Samstag, 29. August 2020

75 Jahre Potsdamer Konferenz - aufstehen

Entnommen: https://aufstehen.de/web/75-jahre-potsdamer-konferenz/

75 Jahre Potsdamer Konferenz


Höchste Zeit für Neubesinnung auf Entspannung und friedliche Zusammenarbeit

1945 stand Potsdam im Zentrum des Weltgeschehens: Vom 17. Juli bis zum 2. August legten die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs bedeutende Grundsteine für eine friedlichere Weltordnung. Obwohl sich bereits der Kalte Krieg zwischen Ost und West ankündigte, gelang es damals doch, neue Wege zu gehen. Heute, 75 Jahre danach, steht die Welt erneut vor enormen friedenspolitischen Herausforderungen: Militäreinsätze, Völkerrechtsbrüche und Hochrüstung sind an der Tagesordnung – und Leid, Flucht, Rassismus und Zerstörung von Lebensräumen die fürchterlichen Folgen.

Aus diesem Anlass will Aufstehen Potsdam ein starkes Signal senden für Frieden und Zusammenarbeit zwischen den Staaten. Wie eine Neubesinnung auf den Geist von Potsdam aussehen könnte und Entspannung und gegenseitiges Verstehen heute wiederzuerlangen wären, diskutieren hochkarätige Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf der Tagung „75 Jahre Potsdamer Konferenz – Höchste Zeit für Neubesinnung auf Entspannung und friedliche Zusammenarbeit“.

Mit Grußworten des russischen Botschafters Sergei Jurjewitsch Netschajew und von Matthias Platzeck eröffnet die Veranstaltung. In die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz von 1945 und die damalige Neuordnung Europas führt der Historiker Prof. Dr. Peter Brandt ein. Der linke Bundestagsabgeordnete Dr. Alexander Neu untersucht die neue Rolle Deutschlands in der aktuellen und zukünftigen Europa- und Weltpolitik. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion gehen der Historiker Prof. Dr. Siegfried Prokop und der Herausgeber der NachDenkSeiten Albrecht Müller der Frage nach, welche Schritte auf dem Weg zu einer friedlichen Weltordnung aktuell zu gehen wären. Eine weitere Podiumsdiskussion mit der ehemaligen ARD-Korrespondentin in Moskau Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz, der Publizistin Daniela Dahn und dem Co-Präsidenten des Internationalen Friedensbüros in Genf Reiner Braun untersucht die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit Russland.

Die Tagung findet statt am 29. August 2020 von 13.30 bis 18 Uhr im Treffpunkt Freizeit, Am Neuen Garten 64, 14469 Potsdam. Anmeldungen bitte per E-Mail an corneliagottschalk@gmx.de oder telefonisch unter 0152 34 04 43 65 bis zum 21. August 2020. Die Teilnahme ist kostenlos, um Spenden wird gebeten. Aufgrund der Corona-Beschränkungen ist nur eine begrenzte Teilnehmerzahl möglich.

Mehr Informationen: Programmflyer

Die Konferenz wird per Videostream live übertragen und anschließend im Internet veröffentlicht.



Ich habe diese hochwichtige Konferenz im Internet verfolgt (siehe obiger Link) und empfehle dies auch interessierten und politisch hellwachen Leuten, denn in den Medien wird man wohl kaum darüber eine Notiz finden. Harry Popow





Freitag, 28. August 2020

Neue Merkmale des Neoliberalismus - von Vorsitzender Prof. Xiaoqin Ding

 

Entnommen: https://www.kommunisten.de/news/analysen/7954-neue-merkmale-und-tendenzen-des-neoliberalismus


Neue Merkmale und Tendenzen des Neoliberalismus

von Xiaoqin Ding, Vorsitzender Professor an der Shanghai University of Finance and Economics und Generalsekretär der World Association for Political Economy.  

27.08.2020: Obwohl der Neoliberalismus nach der Finanzkrise von 2008 weithin in Frage gestellt und kritisiert wurde, ist seine beherrschende Stellung in den großen westlichen kapitalistischen Ländern noch nicht beendet. Unter seinem Einfluss sind die westlichen Gesellschaften vom Chaos geplagt worden, und der Neoliberalismus hat neue Merkmale und Trends gezeigt: die Finanzialisierung der Wirtschaft, die Politisierung der Finanzen, die Aushöhlung der Politik, die Vernichtung der Kultur und die Verbreitung militärischer Macht.

Die Finanzialisierung der Wirtschaft ist eine der Hauptfolgen des Neoliberalismus und war eine der Hauptursachen der Finanzkrise von 2008. In der Ära nach der Krise gibt es jedoch kein "neues Glass-Steagall-Gesetz", um die Finanzregulierung zu stärken und die weitere Ausbreitung der Finanzialisierung der Wirtschaft einzudämmen.

Nach der Erklärung, die Reform der Finanzaufsicht und die Reindustrialisierungs-Strategie zu fördern, hat die Finanzialisierung der US-Wirtschaft zugenommen statt abgenommen: Der Anteil der realen Industrie am US-BIP ist von 17,8% im Jahr 2010 auf 16,2% im Jahr 2015 gesunken, während der Anteil der virtuellen Industrie von 33,6% auf 34,8% gestiegen ist; der Anteil des Geldvermögens am Haushaltsvermögen ist von 63,6% im Jahr 2010 auf 63,6%, im Jahr 2015 auf 65,6 % gestiegen. Das globale BIP belief sich 2015 auf insgesamt 64 Billionen USD, während der Gesamtbetrag der ausstehenden Finanzderivate im gleichen Zeitraum 62,9 Billionen USD betrug und damit das Vorkrisenniveau von 2008 übertraf.

Das neue liberale Merkmal: Politisierung der Finanzen

Warum die westlichen kapitalistischen Länder nach dieser Krise nicht die Ära einer regulierten Wirtschaft wie "Roosevelts New Deal" eingeläutet haben, sondern ihre Wirtschaft eher “laissez-faire“ finanzieren, mag verschiedene Gründe haben: Die hohe Durchdringung und der hohe Leverage ( die Hebelwirkung) großer Finanzunternehmen in verschiedenen Branchen machen sie groß, aber sie kollabieren nicht. Die dezentralisierte Struktur der demokratischen Regierung führt zu einer langen internen Zeitverzögerung.

