden sich die Menschen doch nach wie vor im Taumel zwischen
Wahrheitsstreben und vernebelnder Politik. Insofern sind die Beiträge zu Grenzräumen
als Erinnerungsorte für Denkanstöße für die Regierenden eine Aufforderung, aus
dem Dilemma eines strauchelnden Europa herauszufinden, ja, neue Wege zu finden,
um vor allem die menschlichen, die sozialen Aspekte für eine friedvolle Zukunft
abzustecken.
Die aber
werden im Interesse der Machterhaltung des Kapitals in den Wind geschlagen, ja,
bekämpft. Postnationale Erinnerungskultur im Interesse eines geeinten Europa? Es
erübrigt sich die Frage, wessen Europa das wohl sein soll. Patrick Ostermann
schreibt in seiner Schlussbetrachtung auf Seite 248: „Die Europäische Union, so
der spanische Schriftsteller und Überlebende des KZs Buchenwald, könne nur
gelingen, wenn die Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt würden.“ (PK)
Die Autoren:
Prof. Dr. Arand, Tobias; M.A. Bunnenberg, Christian; Prof. Cajani, Luigi; dott.
Fait, Francesco; Dr. phil. habil. Heiss, Hans; Prof. Dr. Kenkmann, Alfons; Dozent.
Dr. Klabjan, Borut; Dr. Liepach, Martin; Dr. Liermann, Christiane; Dipl.-Soz. Müller,
Claudia; Dr. Obermair, Hannes; Dr. M.A. Ostermann, Patrick; Dr. Pampel, Bert; Prof.
Pirjevec, Joze; dott.ssa. Pisetti, Anna; Prof. Dr. Rehberg, Karl-Siegbert;
Prof. Zadra, Camillo;
Patrick
Ostermann (Hrsg.): Der Grenzraum als Erinnerungsort. über den Wandel zu einer
postnationalen Erinnerungskultur in Europa. transcript
(Bielefeld) 2012. 253 Seiten. ISBN 978-3-8376-2066-5. D: 29,80 EUR, A: 30,70
EUR.
Erstveröffentlichung in der Neuen
Rheinischen Zeitung
Samstag, 10. November 2012
Wer den Milchstrom bestimmt…
<!--71619625-->
Mein Leben mit Rindviechern … / Dr. Rolf Funda
Mein Leben mit Rindviechern … / Dr. Rolf Funda
Meine Meinung
zu einem Buch der privaten Erinnerungen / Harry Popow
Hellwach
ist der Mann. Aktiv ist der Mann. Will als über Siebzigjähriger eine feste
Bleibe für Erinnerungsliteratur einstiger DDR-Bürger aus dem Boden stampfen.
Kommt in die Zeitung. Wird interviewt. Dr. Rolf Funda heißt unser Mann. Ziemlich
bekannt als Tierarzt im Norden der damaligen Republik. Nach der sogenannten
Wende im Landtag von Sachsen-Anhalt tätig. Und als Bürgermeister in Löderburg.
Und, und, und… Ein Tausensassa!
Und
nun hat er sein Fühlen, Denken und Handeln zu Papier gebracht. Mit einem
schwerwiegenden Buch, das immerhin 410
Seiten umfasst. Titel: „Mein Leben mit Rindviechern, Politikern und Menschen“. Das
erste Schmunzeln beim Leser ist ihm damit schon sicher. Da steht er nun,
blättert all seine Erlebnisse, Träume, Abenteuer, Erfahrungen und auch Missgeschicke
hin, nimmt zur Genugtuung der Leser manche Ungerechtigkeiten und Borniertheiten
aufs Korn. Das alles allerdings zu lesen nur für seine Kinder, Enkelkinder, nahe
Verwandte und gute Bekannte.
Ein
starker Charakter, der sein sinnerfülltes Leben, sein Wirken, seine erlebten
Werte nicht unter Verschluss hält. Ich jedenfalls habe sein Buch mit
zunehmender Atemlosigkeit verschlungen. Was für ein kraftvolles Menschenleben!
Was für eine selbstlose Hingabe – nicht für sich selbst, für mehr, für die
anderen, für die große Gemeinschaft!
