Mittwoch, 5. Dezember 2012

"Auf Rehwildjagd mit Jesus"


Meldungen aus dem amerikanischen Klassenkampf

„Auf Rehwildjagd mit Jesus“ / Joe Bageant

Buchtipp von Harry Popow

Das nenne ich Glück - das Erlebnis des Ensembles Cirque du Soleil (Im Zirkus der Sonne). Du fühltest dich wie in eine andere Welt versetzt, gleichsam auch emporgehoben. Wieviel menschliche Leistungsfähigkeit, Akrobatik, Schwung, anmutige Leichtigkeit, begleitet von einer Musik-Produktion, die sich laut Programmheft u.a. von den Beatles inspirieren ließ, von herrlichen Farben, von tollen Lichteffekten. Ein Kunstwerk, was wohl mehr Sehnsucht nach Menschlichkeit nicht ausstrahlen kann. Das Schöne, die Grösse des Menschen wirbelte den vor Beifall tobenden Zuschauern entgegen. Im Programmheft steht: „Der Cirque du Soleil macht sich Gedanken über die Welt von morgen und richtet sein Engagement vor allem auf den weltweiten Kampf gegen die Armut.“ Das trifft nicht nur die Amüsier- und Spassstrecke der Zuschauer, sondern gleichermaßen deren Hirn und Herz, stimmt nachdenklich. Fragt sich, wie weit ist der reale Weg vom Zirkus zur Welt der Sonne?

Dazu hat der amerikanische Autor Joe Bageant (1946-2011) etwas zu sagen. In seinem  Buch „Auf Rehwildjagd mit Jesus“ beschreibt er ebenfalls eine Welt – allerdings mit weniger Sonne, eine Welt, die uns in Europa nicht so fremd sein dürfte. Die Größe des Autors: Er besingt förmlich die Schönheit des Menschen, seine Sehnsucht nach Erfüllung und Frieden, abzulesen an den Schicksalen derjenigen, die der Autor in seinen acht Essays vorstellt, darunter eine Karaoke-Sängerin, eine Putzfrau, ein Vorarbeiter, eine Hühner-Schlacht-Gehilfin, ein Folter-Girl oder die verarmte Witwe eines Kurzstrecken-Truckers. Er webt deren Leben ein in die gesellschaftlichen Umstände, in die Widrigkeiten dieses so gelobten Landes, in die angeblich „klassenlose Gesellschaft“. Das alles beschreibt er mit einem gekonnten Schreibstil, mit Liebe, mit Wärme für die Benachteiligten dieser kapitalistischen Gesellschaft, Spannung inklusive.

Auf Seite 27 bekennt er: Ich möchte dem Leser „das Leben der amerikanischen Arbeiter näherbringen, näher, als dies unsere Medien jemals tun würden.“ Sarkastisch beantwortet er sich die Frage, was ihn berechtigt, sich derart gesellschaftskritisch zu äußern: „Eigentlich nichts, bis auf die Tatsache, dass ich der eingeborene Sohn eines Landes von Arbeitern bin, das auf den Hund gekommen ist.“

Joe Bageant – einer, der das Schuften und Mühen Auge in Auge mit der Arroganz der links-liberalen Elite kennengelernt hatte: Als Marinesoldat, Arbeiter, Journalist, Pferdezüchter, Kneipenwirt, Redakteur, Mitwirkender in Sendungen des Radio und in Dokumentarfilmen und im Internet.

Gerade deshalb wird der Autor bissig und wütend, wenn er ganz unbarmherzig die sozialen Zustände dieses großen Amerika anprangert, aufdeckt, entlarvt. Ja, er reißt förmlich die Maske herunter von dem angeblich so tollen auf hohem Pferd sitzenden Amerika. Der oft propagierte „Amerikanische Traum“ bekommt – nicht erst jetzt – einen gewaltigen Kratzer.

Den Titel des Buches könnte man nach dem ersten Lesen bereits abwandeln: Mit der Waffe in der Hand und Jesus im Kopf verteidige ich mein arg geschütteltes Vaterland. In den acht Kapiteln berichtet der Autor u.a. von den Konsequenzen der Globalisierung für die Einwohner einer Stadt, von der Abzockerei beim Erwerb von mobilen Eigenheimen, vom Waffenkult, vom tiefen Glauben an Gott, von den Verwerfungen im Gesundheitswesen. Und, und und…

Dem Autor geht es vor allem um das untere Drittel der amerikanischen Gesellschaft, Menschen, „die sich wie folgt beschreiben lassen: konservativ, politisch fehlinformiert oder passiv und patriotisch, auch wenn es zu ihrem eigenen Schaden ist.“ Viele glauben noch an den Amerikanischen Traum, der sich „ausschließlich über Geld definiert“. (S. 60) Dieser Traum besage auch, „unsere aus dem Bauch kommenden, uninformierten Meinungsäußerungen seien so etwas wie ungeschminkte und fundamentale politische Wahrheiten.“ (S. 231) Es fehle die „Befähigung zum kritischen Denken“, schreibt der Autor auf Seite 287.