Die Finanzialisierung der Wirtschaft ist nicht nur das Ergebnis der globalen Finanzkrise, sondern führte auch zur beispiellosen Politisierung des Finanzwesens. Die Zwänge zwischen Globalisierung und nationaler Souveränität haben unter anderem zu Schwierigkeiten bei der Finanzregulierung geführt. Die eigentliche Ursache ist jedoch der tief verwurzelte Einfluss des Neoliberalismus in den letzten Jahrzehnten: Die sogenannte Vermarktung und Liberalisierung führten zu einer Ausweitung der Einkommensunterschiede und zu einer Schwächung der Einflussnahme der Arbeitnehmer, die Privatisierung verringerte die Steuerausgaben und schränkte die Macht der Regierung ein.

So entstand das neue liberale Merkmal der Politisierung der Finanzen.

Die Politisierung des Finanzwesens hatte einen Präzedenzfall vor der Finanzkrise von 2008, als es Freddie Mac und Fannie Mae gelang, die Regulierung zu umgehen, indem sie politische Beiträge anboten, Lobbyarbeit im Kongress betrieben und Finanzprodukte an Regierungsziele und die Bestrebungen der Bevölkerung banden, ihre Subprime-Hypothekenprodukte auf dem Markt zu verpacken, was auch die Subprime-Hypothekenkrise entzündete.

Nach der Krise verschärfte sich die Politisierung des Finanzwesens in den kapitalistischen Ländern: Die zur Lösung der Krise verfolgte Politik der quantitativen Lockerung ging stets mit einer Erhöhung der Überschussmargen und der Bankboni einher, und die der Realwirtschaft zur Verfügung stehenden Finanzkredite nahmen eher ab als zu; der damalige Premierminister der britischen Labour-Partei und der linke französische Premierminister unterhielten vorsichtig Freundschaften mit Finanzchefs; die Häufigkeit des Auftretens ehemaliger Finanzchefs unter hohen Beamten der US-amerikanischen und europäischen Regierungen und Zentralbanken ging nicht zurück. Das Ironischste ist, dass Trump, ein Immobiliengeschäftsmann, zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde und an der Spitze der Regierungsmacht steht. Die beispiellose Finanzialisierung der Wirtschaft hat zu einer Politisierung des Finanzwesens geführt, das Eindringen des Finanzwesens in die Gesamtwirtschaft hat eine tausendfache Hebelwirkung erzeugt.

Wenn das Finanzsystem ins Wanken gerät, werden auch die Kredit- und Vertrauensfunktionen der kapitalistischen Märkte zusammenbrechen, soziale Unruhen und Revolutionen werden einen Regimewechsel herbeiführen, der für kapitalistische Länder unannehmbar ist.

Nachdem die Regierung die Entscheidung getroffen hatte, die Interessen des Finanzkapitals zu retten anstatt sie aufzugeben, gingen die Finanzoligarchen schnell von der rationalen Unterstützung der Regulierungsreform noch vor der Rettungsaktion zum Widerstand gegen substanzielle regulatorische Änderungen über. Dies ist im Wesentlichen eine Manifestation des Schadens, den der Neoliberalismus der demokratischen Politik auf der wirtschaftlichen Seite zufügt, was eine politische Aushöhlung ist, wenn man die Analyse der politischen Ebene mit einbezieht.

Das nach dem Neoliberalismus entwickelte kapitalistische Wirtschaftssystem steht in zunehmendem Widerspruch zum demokratischen politischen System

Westliche Wissenschaftler haben jahrelang darauf hingewiesen, dass sich demokratische politische Systeme nur in Abhängigkeit vom kapitalistischen Wirtschaftssystem entwickeln können. Mit dem Überdenken der Finanzkrise erkennen immer mehr Menschen, dass das nach dem Neoliberalismus entwickelte kapitalistische Wirtschaftssystem zunehmend im Widerspruch zum demokratischen politischen System steht und dass das Fehlen gleicher und fairer Wahlen und Regierungen das öffentliche Interesse und die Bürgerrechte missachtet.

Die politische Aushöhlung widerspiegelt die Kennzeichnung der kapitalistischen Länder nach der Krise

Die politische Aushöhlung widerspiegelt die Kennzeichnung der kapitalistischen Länder nach der Krise: Die Dualität von Ablehnung und Ausbeutung des Populismus hat die westliche Demokratie des allgemeinen Wahlrechts in eine Sackgasse geführt; die Mehrparteien- und Mehrparteiendemokratie des Westens ist zu einer Sackgasse geworden. Die politischen Unruhen, die durch Machtrotation, Parteilegitimierung und Partei-Propaganda der Gleichheit aller vor dem Gesetz und die Diktatur der Großbourgeoisie verursacht werden, beherrschen das Funktionieren des Rechtsstaates im Kapitalismus. Der Nobelpreisträger Stiglitz merkt dazu scherzhaft an, das Wesen der amerikanischen Demokratie sei "1% Eigentum, 1% Herrschaft, 1% Genuss".

Der Grund dafür ist die Unvereinbarkeit zwischen Kapitalismus, insbesondere dem Neoliberalismus, und demokratischer Politik. Der Neoliberalismus betont den Vorrang wirtschaftlicher Privilegien auf der Grundlage von Eigentumsrechten, während die Demokratie den Vorrang sowohl der Freiheiten als auch der demokratischen Verantwortung auf der Grundlage der individuellen Rechte betont. Die Logik des Neoliberalismus diktiert den profitorientierten Charakter des Kapitals und die minimalen Eingriffe in die politische Sphäre sowie den Einsatz politischer Mechanismen im Dienste eines profitorientierten Verhaltens. Die Demokratie hingegen schaut auf den Staat, um Schutzmechanismen gegen die Macht des Kapitals zu konstruieren.

Die Domestizierung des Kapitals durch die Demokratie hat sich nach der Krise zu einer Domestizierung der Demokratie durch das Kapital entwickelt

Die Domestizierung des Kapitals durch die Demokratie hat sich nach der Krise  zu einer Domestizierung der Demokratie durch das Kapital entwickelt, die weniger eine Degradierung der westlichen Demokratie als vielmehr eine vollständige Offenlegung ihres kapitalistischen Charakters darstellt.

Die Aushöhlung der Politik, die die Forderungen der Bevölkerung unerfüllt ließ und Selbstzweifel an den Werten aufkommen ließ, führte zu einer weiteren Vernichtung der Kultur.

Die westlichen kapitalistischen Länder haben die sogenannten "universellen" Werte Gleichheit, Freiheit und Demokratie gefördert und sie als Mainstream-Kultur in alle Teile der Welt exportiert.

Im Gefolge der Krise haben die Volkswirtschaften der großen kapitalistischen Länder jedoch eine Flaute erlitten, die Arbeitslosigkeit ist stark angestiegen und die Schulden haben zugenommen; vor diesem Hintergrund hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vergrößert, die soziale Ungerechtigkeit hat zugenommen, die soziale Sicherheit ist geschrumpft und die soziale Ordnung hat sich verschlechtert.