Was
für hörige BILD-Leser und andere leicht geistig vernebelte Kleingeister nahezu
unmöglich erscheinen mag: Ein kleiner Junge im Osten Deutschlands, nach 1945 in
der einstigen DDR als Kuhjunge in der bäuerlichen Landwirtschaft aufgewachsen,
hatte alle Chancen, sich bis zum Tierarzt ohne Kostenbeteiligung
hochzuarbeiten. Was besonders ins Auge sticht: Er hat ein gutes, ein
nutzbringendes Leben hinter sich gebracht. Darauf kann er stolz sein, sehr
sogar.
Ich,
der gleichen Generation wie der Autor angehörend, habe selten eine so
interessante und spannende Autobiographie gelesen wie diese. Allein der große
Abschnitt seiner Kindheitserinnerungen spiegeln ein nicht leichtes aber
vielseitiges und in sozialer Sicherheit vollbrachtes Dasein wider. Dies mag
nicht einmalig sein, dafür aber hat der Autor aus dem Gedächtnis, wie er
schreibt, so eine Menge an Details ans Licht befördert, dass allein schon
deswegen Bewunderung angebracht ist.
Unser
Mann hat etwas zu erzählen und er kann es auch - angefangen von der Kindheit, über
Schule, Soldatsein, Universität, Kreistierarzttätigkeit, Landtagsabgeordneter (nach
der Wende) bis zu den Mühen eines Bürgermeisters. Was zunächst aussehen mag
nach einer etwas langweiligen Chronologie – sie ist es aber nicht. Im
Gegenteil. Der Autor versteht es, in kurzweiligen - nahezu literarisch gestalteten
– Episoden, sein Leben wie ein schönes Mosaik zusammenzusetzen. Es trägt dazu
bei, den Text sehr anschaulich und bewegend zu gestalten. Auch läßt er die
Leser nicht im Regen stehen, wenn er mal
gedanklich vorauseilt, mal zurückblickt und mal kurze Kommentare einfügt. Man
weiß halt, wo man bei ihm dran ist.
Manch
einer mag sich zunächst auch nicht so recht mit zahlreichen Fakten auf dem
Gebiet z. B. der Veterinärmedizin anfreunden, sollte jedoch bedenken, daß
gerade berufsspezifische Details dazu beitragen, die Anstrengungen und Erfolge
der handelnden Personen richtig einzuschätzen.
Auf
entscheidende Werte möchte der Rezensent aufmerksam machen: Das ist die Liebe des
Dr. Funda zu den Menschen, zur Arbeit, zu einem ausgeprägten Verantwortungsbewußtsein
für das, was er tut. Er formuliert das so: „Wenn ich irgendwo mitmache, mache ich
das auch auch immer gründlich…“ Das ist sein hohes Engagement, ob im Kuhstall
oder später als Tierarzt. Das ist nicht zuletzt seine Fähigkeit, sich bei
Widrigkeiten durchzuboxen, dem Mittelmäßgen die Stirn zu bieten. Der Mann hat eben
Charakter. Punkt.
Es
ist eine Freude zu lesen, wie er seinen Vater beschreibt, der als Melker, als
Rindernarr und Rinderfachmann in seinem Kuhstall beste, im ganzen Kreis
bekannte, Ergebnisse erzielte. Dessen Leitspruch: „Der Mensch bestimmt den
Milchstrom.“ Er hatte „während seines gesamten beruflichen Lebens
Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Sauberkeit zu seinen höchsten Maximen
gemacht“, so sein Sohn Rolf und Autor dieses Buches. Die Arbeiter-und
Bauern-Macht hätte ihn, der seit 1923 Mitglied der KPD war, gerne als
Funktionär eingesetzt, doch er blieb bis zu seinem Tode seinem Kuhstall treu.
Was
Wunder, wenn bereits der fünfjährige Sohn Rolf seine Liebe für den Kuhstall und
für Rinder entdeckte. Er notiert: „Sehr frühzeitug habe ich das Melken erlernt.