Als ein Mensch, der komplex denken gelernt hat, erwähnt er dabei zunächst auch die „Errungenschaften“ dieses Amerika, z.B.: Cineplex-Kinos, Outlet Stores, dreistöckige Straßen, extragroße Wegwerf-Bierdosen Hummers, Honda, Game Boys, Dale-Earnhardt-Gedenk-Dampfkochtöpfe … „die ganze dynamische, blinkende, digitale Phantasmagonie.“

Arbeitslosigkeit? Die nationale Mythologie (S. 35) propagiere Amerikaner, die „schrecklich gesund, gebildet, reich und glücklich sind.“ Der Autor setzt dagegen: Mit mindestens 19 Millionen Arbeitslosen oder arbeitenden Armen unter den Weißen habe man es zu tun, wobei der gewiß höhere Prozentsatz bei den Schwarzen liege. Die Armen und die an der Armutsgrenze angesiedelten Arbeiter unter den Weißen bewegen sich, so der Autor, „analog zu den Schwarzen und Latinos, die in Ghettos ums Dasein kämpfen, innerhalb einer mit einer Sackgasse vergleichbaren sozialen Matrix, bei der ein Scheitern vorprogrammiert zu sein scheint.“ (S. 19) Den Blick auf die Arbeiterklasse richtend, stellt Joe Begeant resignierend fest: „Die Krise, in der die Arbeiterschaft steckt, ist ebenso schrecklich wie unspektakulär. Die Passivität der Arbeiterklasse, ihre Abneigung gegenüber allem, was sie für zu intellektuell halten, und ihre Aggressivität gegenüber der Welt“ würden sich bereits zu Hause und in der Grundschule bemerkbar machen. (S. 46)

Die Folge: „Eine lausige Bildung und ein Leben in der Gladiatoren-Arena einer Marktwirtschaft, in der jeder gezwungenermaßen gegen jeden kämpft, sind ungeeignete Voraussetzungen, um Grundeinstellungen wie Optimismus oder Unvoreingenommenheit zu entwickeln, die den Liberalismus kennzeichnen.“ Ein solcher Hintergrund, meint der Autor, münde in einer Art von düsterer Grobheit und emotionaler Verrohung. Sie führe dazu, dass die betroffenen Arbeiter Kriege des amerikanischen Imperiums hinnehmen, „ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.“ (S. 87) Was Wunder, wenn die mitunter sehr gottgläubigen Menschen darauf hören, was die radikale christliche Konservative predigen, „dass Frieden niemals zur ersehnten Wiederkunft Christi führen kann und dass jeder, der sich um Frieden bemüht, ein Werkzeug Satans ist.“ (S. 186)

Unter dem Dach des peitschenschwingenden Großunternehmentums (S. 294) entpuppe sich die viel gepriesene amerikanische Freiheit größtenteils als Fiktion. (S. 295) Die Kultur basiere auf Fernsehen und Öl. (S. 294) Das Fernsehen entmündige den amerikanischen Durchschnittsbürger, indem es ihm „die politische und intellektuelle Sphäre aus den Händen nahm.“ (S. 296)

Ohne Bildung, meint Joe Bageant, könne sich nichts ändern. Und dann haut er wieder einen sehr persönlichen Satz rein, der ihn ebenfallls sympathisch macht: „Was meine Leute wirklich brauchen, ist jemand, der einmal ordentlich auf den Tisch schlägt und laut und verständlich sagt: ´Hört mal zu, Ihr verdammten Büffelhörner! Wir sind blöder als ein beschissener Hackklotz und hätten dafür sorgen sollen, dass man uns was beibringt, damit wir wenigstens ein bisschen kapieren, was in dieser beschissenen Welt abläuft.´“

Auswege? An die Linke gewandt mahnt er, echte Bewegungen sollten das Protestpotenzial, das unter unzufriedenen und enttäuschten Leuten vorhanden ist, für ihre Ziele im Interesse der Menschen nutzen. (S. 99) Sein persönliches Fazit drückt der Autor auf Seite 213 so aus: „Ich warte begierig darauf, dass mein Streben nach einer besseren Gesellschaft endlich Früchte trägt…“

Alles in Allem: Das Buch ist eine politisch-soziale Fundgrube, auch wenn vieles bekannt ist. Aber nach dem Lesen dieser gesellschaftskritischen Arbeit ist einem die amerikanische Seele näher gekommen. Das liegt auch an der sehr gründlichen Recherche durch den Autor, seinen zahlreichen Konsultationen mit Freunden und Wissenschaftlern. Fremdwörter, spezifischen Vokabeln aus der amerikanischen Geschichte, findet man in den Anmerkungen wider.

Amerika in diesem interessanten und aufschlußreichen Buch - welch ein Erkenntnisgewinn! Dass der bundesdeutsche Leser manches wiedererkennen wird beim Lesen an Zuständen in seinem eigenen Land mag durchaus kein Zufall sein. Solch einen Spiegel vor der Nase möchte man da rufen: „Ach wie gut, dass niemand ahnt, dass wir gar nicht soweit weg sind vom gelobten Land…“ Cirque du Soleil!! Was heißen soll „Im Zirkus der Sonne“. Der Weg ist noch weit von diesem herrlichen Zirkus zu einer Welt der Sonne…

 

Joe Bageant: „Auf Rehwilsjagd mit Jesus“, gebundene Ausgabe: 350 Seiten, Verlag: VAT Verlag André Thiele; Auflage: 1 (9. Oktober 2012), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3940884928, ISBN-13: 978-3940884923, Originaltitel: Deer Hunting with Jesus. Dispatches from America's Class War , Größe und/oder Gewicht: 21,4 x 13,2 x 2,4 cm

Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung

 

 

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