In einem solchen Umfeld, in dem Freiheit nicht verwirklicht, Gleichheit nicht durchgesetzt und Demokratie nicht praktiziert wird, zweifeln die Menschen an den Grundüberzeugungen der westlichen Gesellschaften, sind verwirrt über die Richtung des Fortschritts und haben kein Vertrauen in das bestehende System, was zu dem Phänomen der kulturellen Vernichtung geführt hat: Immer mehr Menschen haben keine Hoffnung auf eine Verbesserung des Systems der realen Welt und suchen im virtuellen Cyberspace, wie z.B. in virtuellen sozialen Räumen, Trost.

Die Entstehung einer kulturellen Nihilisierung ist das Ergebnis des Neoliberalismus

Die Entstehung einer kulturellen Nihilisierung (objektive Erkenntnisgewinnung und feststehende Wahrheiten werden verneint) ist das Ergebnis des Neoliberalismus der totalen Privatisierung, der totalen Vermarktung und Individualisierung der Wohlfahrt. Dies führt zu einem Mangel an sozialer Gerechtigkeit, der in Zeiten falschen Wohlstands durch materielle Vorteile verdeckt werden kann, in Krisenzeiten aber unter den Teppich gekehrt wird.

Die westlichen kapitalistischen Länder haben versucht, diesen Problemen mit Anti-Globalisierungspolitiken wie Brexit, dem Scheitern der TPP und dem "muslimischen Verbot", das der neue US-Präsident Donald Trump nach seinem Amtsantritt verhängte, zu begegnen. Und sie versuchen immer noch, ihre hegemoniale Position militärisch aufrechtzuerhalten.

Für die Vereinigten Staaten ist es unmöglich geworden, ihre globale militärische Überlegenheit allein aufrechtzuerhalten

Damit dieses Ungleichgewicht der internationalen Finanzforderungen und -schulden weiterhin zur Bewältigung innenpolitischer Krisen genutzt werden kann, ist für die Vereinigten Staaten und ihre militärischen Verbündeten die militärische Abschreckung unerlässlich. Da die relative nationale Macht der Vereinigten Staaten abnimmt und es für die Vereinigten Staaten unmöglich ist, ihre globale militärische Überlegenheit allein aufrechtzuerhalten sind zur internationalen Militärstrategie der Vereinigten Staaten geworden: die Rolle von Bündnissen (insbesondere die militärische Kostenbeteiligung) ist zu stärken, in einigen sensiblen Regionen in angemessener Weise sind Bündnisse einzugehen und ihren militärischen Status zu erhöhen. Ihre militärische Präsenz ist zu relativ geringen finanziellen Kosten aufrechtzuerhalten, ihre militärische Hegemonie in Militärbündnissen aufrechtzuerhalten und ihren Monopolvorteil bei der Technologie im militärischen Bereich zu wahren. Vorzugsweise handelt es sich dabei um militärische Proliferation.

Durch politische Aushöhlung und militärische Proliferation soll die neue Situation in Einklang gebracht werden mit dem neoliberalen System und der kulturellen Nihilisierung

Zusammenfassend lässt sich sagen: Unter den neuen Merkmalen und Tendenzen des Neoliberalismus ist die wirtschaftliche Finanzialisierung die Prämisse, die Finanzpolitisierung sein Kernmerkmal. Durch politische Aushöhlung und militärische Proliferation sollen die Ergebnisse der neuen Situation in Einklang gebracht werden mit dem neoliberalen System und der kulturellen Nihilisierung, die unvermeidliche Folgen der allgemeinen wirtschaftlichen Verwerfungen und des wachsenden sozialen Ungleichgewichts sind.


Donnerstag, 27. August 2020

Im Elfenbeinturm - Harry Popow

 

Im Elfenbeinturm


Gestern Abend in der ARD: „Der Turm“, 2. Teil. Zusammengekratzte widersprüchliche Fakten einer auf Frieden ausgerichteten Gesellschaft. Widerspiegelung von persönlichen Erfahrungen und Ansichten, die weit ab davon entfernt sind, die Wirklichkeit auch nur annähernd wahrheitsgetreu und umfassend zu erfassen. Die Ideologie des Antikommunismus kreischt ihr Lied aus allen Ecken. Das passt genau in die Zeit der Pandemie, in der das kapitalistische System keinen Ausweg weiß als nur die geistige Knebelung der Massen. Zur NVA: Keiner aus dem Volk mag Militär. Aber bei den „Hartaufnahmen“, den permanent zusammengeschusterten „Drangsalen“ gegenüber den Rekruten wird gleichzeitig das große WOFÜR und GEN WEN unterschlagen. Nicht nur das: In der NVA galt unumstritten die Forderung nach einer guten Arbeit mit dem Menschen. Nicht alle Vorgesetzten waren umgehend in der Lage, diesem obersten Gebot in der sozialistischen Menschenführung in jeder Hinsicht nachzukommen. Außerdem: An den opponierenden Darstellern aus der bürgerlichen Ecke ist nicht zu erkennen, wofür sie politisch einstehen. Sie sind einfach nur DAGEGEN. Und wie geht es den antikommunistischen Schreihälsen heute? Sind sie am 29. August bei der Großdemo gegen die Zwangsmaßnahmen wegen der Corona-Krise mit dabei? Gruß von Harry Popow, einst Mitarbeiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“

Montag, 24. August 2020

Ökonomie und Übergangsgesellschaft - Linke Zeitung

 

Entnommen: https://linkezeitung.de/2020/08/24/oekonomie-und-uebergangsgesellschaft/


Ökonomie und Übergangsgesellschaft


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 24. AUGUST 2020 ⋅ 2 KOMMENTARE


von
Hanns Graaf – https://aufruhrgebiet.de

Marx ging bezüglich des Übergangs zum Kommunismus von mehreren Prämissen aus: 1. meinte er, dass die Voraussetzung jeder tiefgreifenden gesellschaftlichen Umgestaltung im Interesse des Proletariats und der werktätigen Massen die Enteignung der großen Privatkapitale und die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates seien, die mit der Ergreifung der administrativen (Staats)macht im Zuge der proletarischen Revolution erfolgen. 2. würde nach der Revolution kein Kommunismus oder Sozialismus entstehen, sondern zunächst eine Übergangsgesellschaft (Diktatur des Proletariats, Arbeiterstaat), die – obwohl sie historisch der kommunistischen Gesellschaftsformation angehört – dem „eigentlichen“ Kommunismus vorgelagert ist. Diese Übergangsgesellschaft weist sowohl Elemente der kapitalistischen und sogar vorkapitalistischen Gesellschaft auf, als auch solche, die schon auf den Kommunismus verweisen. In den „Randglossen zum Gothaer Programm“ schreibt Marx dazu: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats“.