Manchmal habe ich unter einer Kuh gesessen und an den Zitzen genuckelt (…)“ Den
Wert der Arbeit auf dem Bauernhof, die körperlichen Plagen und den notwendigen
Fleiß besingt der Autor förmlich mit charakterisierenden Schilderungen: Halb vier ging Vater in den Kuhstall. Er
mußte die Einstreu erneuern, die Kuhfladen der Nacht nach hinten befördern, den
Kühen Schrot und andere Konzentrate geben, melken, füttern, misten, Kühe
putzen, Da auch noch die größeren Kälber, Jungrinder und Schweine zu versorgen
waren, kam der Vater selten vor halb zehn Uhr nach Hause. Nach dem Frühstück Garten
graben, Brennholz hacken, Ziegenstall ausmisten. Und er, der Autor? Er mußte
als Fünfjähriger `Scheiße wegräumen´, das heißt mit der Mistgabel die Haufen
der Kühe wegräumen, damit diese sich ins trockene Stroh legen konnten.
In
späteren Jahren, da war er bereits Wachsoldat und im Personenschutz tätig,
berichtet er von seiner beginnenden Liebe zu Anne, das ist so schön zu lesen
und macht den Autor sympathisch, zumal er noch heute mit seiner Angebeteten
zusammen und sehr glücklich ist. Schmunzelnd nimmt man auch seinen Witz, seinen
draufgängerischen Humor zur Kenntnis. So, als er von einem Propusk (Ausweis)
der Sowjetarmee berichtet, den er einst für Hilfeleistungen in einem Objekt der
Waffenbrüder, das er sehr oft wegen kranker Tiere betreten musste, erhalten
hat. Diesen Ausweis DDR-Behörden vorlegend, bekam er umgehend Zutritt. So hatte
er seinen Spass…
Charakteristisch
für den Bauernjungen und späteren Tierarzt: Seine Ungeduld gegenüber allzu gleichgültigen
Leuten, Feiglingen, Angsthasen, Philistern, Schmarotzern, Wendehälsen… Er
beschreibt seine Haltung so: Er sei immer ans Limit gegangen. Ohne Schonung,
was er auch von anderen verlangte. „Ob es sich um Leute über mir, Partner neben
mir oder mir Unterstellte handelte, war mir völlig egal. Wenn sie nur
halbherzig, ohne Lust und Engagement an die Lösung einer Aufgabe gegangen sind,
habe ich sie heftig und nachhaltig kritisiert“, schreibt der Autor. Sein Vater
sei ja auch so unduldsam gewesen.
Die
Arbeitsweise des Bürgermeisters Funda zum Beispiel: In einer wichtigen
kommunalen Angelegenheit schrieb er nicht ellenlange Briefe, sondern klingelte
bei den Bürgern und suchte das persönliche Gespräch. (S. 359) So handelt einer,
dem die Menschen wichtig sind. Mit innerem Groll denkt er dabei auch an
DDR-Zeiten zurück, da es mit einer der größten Fehler war, „den Bauern alles, aber
auch alles vorzuschreiben und es dann mit aller Macht durchzusetzen“. (S. 260)
Beeindruckend,
wie der Tierarzt die Tierseuchenbekämpfung in der DDR beschreibt. Da mußte
unter der Zeitangabe „X plus zwei Stunden“ nach Feststellung einer Seuche oder
eines begründeten Verdachts das Seuchenobjekt hermetisch abgeriegelt sein. Der
betroffene Landkreis erhielt dann mit Unterstützung des Bezirkstierarztes und
seinen Leuten sehr schnelle Hilfe. „Wenn ich mir heute die
Tierseuchenbekämpfung in diesem Land anschaue, kriege ich das kalte Gruseln“,
so Rolf Funda. Schließlich hatte er zu DDR-Zeiten als Kreistierarzt und damit
im Kreis als oberster Tierseuchenbekämpfer eine zwanzigjährige Erfahrung. So
schreibt er weiter: „Und deshalb kann ich den Dilletantismus der Gegenwart gut
beurteilen. Tritt eine Seuche auf, hüpfen –zig Journalisten zwischen Bauern,
Feuerwehr und THW-Leuten , Beamten und anderen angeblich wichtigen Personen
herum.“
Ob
zu DDR-Zeiten oder dann im Landrat oder als Bürgermeister – Rolf Funda hält
nicht still, wenn er auf Borniertheit und Arroganz trifft, wenn klug
durchdachte Vorschläge im Interesse der Menschen in den Wind
geschlagen werden. Da kann er mitunter mit der Faust auf den Tisch hauen, auch
in Form von Protestbriefen wegen des Sputnikverbotes vor der Wende. Auf Seite
302 schreibt Dr. Funda: „Erst angesichts des drohenden Zusammenbruchs gab ich
mein Schweigen auf und wurde aktiv.“ Am 9. Oktober 1989 schrieb er einen Brief
an den 1. Sekretär der Bezirksleitung Magdeburg, Politbüromitglied Werner
Eberlein. Er forderte dringende Veränderungen, kritisierte scharf die
Stagnation in der SED. Doch „Antwort bekam ich
nicht.“ Ein weiterer Brief folgte. An die Kreisleitung der SED. Auch hier
Sendepause! Nach der Wende protestierte er gegen Berufsverbote (kletterte sogar
über eine Absperrung) und gegen Diskriminierungen gegenüber DDR-Bürgern. Mit
Widerwillen registrierte er vor allem diejenigen ehemaligen SED-Leute, die
schnell ihre Fahnen nach dem neuen Wind drehten, den Schleimern, wie er
schreibt.