3. gingen Marx und Engels davon aus, dass der Staat im Kommunismus abgestorben sein wird, d.h. also, dass dieser Prozess schon vorher begonnen haben muss. 4. wird betont, dass es nicht nur darum ginge, eine gerechtere Gesellschaft zu errichten, die einen höheren Wohlstand garantiert –  eine Art „perfekter Sozialstaat“ -, sondern darum, nach und nach eine völlig andere Produktionsweise zu etablieren, in der nicht „fremde Mächte“ – sei es „der Markt“, der Privateigentümer oder der Staat – bestimmen, die den Menschen zum Anhängsel, zum untergeordneten, unterdrückten und ausgebeuteten Faktor degradieren und ihn somit an der Entfaltung seiner Persönlichkeit, seiner Fähigkeiten und Bedürfnisse hindern. Marx fasste diese Stellung des Menschen im Kapitalismus mit dem Begriff der „Entfremdung“. Die Idee der Aufhebung dieser Entfremdung zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Schaffen.

Eine andere, nach-kapitalistische Ökonomie kann aber nicht eine reine Utopie, ein ökonomischer Garten Eden sein; sie kann nur davon ausgehen und von den Elementen bestimmt sein und zugleich über sie hinausgehen, die bereits im Kapitalismus entwickelt oder in Keimform vorhanden sind. In den „Randglossen“ sagt Marx: „Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt.“

Das bedeutet, dass in der Übergangsgesellschaft auch in der Wirtschaft, v.a. am Beginn, verschiedene Eigentumsformen, Planprinzipien neben Marktmechanismen usw. koexistieren. Allerdings ist diese Koexistenz keine Harmonieveranstaltung, weil diese verschiedenen Elemente gegensätzliche Klasseninteressen und wirtschaftliche Mechanismen repräsentieren; vielmehr handelt es sich um einen Kampf zwischen ihnen. Es ist eine Einheit von Widersprüchen.

Wie erfolgreich sich ein Arbeiterstaat entwickelt, hängt also davon ab, inwieweit es dem Proletariat gelingt, diese widersprüchliche Struktur zu managen und dabei die kommunistischen Elemente gegenüber den alten Strukturen immer weiter durchzusetzen, was auch internationale Ausweitung der Revolution bedeutet. Es handelt sich hier um einen unerhört tiefgreifenden, umfangreichen Reformprozess und nicht um einen einmaligen abrupten Akt. Der einzig revolutionäre Akt ist die Machtergreifung des Proletariats und die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparats und dessen Ersetzung durch ein Rätesystem, alle anderen Maßnahmen sind Reformen.

Ein Grund dafür, warum die Umgestaltung der Ökonomie wie der Gesellschaft insgesamt nur als Prozess und nicht als einmaliger Kraftakt erfolgen kann, liegt darin, dass es zwar leicht ist, eine ökonomische Struktur zu zerstören, jedoch viel schwerer, eine neue zu etablieren. Denn eine neue Produktionsweise wird keineswegs nur durch die Eigentumsfrage geprägt, sondern durch eine Vielzahl interagierender Produktionsverhältnisse und durch das Niveau der Produktivkräfte – der wissenschaftlich-technischen wie des Proletariats. Der entscheidende Faktor dabei, die Arbeiterklasse als Hauptproduzentin und Hauptkonsumentin, muss sich zudem auch erst viele jener Fähigkeiten aneignen, die sie benötigt, um eine alternativ-kommunistische Wirtschaft zu beherrschen.

Egal, wie schnell es gelingt, den Arbeiterstaat oder ein System von Arbeiterstaaten auszuweiten und die Weltrevolution voran zu treiben – immer sind es zunächst nur Inseln in einem Meer von Kapitalismus; sie werden sich daher für eine eher längere als kürzere Zeit mit dem Kapitalismus messen und sich gegen ihn behaupten müssen. Damit dies gelingt, müssen neben den langfristig angelegten Veränderungen im sozialen Gefüge v.a. auch Sofortmaßnahmen getroffen werden, um sich ökonomisch behaupten und eine neue Entwicklungsdynamik in Gang setzen zu können. Dazu gehört z.B. der Abbau unproduktiver Strukturen, der sofort zu einem Anstieg der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsproduktivität führt.

Marx´ Programm

Schon im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 skizziert Marx, wie dieser wirtschaftliche  Reformprozess aussehen könnte: „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren. Es kann dies natürlich zunächst nur geschehen vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind.

Diese Maßregeln werden natürlich je nach den verschiedenen Ländern verschieden sein. Für die fortgeschrittensten Länder werden jedoch die folgenden ziemlich allgemein in Anwendung kommen können:

1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben.
2. Starke Progressivsteuer.
3. Abschaffung des Erbrechts.
4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen.
5. Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol.
6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats.
7. Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung aller Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan.
8. Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau.
9. Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land.
10. Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder. Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw.

Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter. Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern. Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf.“

Bemerkenswert ist hier einmal, dass nirgends davon gesprochen wird, dass das Privateigentum sofort in Gänze enteignet werden soll. Marx erwähnt hier nur die Enteignung von “Emigranten und Rebellen“, des Grundeigentums sowie jener Bereiche, die als gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen entscheidend sind: Verkehr, Steuern, Kredit, Erbrecht. Heute kämen sicher noch Großbanken, Großkonzerne, das Kommunikationswesen, die Forschung und der Energiesektor hinzu. Bemerkenswert ist weiter, dass nirgends von einer Staatswirtschaft die Rede ist. Marx spricht vom Staat als dem “als herrschende Klasse organisierten Proletariat“. Die Produktion soll „in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert“ sein. Hätte er einen „separaten“ Staatsapparat, eine Staatswirtschaft oder ein Staatseigentum gemeint, hätte er das auch gesagt. Selbst beim Transportwesen, das „in den Händen des Staats“ liegen soll, ist zu bedenken, dass es sich hier nicht um einen Bereich der materiellen Produktion handelt, sondern um ein Service-Unternehmen, das – schon aufgrund seiner technischen Spezifik – eine Zentralisierung erfordert.

Die Frage, wie oder wie schnell das Kapital enteignet werden kann oder soll, ist nur scheinbar eine  rhetorische oder formale. Dahinter verbirgt sich vielmehr das Problem, dass der bürgerliche wirtschaftliche Mechanismus nur insoweit zerstört, ersetzt, verändert oder überwunden werden kann, wie das Proletariat in der Lage ist, einen anderen Mechanismen an dessen Stelle zu etablieren.

In „Grundsätze des Kommunismus“ schrieb Friedrich Engels dazu: Die „Revolution des Proletariats wird also nur allmählich die jetzige Gesellschaft umgestalten und erst dann das Privateigentum abschaffen können, wenn die dazu nötige Masse von Produktionsmitteln geschaffen ist.“ Und weiter: „Alle diese Maßregeln (der ökonomischen Umgestaltung, d.A.) können natürlich nicht mit einem Male durchgeführt werden.“

Wie wir sehen, gingen Marx und Engels keineswegs davon aus, dass das Privateigentum schnell, quasi auf einen Schlag enteignet werden müsse. Vielmehr betonten sie den prozesshaften Charakter  der Entwicklung und betrachteten die Eigentumsfrage im Zusammenhang mit anderen Produktionsverhältnissen und der gesamten Produktionsweise.

Russische Erfahrungen

Die Bolschewiki verfolgten ab 1917 eine Politik, die stark dadurch gekennzeichnet war, schnell und radikal alles zu zerstören, was „bürgerlich“ war oder schien und an dessen Stelle staatliche Strukturen zu installieren. So wurden z.B. die traditionellen privaten Handelsstrukturen zerstört, doch es gelang nicht, neue Strukturen, die auch nur annähernd funktionierten, zu schaffen. Ähnlich sah es beim Steuerwesen aus. Die Folge waren einerseits die Verschlimmerung des wirtschaftlichen Chaos´ sowie massiver Widerstand etwa von den Bauern. Gerade die Agrarpolitik – erst der Bolschewiki, dann unter Stalin – mit ihrem permanenten Kampf gegen die Mittelbauern untergruben (nachdem schon die Großgüter des Adels enteignet worden waren) die landwirtschaftliche Produktivität und den Output dramatisch. Es zeigte sich, dass für einen schnellen Aufbau eines modernen Agrarsektors sowohl die materiellen Grundlagen als auch die subjektive Reife und Bereitschaft der Bauernschaft fehlten. Immerhin reagierte Lenin ab 1921 auf diese Misere mit der NÖP und der Erweiterung des privatwirtschaftlichen Spielraums v.a. im Agrarbereich richtig, während Stalins späterer Hasardkurs der Zwangskollektivierung so unnötig wie katastrophal war.


Was auf die Eigentumsfrage zutrifft, gilt auch für die Beziehungen und Regularien zwischen den Wirtschaftssubjekten, den Betrieben. Regieren im Kapitalismus das Privatinteresse, der Mark und die Konkurrenz, bestimmt in der proletarischen Ökonomie eine demokratische Planung, welche die Interessen der assoziierten ProduzentInnen und KonsumentInnen formuliert. Es wäre jedoch fatal zu glauben, man könne auf einen Schlag die Marktbeziehungen abschaffen und stattdessen einen Gesamtplan installieren. Genauso ist es beim Geld und der wirtschaftlichen Rechnungsführung. Auch hier können Veränderungen nur schrittweise erfolgen. Der Stalinismus, der in dieser Hinsicht aus dem Bolschewismus unter Lenin hervorging und dessen Strukturen und viele Verfahrensweisen übernahm, ist ein Beispiel dafür, wie eine von der Realität abgehobene Bürokratie und Politikaster-Clique die Wirtschaft bestimmte und mit ihrer voluntaristischen Politik oft mehr Schaden als Nutzen anrichtete. Hier wird deutlich, wozu es führt, wenn die Relation zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen bei der Umgestaltung nicht beachtet wird und diese entlang willkürlicher ideologischer und politischer Prämissen „zurechtgebogen“ wird.

Das Proletariat

Der entscheidende subjektive Faktor in allen sozialen Prozessen in der Übergangsgesellschaft ist natürlich das Proletariat. Die Etablierung dieser oder jener ökonomischen Struktur ist von vielen Bedingungen abhängig, jedoch ist nur das Proletariat jene soziale Kraft, die imstande und bereit ist, die Gesellschaft grundsätzlich umzuwälzen. Gerade Marx wies auf diese besondere Qualität der Arbeiterklasse hin. Insofern geht es in der Übergangsphase v.a. darum, die Arbeiterklasse einerseits dafür zu qualifizieren, ihre neue Subjektrolle in der Gesellschaft wahrnehmen zu können und ihr auch die Möglichkeiten zu geben, diese in der Praxis umzusetzen. Wird diese Subjektwerdung gestört oder behindert, indem anstelle der direkten Verfügung des Proletariats über Wirtschaft und Gesellschaft eine „äußere Gewalt“ an dessen Stelle tritt oder sich dazwischen schiebt, wird die proletarische Umgestaltung be- oder verhindert bzw. sie gerät auf ein Gleis, dass nicht vorwärts zum Kommunismus, sondern zurück zum Kapitalismus – zunächst in der Form des Staatskapitalismus – führt. Ob diese „äußere Gewalt“ nun ein Privatkapitalist, eine Aktiengesellschaft oder eine Bürokratie ist, ist dabei zweitrangig. Deren Herrschaft bedeutet in jedem Fall, dass die ProduzentInnen enteignet, entmachtet, untergeordnet, unterprivilegiert sind.


Um ihre Aufgaben in der Übergangphase lösen zu können, muss die Arbeiterklasse deshalb möglichst schon im Kapitalismus Strukturen proletarischer Ökonomie (Genossenschaften, Selbstverwaltung, Kontrollorgane) schaffen, jedoch sind diese Ansätze quantitativ und qualitativ beschränkt und in eine kapitalistische Gesamtstruktur eingebunden. Jede proletarische Revolution ist davon geprägt, dass die Massen sich ihre Räte-Strukturen schaffen und beginnen, die Geschicke der Gesellschaft in die eigenen Hände zu nehmen. Sobald aber bürokratische Apparate entstehen oder die Partei sich von einer Helferin, Führerin, Initiatorin in einen Oberaufseher verwandelt, kann die Arbeiterklasse ihre Potenzen nicht ausspielen. Genau das ist in Sowjetrussland passiert.