Er
macht keinen Hehl daraus, als Wachsoldat dem MfS gedient zu haben.
Gleichermaßen ehrlich gesteht er die Fehler ein, die u.a. auch durch die
„flächendeckende Überwachungstätigkeit“ durch das MfS als einen wesentlichen
Grund für den Zusammenbruch der DDR sieht. Nicht ohne Wehmut stellt auch er –
wie zahlreiche ehrlich gebliebene einstige DDR-Bürger - fest, dass mit „dem traurigen Ende dieser
versuchten Alternative (…) der Kapitalismus seine Tarnmaske vom Gesicht genommen
(hat), zeigt er sich so unersättlich, wie ihn Marx schon beschrieben hat.“
Bleibt
nur hinzuzufügen: Der lebendige Lebensbericht des Dr. Rolf Funda erhält sein
besonderes Gewicht durch die kostbaren Erfahrungen, die der Autor auch nach der
Wende in den verschiedensten Funktionen ausgeübt hat, da er so Vergleiche
anstellen konnte und immer öfter bestätigt bekam – wie kann es anders sein - ,
dass dieses kapitalistische System keine Perspektive hat, keine, die für die
Menschen vor allem in sozialer Hinsicht bitter notwendig wäre. Das Buch des Dr.
Funda - es ist der aufrechte Gang einer starken Persönlichkeit, die den Sinn
des Lebens in einer zukünftigen Zivilgesellschaft, frei von Ausbeutung und
Krieg, sieht. Wie lautete der Spruch seines Vaters? Der Mensch ist es, der den
„Milchstrom bestimmt“. Eben…
Deshalb
der uneingeschränkte Dank an den Trutz-Bauer mit Doktorhut mit guten Wünschen
für seine Bemühungen um eine Erinnerungsbibliothek zur DDR-Geschichte.
(„Mein Leben mit Rindviechern, Politikern und Menschen, Dr. Rolf Funda, Selbstverlag, 410 Seiten)
(„Wer sich ins
Privatleben zurückzieht, ist deshalb kein Feigling, aber wer kämpft, ist kein
Narr.“ Das schrieb Michael Benjamin in seinem Buch „Das Vermächtnis“ auf Seite 67, edition ost)
PS.: Wer sich mit der Erinnerungsbibliothek näher vertraut machen möchte, der wähle folgende E-Mail-Adresse: http://www.erinnerungsbibliothek-ddr.de/
PS.: Wer sich mit der Erinnerungsbibliothek näher vertraut machen möchte, der wähle folgende E-Mail-Adresse: http://www.erinnerungsbibliothek-ddr.de/
Donnerstag, 1. November 2012
"Staatsnahe" Feldhasen
Eine
Dokumentation zu Staatsjagden in der DDR / Autor Peter Schreiber
Buchtipp
von Harry Popow
Der
sehr verständliche Strom von Erinnerungslektüre ehemaliger DDR-Bürger reißt
nicht ab. Gott sei Dank, möchte man da sagen. Es wird noch eine lange Zeit
dauern, ehe Rot- und DDR-Hasser akzeptieren, was war: Die DDR als bitter
notwendigen Versuch einer Alternative zu einem kapitalistisch geprägten
Deutschland, um jegliche Gefahr eines neuen Völkermordens von vornherein in die
Schranken zu weisen – ein für allemal. Nun ist es anders gekommen, und gerade
deshalb ist es so sehr wichtig, die Erinnerung an die Startversuche zu einem
echten Friedensstaat wie die DDR einer war, aufrecht zu erhalten. Um der
Zukunft willen.