Die Frage der Produktionsweise

Die Bourgeoisie konnte schon in der Feudalgesellschaft Elemente ihrer kapitalistischen Produktion  etablieren. Doch auch sie konnte nicht umfänglich eine ihr angemessene Produktionsweise schaffen, diese konnte erst mit der bürgerlichen Revolution durchgesetzt werden. Da die proletarische Produktionsweise noch viel weniger als die bürgerliche sich „automatisch“ und „hinter dem Rücken der Akteure“ durchsetzen kann, sondern nur als bewusster Akt der Arbeiterklasse und ihrer räte-demokratischen Organe möglich ist, kommt der Frage des Entwicklungsniveaus der Klasse und ihrer Vorhut besondere, ja überragende Bedeutung zu. In dieser Hinsicht wirkte sich verheerend aus, dass die II. Internationale wie auch Lenin, der in wirtschaftspolitischer Hinsicht an deren Vorstellungen anknüpfte, über keine bzw. eine falsche Konzeption und nur wenig Problembewusstsein verfügten und das Proletariat und seine Vorhut daher konzeptionell unbewaffnet oder sogar mit fehlerhaften Ideen ausgerüstet war. So musste es dazu kommen, dass in Sowjetrussland (und danach im Stalinismus) ein Wirtschaftssystem installiert wurde, das sich nicht nur langfristig dem westlichen Kapitalismus unterlegen erwies, sondern auch völlig ungeeignet war, um sich in Richtung Kommunismus zu entwickeln. Da schon die Bolschewiki und umso mehr dann Stalin die Selbstorganisation der Arbeiterklasse und die Demokratie unterschätzten bzw. einschränkten, gab es auch kaum demokratische Möglichkeiten für die Massen, zu diskutieren, Fehler zu erkennen und zu korrigieren.


In Sowjetrussland zeigte sich auch, dass das Proletariat mitunter damit überfordert war, Ökonomie und Gesellschaft zu organisieren, weil ihm im Zarismus nahezu jede Möglichkeit verwehrt war, an der Gestaltung sozialer Prozesse teilzuhaben. Den Massen fehlten daher oft entsprechende Erfahrungen und Fähigkeiten. Sie hätten daher auf die bürgerlichen Mittelschichten, auf die Techniker und Spezialisten zurückgreifen müssen. Oft taten sie das auch, oft aber war auch das Gegenteil der Fall. Immerhin wurde das von den Bolschewiki aber zu Lenins Zeit noch diskutiert. Doch es ging nicht nur um das Verhältnis zu bestimmten sozialen Milieus, sondern v.a. um das Verhältnis zu bestimmten Strukturen. Und dort zeigte sich ein starke Tendenz der Bolschewiki zur „Maschinenstürmerei“, zur bloßen Zerstörung von Strukturen, anstatt um deren Veränderung und Einbindung in einen neuen Mechanismus, der selbst erst nach und nach geschaffen werden kann.

Vollends desaströs war der bolschewistische – und später von Stalin noch weiter zugespitzte – Hang zur Etablierung eines bürokratischen, immer weniger von rätedemokratischen Prinzipien geprägten und mit der Basis verbundenen Staatsapparats, der die Privatstrukturen, aber eben auch die Selbstverwaltungs- und Kollektivstrukturen der ArbeiterInnen ersetzte. Diese Entmachtung und Enteignung des Proletariats und der Massen beraubte die Gesellschaft des Subjekts der Wirtschaft. An deren Stelle herrschte schließlich die Bürokratie, die sich bis Ende der 1920er Jahre zu einer neuen herrschenden Klasse mauserte und eine neue spezifische Produktionsweise befehligte: den Staatskapitalismus. Das war genau das Wirtschafts-Modell, für das auch Lenin immer wieder plädiert hatte – allerdings wollte Lenin einen Staat, in dem die Arbeiterklasse das Sagen hatte und nicht eine abgehobene Bürokratie. Doch führte gerade Lenins Modell der Staatswirtschaft dazu, dass der Einfluss der ProduzentInnen zugunsten der Bürokratie zurückging und zurückgehen musste und jene Strukturen entstanden bzw. sich ausweiteten, in denen sich die Bürokratie breit machte.

Im „Kapital“ betont Marx: „Die Freiheit (…) kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden“. (MEW 23, S.92)

Es mutet daher fast prophetisch an, wenn Marx immer wieder betonte, dass die Durchsetzung der Demokratie – einer Räte-Demokratie vom Typ der Commune, wie er später konkretisierte -, das erste und grundlegende Ergebnis der revolutionären Machtergreifung sein muss.


Samstag, 22. August 2020

GRÜSSE AN DIE FRIEDENSTAUBE


DER MOLOCH AM PRANGER

Unter diesem Titel veröffentlichte der Autor Harry Popow, Jahrgang 1936, ein neues Buch, dem er aus aktuellen Erwägungen den Untertitel „Kleine weiße Friedenstaube, komm recht bald zurück!“ hinzufügte.

Mitautoren wie ALEX, Lotti , Judith sowie User signalisierten per Mail ihre ersten Eindrücke von diesem hochaktuellen gesellschaftskritischen politischen Sachbuch.


USER-ECHO

Das Aktuellste zuerst:

22.08.2020 - Epimetheus: Also Harry, ich hab mir dein Buch jetzt bei Amazon bestellen müssen, weil es bei kadegu.de nicht zu kriegen war. Liegt wahrscheinlich am Selbstverlag. Immerhin hat der Buchauszug bei Amazon mich so neugierig gemacht, dass ich es lesen will. Eigentlich bin ich an politischer Literatur nicht mehr so sehr interessiert. Den Teltschik hab ich erst Anfang diesen Jahres nach der Hälfte in die Ecke gefeuert.
Ich möchte es vor allem deshalb lesen, weil es die Sichtweise eines ehemaligen Bürgers der DDR widergibt. Von denen kenne ich nicht viele. Leider.  Dem Buchauszug konnte ich schon antikapitalistische Ideen entnehmen. Ich hoffe nur, dass die kleine weiße Friedenstaube, gemäß dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, nicht im Sinkflug daherkommt.

Beste Grüße, Michael

PS: Check das mal mit dem "Kaufhaus des Guten" (kadegu.de). Wäre schön, wenn das Buch auch dort zu beziehen ist.

07.06.2020 - ALEX:
Lieber Harry, zum Buch: Ich sauge Seite um Seite in mich hinein. Du darfst versichert sein,  ich  bewundere Dich. Es ist umwerfend, was Du bewältigst. Die Klarheit der Gedanken. Die Fülle der zu lesenden und zu beschreibenden Bücher, Briefe, Themen. Ich richte mich daran immer wieder auf und bin so dankbar, Dich kennengelernt zu haben und dass ich Dein Freund sein darf.

26.06.2020 - Judith:
Dein Buch ist angekommen und ich danke Dir herzlich auch für die schöne Widmung. Optisch schon ist es gut gelungen und der Text auf dem hinteren Umschlag trifft ins Herz. Ich werde das Buch mit großem Interesse lesen und kann Dich nur immer wieder bewundern, wie und was Du noch so schaffst. Das ganze verruchte System nimmt schon wieder Fahrt auf und ich hatte gehofft,dass mehr Lehren aus dem Warnsignal Pandemie gezogen werden. Wo große Probleme auftauchen wie z.B. Schlachthöfe, die wir ja schon lange kennen, wird eine "Schönheitsreparatur" gemacht und dann geht es weiter. Im Moment werden die Milliarden nur so verteilt und wie endet das? Eine Inflation?? Ich weiß es nicht, nur dass der Raubkapitalismus uns ins Verderben bringt und Systemveränderungen überhaupt nicht zur Debatte stehen. Es macht mich einfach traurig.

29.06.2020 – User Lotti:
Hallo Harry! Da hast Du mir eine große Freude gemacht, habe mich gestern früh gleich einmal über den Moloch gestürzt, und mit viel Freude quer gelesen. Dabei möchte ich mich meiner großen Tochter anschließen, die schon bei ihrer Lektüre der Eiszeitblüten feststellte, dass das Buch unbedingt von vielen Menschen gelesen werden müsste. So geht es mir  auch jetzt wieder bei diesem Buch. Um einen kleinen Beitrag in dieser Richtung zu leisten, werde ich dieses Buch an einen Bekannten schicken. Spaß hat es mir gemacht, die Meinung von Alex und Hanna zu Ergüssen von mir zu lesen, daran ist zu erkennen, das Buch lebt! Du hast das Buch sehr gut aufgebaut nicht nur im Inhalt, sondern in der Form locker und leicht zugängig. Dein verlegerisches Können ist auch gewachsen. Zum Inhalt in der nächsten Zeit mehr.

8.8.2020 – User Lotti:
Nun lese ich im "Moloch", mit viel Freude und Interesse. Es ist ein Kaleidoskop progressiver Ansichten erfahrener Zeitgenossen im Bezug auf gesellschaftliche Ereignisse, Mitmenschen und bedrohlichem, überbordendem Kapitalismus. Die verschiedensten Sichtweisen der Schreiber und gleichzeitig auch in den verschiedensten Daseinsweisen Akteure und die Auseinandersetzungen, machen es so interessant und spannend.

27.07.2020 – Hanna:
Den "Moloch" habe ich jetzt ausgelesen, und ich bin erstaunt und begeistert über die kluge Auswahl, die du getroffen hast. Tja, Harry, dann mach's mal gut. Ich sehe ab und zu in Deinen Blog rein, schreiben werde ich aber nichts, weil es über Google geht, und du kennst meine Vorbehalte gegen die Marke.
Dann alles Gute und halt dich aufrecht. Hanna


Harry Popow: „DER MOLOCH AM PRANGER“, epubli-Verlag, 323 Seiten:


Beschreibung

Das von Harry Popow vorgelegte Werk nennt sich nicht ohne Grund „DER MOLOCH AM PRANGER“. Ein Titel, der vor allem an jene Generation erinnert, die nach der Befreiung vom Faschismus mit viel Mühe aus den Trümmern an materiellen Werten und denen in den Köpfen versucht haben, zunächst mit viel Erfolg, einen neuen Staat zu errichten, dem als wichtigstes Anliegen nicht nur die Entmachtung der einst herrschenden Geldeliten, die Beerdigung sämtlicher Kriegsgelüste als geschichtliche Notwendigkeit oblag, sondern vor allem dem friedlichen Aufbau sowie dem militärischen Schutz der DDR. Gefragt war das aktive Mittun. Die 322 Seiten - Lektüre enthält Erfahrungen und Bekenntnisse von Usern und Autoren, die insbesondere zur Zeit der aktuell tobenden Corona-Pandemie erneut stark ins Blickfeld gekommen ist: Dem Widerstand gegen wieder aufkommendes Unheil. Wie geht der Kapitalismus mit den Menschen um? Mit seiner Gesundheit? Mit seinem Drang nach Frieden und sozialer Gerechtigkeit? Mit dem Klima? Mit dem einzigartigen Planeten Erde?



Freitag, 21. August 2020

Vorkriegskrise - Arnold Schölzel

 

Entnommen: https://www.jungewelt.de/artikel/384743.eigene-hand.html


Kommentar



Eigene Hand


Belarus und deutsche Außenpolitik


Von Arnold Schölzel


EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch: Mehr als 50 Millionen Euro für die Nichteinmischung in Belarus
So sieht es also aus, wenn »wir unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen müssen« (Angela Merkel 2017). Das heißt ja: Washington lässt »uns« etwas von der Leine. Entsprechend sieht es dort, wo die eigene Hand waltet, aus: Krieg, Chaos, Instabilität, Nationalisten und Faschisten auf dem Vormarsch und wirtschaftlich ein einziger Reibach fürs Kapital. Man nennt das Imperialismus.

Ergebnisse: Die Balten sind zumindest fast wieder »unser«, nachdem sie schon dabei waren, US-Exklave zu werden. Litauen und Polen erfüllen ihre Pflicht, »westliche Werte« in Belarus einzuführen, wobei von Wahlen geredet wird, nicht von Privatisierungen. Die sind aber der Opposition dort und Banken hier besonders wichtig.

Auch außerhalb des eigenen Hinterhofs sind »wir« wieder wer, schaut auf den Außenminister: Macht in Moskau auf dicke Hose und droht mit neuen »Reaktionen«. Das mörderische Regime im Libanon hat sich selbst weggesprengt, »wir« besorgen, dass sich nichts ändert. Außerdem ist der Regime-Change im Nachbarland Syrien noch nicht vollzogen, obwohl die Bundesluftwaffe seit Jahren dort illegal fliegt. Und fegt in Mali ein Volksaufstand eine Marionette Macrons und Merkels weg, dann sind »wir« nicht amüsiert. Mit echten Aufständen konnten »wir« noch nie etwas anfangen. Die Malier sind einfach zu weit gegangen.

Da ist Belarus anders. Dort wurden »wir« gefragt und sagen daher: Die Wahlen sind ungültig. Und: Das ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten. Die einmischende Nichteinmischung finanziert Frau von der Leyen gleich noch mit mehr als 50 Millionen Euro.