Einer
der DDR-Bürger, die mutig zur Feder griffen, ist Peter Schreiber aus Erfurt.
Der 1940 in Arnstadt Geborene erlernte den Beruf eines Fleischers, was sich
später in den Reihen der Nationalen Voksarmee als sehr nützlich erwies: Er
wurde im Stab der 4. Mot.-Schützendivision in Erfurt Oberoffizier für Planung
und Beschaffung und Leiter der Unterabteilung Verpflegung. Mehr noch – ihn
befahl man zum Aufbau der Jagdlager für die Staatsjagden im Bezirk Erfurt. Wie
im Klappentext zu lesen, war der Oberstleutnant a. D. mit dafür verantwortlich,
sowohl die jeweilige Jagd als auch die Betreuung und Versorgung der Jagdgäste,
also vor allem der Staatsführung und deren Gäste, die Vertreter des
Diplomatischen Corps, sicherzustellen.
Der
Autor versteht es, die Staatsjagden in den Kontext der zunehmenden weltweiten Anerkennung
der DDR zu stellen. So entwickelten diese sich nach der Aufnahme der DDR und
der BRD in die Vereinten Nationen im Jahre 1973, und nachdem Erich Honecker das
Amt des Vorsitzenden des Staatsrates übernahm „zu einer Tradition in der DDR,
(…) zu einem gesellschaftlich bedeutenden, medienwirksamen Ereignis.“ (S. 14)
Vor allem nach der Konferenz in Helsinki 1975 seien immer mehr Diplomaten
akkreditiert worden.
Verständlich,
dass die Organisatoren auch auf die verschiedenen Bedürfnisse und Gewohnheiten
der hohen Gäste zu achten hatten. So wurden für jene Gäste, die aus religiösen
Gründen kein Schweinefleisch essen durften, aus dem Geflügelschlachthof Nohra
Suppenhühner besorgt, die übrigens, so der Autor, stets eine hervorragende
Qualität hatten. Einmal baute man auch ein Gebetszelt auf, dass, mit Teppich
ausgelegt und nach Osten ausgerichtet, allerdings nicht genutzt wurde. Und für
die Hasen wurden im Gelände extra Zuckerrübenschwänze und –blätter ausgelegt,
denn sie sollten sich „wohlfühlen“.
Vonnöten
war eine umfangreiche materielle Sicherstellung: Das betraf die Speisezelte,
die Telefonverbindungen für die Gäste und für die Regierungsmitglieder, z. B.
spezielle abhörsichere SAS-Telefonapparate und auch selbstverständlich eine
größere Wachsamkeit und Sicherheit in Vorbereitung und während der Jagden.
Wer
das Büchlein liest, das ist in wenigen Stunden zu schaffen, der kommt nicht um
ein vergnügliches Schmunzeln herum, und das ziemlich oft. Beispielsweise
durften die von Militärattaches erlegten Feldhasen (es waren zeitlich getrennte
Jagden) nicht die Anzahl der von den Diplomaten erlegten Tiere übersteigen.
Andererseits sollte die Trefferquote von Jagd zu Jagd übertroffen werden. Man
verfiel auf die Idee, etliche Hasen bereits vor der eigentlichen Jagd zu
erlegen, um sie dann auf die „Strecke“ zu legen. Doch ohne Erfolg, denn die
zuvor geschossenen hartgefrorenen Tiere verschwanden unter dem Schnee oder,
falls aufgewärmt, nahmen eine „stramme Haltung“ ein und „fielen wie ein steifes
Brett auf den Streckenplatz.“ (S. 57)
(„Staatsjagden im Bezirk Erfurt 1971 – 1989“ / Autor Peter Schreiber. Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza/Thüringen, ISBN 978-3-86777-460-4, 1. Auflage, 82 Seiten mit 79 Abbildungen, Preis: 12.95 Euro)
Montag, 22. Oktober 2012
Auf der Spur von "Spürhunden"
„Antideutsche!“
Entstehung und Niedergang einer politischen Richtung / Anton Stengl
Buchtipp von
Harry Popow
Sie
nehmen jeden ins Visier, der den Staat Israel kritisiert, ja, der eine
antiimperialistische Haltung zeigt, der die USA aufs Korn nimmt, der soziale
Mißstände anprangert. Ihren Hass richten sie auf Systemkritische, vor allem auf
die Linken. Es sind die Antideutschen, die sich wie Spürhunde voll und ganz in
den Dienst des Kapitals stellen.
Antideutsche?
Nie gehört? Nein, aber die Ideologie-Akkrobatik, die sie und ihre Protagonisten
- Namen wie Geisel, Postone, Pohrt, Küntzel und Wertmüller gehören dazu - u.a.
in den Zeitschriften konkret, Bahamas und Jungl World betreiben, ist ja wohl
aus der offiziellen Politik und aus den Schlagzeilen der obrigkeitshörigen
Medien sowie aus den Fernsehsendungen bis zum Übelwerden bekannt. An welcher
Front stehen dabei die Antideutschen ?
Ein
Buch mit dem Titel „Antideutsche!“, Enstehung und Niedergang einer politischen
Richtung von Anton Stengl schafft Aufklärung: Die Antideutschen stehen in
vorderster Vernebelungsfront. Der Autor geht in die Tiefe, holt weit aus – auch
in die Geschichte Israels, dessen Existenz keiner leugnen will. Ganz im
Gegenteil. Der Judenstaat, gegründet im Jahre 1948, hätte, wie der Autor
schreibt, die Kraft und die Verantwortung, einen Humanismus auch gegenüber den
Palästinensern und den Arabern zu praktizieren, die wegweisend für andere
Völker sein könnte.
Doch
es kam anders. Von seinem Grundkonzept her war „der Staat Israel auf die
Diskriminierung und Vertreibung der arabischen Bevölkerung Palästinas
begründet“, wie der Autor feststellt. (S. 306)
So
wurde die Haltung zum Staat Israel zur Nagelprobe. Auch aus der Sicht der
Antideutschen. Entstanden aus der radikalen Ecke der Linken riefen sie zur Wiedervereinigung
Deutschlands, die einen enormen „Machtzuwachs für das deutsche Kapital“
bedeutete (S. 161), lauthals zunächst „Nie wieder Deutschland“, um hernach
ihren Fokus auf jene zu richten, die Kritik an Israel übten. In der Einleitung
betont der Autor, er wolle der Frage nachgehen, „wie diese Strömung entstanden
ist, wie sie sich entwickelte, welche Positionen sie konkret einnimmt und wie
diese begründet werden.“
Stengl
bezeichnet seinen 335 Seiten umfassenden Text als Lesebuch, als reader, also
eine Textsammlung, eine Auswahl aus bereits anderswo publizierten Beiträgen.
Das hat seine Vorteile, da im Original zu lesen, birgt aber auch die – leicht
zu verschmerzende – Gefahr doppelter Aussagen. (Auch die Originale sind nicht
in jedem Fall sauber von den Kommentaren des Autors zu unterscheiden.)
Ehe
Anton Stengl seinen Untersuchungsgegenstand charakterisiert, entlarvt und das
„Gedankengebäude“ der Antideutschen polemisch zurückweist, ihn in den Kontext
der großen Politik stellt, geht er zunächst auf die Hintergründe der Gründung
Israels ein, auf die Politik der BRD und der Linken gegenüber dem israelischen
Staat und den Zionismus, auf die Mitschreier im Chor der Antideutschen sowie
schließlich darauf, wie Juden selbst über den Antisemitismus denken und was
hinter den Mythen der Israelfeindlichkeit in Wahrheit steckt.
Ohne
Frage, der Autor begibt sich auf eine heiße Spur. So hält er nicht hinter dem
Berg, die Antideutschen mit ihrer hanebüchenen „Ideologie“ zu entlarven.
Ausgehend von der wahrheitsgetreuen Feststellung, dass das Judentum eine Religion ist aber keine Nation (S. 27),
also Staat und Religion zu trennen sei, denn der israelische Staat sei für alle
Bürger da, greift Stengl den Grundpfeiler der antideutschen Ideologie an: „Auf
der einen Seite stünde das
fortschrittliche Israel, die USA und Europa – auf der anderen die
islamisch-verhetzten Palästinenser und reaktionären arabischen Regime…“ (S. 51)
Es
ist sonnenklar: Da der Staat Israel eine aggressive Politik gegenüber
Palästinensern und den Arabern betreibt, ist es kein Wunder, wenn es von
fortschrittlichen Kräften stark kritisiert wird. Da hält sich Deutschland
heraus, hält schützend die Hand über Israel, da man doch wegen des Holocaust in
dessen Schuld stehe. (Zur Staatsräson erklärt!!) Der gedankliche Kardinalfehler
dieser Haltung: Nicht schlechthin die Deuschen tragen eine „Kollektivschuld“,
wie die Politik uns weismachen will, sondern die Faschisten, die ja dem
kapitalistischen System entsprungen sind. Man reduziert gewissermaßen den
Irrationalismus der Nazis auf Angriffskrieg und Judenmord. Systemschuld? Die gibt es offensichtlich
nicht!! Und wer Kritik übt, sei antisemitisch. So einfach ist das. Man benutzt
den Holocaust als Knüppel zur Verteidigung der Kapitalinteressen. In Israel, in
den USA, in Europa.
Auf
die Geschichte des Antisemitismus, bei den Antideutschen spricht er von
Spürhundhetze, eingehend, weist der Autor auf die Schuld der katholischen
Kirche, auf die Massaker an den Juden während der Kreuzzüge. Die offizielle
Kirchendoktrin: „Juden und Muslime – das waren die Ungäubigen, die allesamt
eliminiert werden mussten, damit der ´Herr´ wiederkäme und sein Reich auf Erden
errichten könne.“ (S. 11) Die Antideutschen allerdings, die während der Zeit der
Wiedervereinigung ausriefen „Nie – wieder – Deutschland“, statt „eine
sozialistische und revolutionäre
Alternative zur Großmacht Deutschland zu propagieren (…)“(S. 161) und
„Die (…) tatsächliche Aufarbeitung der sozialistischen Politik der Vergangenheit
(...)“ zu betreiben, (…). (S. 311), hatten Israel noch nicht im Blick. Das
änderte sich, so der Autor, mit den Golfkriegen der USA. Da stand die Frage,
„…ob man gegen die USA ist, (…) oder ob es andere Möglichkeiten der politischen
Stellungnahme gäbe (…)“. Schließlich befürworteten manche den Angriffskrieg mit
der Begründung, die USA hätten ja auch im 2. Weltkrieg in der
Anti-Hitler-Koalition eine Befreiungsmission erfüllt. (S. 301) „Begründet wurde
diese Position auch mit der angeblichen Bedrohung Israels durch irakisches
Giftgas, das auch noch mit deutscher Hilfe produziert worden sein soll.“
Nun
war der Feind dingfest gemacht: Wer sich gegen Israel wendet, sei ein
Antisemit. Zur Gleichsetzung des Antizionismus mit dem Antisemitismus eine
jüdische Stimme (siehe Rolf Verleger, Leserbrief an die FAZ, 23.2.2012): „Die
meisten Deutschen – ob Christen, Muslime oder Atheisten, (…) sind wohl in der
Lage, einen Unterschied zu machen zwischen ihrer Einstellung zu Menschen
jüdischen Glaubens (…) und der berechtigten Verurteilung der Diktatur des sich
selbst ´jüdischer Staat´ nennenden Israel über die ihres Landes beraubten
Palästinenser.“ (S. 101)
Anton
Stengl geht in seiner Spurensuche in weltanschauliche Tiefe, wenn er – den von
Marx analysierten Fetischcharakter der Ware nennend – auf die unterschiedlichen
Subjekte, die „durchaus vorhanden“ sind, zu sprechen kommt, allerdings die
heutigen Wertkritiker kritisiert, die „den unpersönlichen Charakter der
Herrschaft, die alle Menschen unterjocht,…“ nicht sehen. Daraus folge in den
Augen der bürgerlichen Ideologie, auch der Antideutschen und ihrer geistigen
Mitläufer: Es gäbe „keine Herrschaft von Ausbeutern, die von der Arbeitskraft
des Proletariats profitieren, sondern nur ein abstraktes, repressives System. Darum
spielen (…) die konkreten Klassenverhältnisse (…) keine Rolle.“ (S. 111)
Demzufolge, so die Auffassung von wertkritischen Antideutschen, könne sich die
Linke, „wenn sie Unternehmer und Arbeiter als reale Existenzen und als Subjekte
im Klassenkampf sieht, nie wirklich vom Antisemitismus frei“ (…) machen. Man
glaubt es kaum - so wurde denn auch „folgerichtig“ Lenins Imperialismuskritik
als prinzipiell antisemitisch kritisiert. (S. 114)
Nun
also ist die Katze aus dem Sack: Die Antideutschen und ihre geistigen Mitläufer als willige Vollstrecker der
herrschenden Klasse können ungehindert ihr Kriegsgeschrei losbrüllen: Krieg sei
Frieden, Linke seien „Rot-Nazis“, und Kapitalismuskritik sei „Antisemitismus“,
Linke und besonders Kommunisten und Antiimperialisten seien die wahren Feinde
„zivilisatorischer Errungenschaften.“ (S. 223) Anton Stengl schreibt auf Seite
309 von einer enormen “Aggressivität der Antideutschen“. Er fährt fort:
„Eigentlich müssten Israel und der Antisemitismus in der Konfrontation mit
Massenarbeitslosigkeit, Prekariat, Verarmung und Repression zu Hause (…) doch
zweitrangig sein. Das ist aber nicht der Fall.“
Schlußfolgernd
aus der Wiedervereinigung und dem aktuellen politischen Dilemma stellt der
Autor auf Seite 264 fest: Die Antideutschen seien ein rein deutsches Phänomen.
„Ihre Funktion ist primär die allgemeine Propaganda für die zionistische
Politik Israels und der israelischen Staatsparteien sowie gegen die Autonomie
Palästinas und gegen den Frieden im Nahen Osten.“ Es gehe noch weiter. Sie unterstütze
den militärischen Angriff gegen arabische Länder „im Kontext rassistischer
Hetze gegen die Araber und den Islam: Islam – Nazismus.“
Dies
sehr argumentativ und mit zahlreichen Originaltexten ausgestattete politische
Sachbuch dient allen politisch Interessierten als Nachschlagewerk, um sich als
Systemkritiker gegen eventuelle Anfeindungen, man sei dem Antisemitismus
verfallen, zur Wehr setzen zu können. Und es entlarvt die Heuchelei der
bürgerlichen Ideologie, mit den Schrecken des Holocaust die Kriegswütigkeit des
imperialistischen Israel gegenüber den Arabern in Palästina rechtfertigen zu
wollen.
(Zur
Form des Textes: Etwas Verwirrung stiften mitunter die kompliziert wirkenden Überschriften;
sie kürzer und informativer zu halten stünde der so interessanten und
notwendigen offensiven Lektüre noch besser zu Gesicht; auch einige Tippfehler
sollten in einer Neuauflage schnell zu beseitigen sein.)
Anton
Stengl – und nicht nur er – hat somit eine weitere deutlich erkennbare Spur
nach den antideutschen Spürhunden und ihren Mitbrüllern, aufgenommen; wer sich
politisch nicht einlullen läßt, kann sie bei jeglichen Demos, Menschenketten
und sonstigen Protesten gegen unsoziale Zustände und gegen Kapitalismus und
Krieg leicht wieder aufnehmen…
(Taschenbuch: 220 Seiten, Verlag: Zambon, Giuseppe; Auflage:
1, 3. , September 2012, Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3889751989, ISBN-13:
978-3889751980)
(Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung)
(Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung)
Abonnieren
Posts (Atom)