Die Herrschaften haben also Appetit bekommen, zögern aber, weil sie sich an Belarus die Finger verbrennen können. Doch, das wiegt schwerer, der Osten lohnt sich einfach – zum Enteignen. Das fing 1990 mit dem Verschlucken der DDR gut an. Es brachte den größten und schnellsten Wohlstandsschub für Westdeutschland seit 1945. Und auch sonst ist es ein guter Schnitt. Der polnische Ministerpräsident rechnete gelegentlich der EU-Budget-Beratungen im Februar in der Welt vor: »Jeder Euro, der für Kohäsionspolitik in den Ländern der Visegrad-Gruppe, also in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, ausgegeben wurde, brachte Österreich 3,31 Euro, Deutschland 1,50 Euro und den Niederlanden 1,45 Euro.« Deutscher Wohlstand kommt nicht von allein, da müssen Hunderte Milliarden Euro Jahr für Jahr abgesogen werden. Die Ukraine wurde so in sechs Jahren zu einer Industriewüste, dasselbe droht nun Belarus. Mit NATO-Waffen ist die Region bereits vollgestopft, deutsche Soldaten sind vor Ort – es ist fast wie in »unseren« Kolonien Afghanistan, Kosovo oder Mali. Könnte ja sein, auch in Osteuropa bricht ein echter Aufstand aus. Diese Krise findet jedenfalls an einem Pulverfass, das die NATO gefüllt hat, statt. Es ist eine Vorkriegskrise.



Donnerstag, 20. August 2020

Hände weg von Belarus! - DKP-Parteivorstand

Entnommen: https://linkezeitung.de/2020/08/20/haende-weg-von-belarus/


Hände weg von Belarus!


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 20. AUGUST 2020



Erklärung des DKP-Parteivorstandes

Am 9. August haben in der Republik Belarus Wahlen stattgefunden, die der langjährige Präsident Alexander Lukaschenko, nach Angaben der Wahlkommission, gewonnen hat. Die Opposition hatte bereits vor den Wahlen verkündet, dass sie ein solches Ergebnis nicht anerkennen würde, und erklärte ihre Kandidatin Swetlana Tichanowskaja zur Siegerin. Seitdem gibt es teilweise gewaltsame Proteste, mit mindestens einem Toten bei den Demonstranten und Verletzten auf beiden Seiten sowie Verhaftungen. In etlichen Betrieben wird auch gestreikt.

Ohne jegliche Vorlage von Beweisen haben USA und EU die Ergebnisse der Wahlen nicht anerkannt und unterstützen die Opposition. Das gilt auch für die Bundesregierung und für alle Parteien im Bundestag. Sofort wurden Sanktionen gefordert.

Vorausgegangen ist dem eine jahrelange Kampagne von USA, NATO und EU gegen Belarus. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Sollte es gelingen Belarus zu destabilisieren und in das Einflussgebiet der NATO zu bekommen, wäre dieses Kriegsbündnis seinem Ziel, der vollständigen Einkreisung der Russischen Föderation, ein großes Stück näher gekommen. Hinzu kommt, das Belarus die einzige ehemalige Sowjetrepublik ist, in der ein großer Teil der Produktion in staatlicher Hand geblieben ist, soziale Errungenschaften zumindest teilweise erhalten blieben.

Die vom Westen unterstützte Opposition unter Führung von Tichanowskaja dagegen fordert die Privatisierung eines großen Teils der staatlichen Betriebe, die von ausländischen Investoren übernommen werden sollen. Grund und Boden sollen zur Ware gemacht werden, Wohnungen privatisiert, Marktnormen und Standards der EU übernommen werden. Kürzungen und Privatisierungen im Gesundheitswesen sind geplant, die Liste der kostenlosen Behandlungen soll stark eingeschränkt werden. Die üblichen Forderungen des IWF werden in vorauseilendem Gehorsam geplant.

Dies alles lässt sich in Veröffentlichungen der Opposition nachlesen. Es droht ein Szenario wie 2013/14 in der Ukraine mit allen dort zu beobachtenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgen. Dazu gehört auch der Nationalismus – die weiß-rot-weißen Fahnen der Demonstranten in Belarus waren 1943 bis 1945 die Farben der Kollaborateure mit der faschistischen Wehrmacht.

Sicherlich beteiligen sich viele Bürgerinnen und Bürger von Belarus, die gegen Probleme und Missstände in Land vorgehen wollen, an den Protesten. Vielen von ihnen geht es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um das oben skizzierte Programm der Opposition. Sie wollen keinen zweiten Maidan und keine Erweiterung des Einflusses von NATO und EU um Belarus. Für sie wird sich niemand mehr interessieren, wenn die vom Imperialismus unterstützte Opposition mit ihrer Strategie Erfolg haben sollte.

Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Republik Belarus und die aggressive Einkreisung der Russischen Föderation erhöhen die Kriegsgefahr gewaltig. Wir sagen: Hände weg von Belarus!

Wir fordern von der Bundesregierung:

*Anerkennung der Souveränität der Republik Belarus!
*Keine weitere Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Republik Belarus!
*Keine Sanktionen und keinen hybriden Krieg gegen Belarus – das belorussische Volk muss selbst über seinen Weg entscheiden können!



Dienstag, 18. August 2020

Martialisches Erinnern - Arn Strohmeyer

 

Entnommen: https://www.jungewelt.de/artikel/384490.kriegsspiele-w%C3%A4hrend-pandemie-premiere.html

Kampfjets der israelischen Luftwaffe sind am Montag erstmals in der BRD gelandet. In den nächsten zwei Wochen nehmen die sechs Maschinen vom Typ »F-16« (Foto) an den Kriegsübungen »Blue Wings 2020« und »Magdays« teil. Dies teilten die deutschen Streitkräfte am Montag auf Twitter mit. Zum Gedenken an das Olympia-Attentat von 1972 soll eine deutsch-israelische Formation am Dienstag den bayerischen Fliegerhorst Fürstenfeldbruck überfliegen. Im Anschluss werde die deutsch-israelische Delegation in der KZ-Gedenkstätte Dachau einen Kranz niederlegen. (dpa/jW)


Soweit die Meldung, entnommen aus der jW vom 18.08.2020


Arn Strohmeyer kommentiert:


Martialisches Erinnern


Kampfjets der Bundeswehr und Israels betreiben gemeinsam „Holocaust-Gedenken“ am Himmel über Deutschland

In jedem Jahr am Holocaustgedenktag (27. Januar) donnern israelische Kampfjets über das frühere Vernichtungslager Auschwitz, während israelische Schulkinder unten zwischen den Baracken Fahnen mit dem Davidstern schwenken und Treuschwüre für ihren Staat ablegen. Was dort im ehemaligen KZ alljährlich stattfindet – ein emotionsgeladenes und symbolträchtiges Ritual – hat der israelische Historiker und Holocaustforscher Saul Friedländer als „Vereinigung von Kitsch und Tod“ bezeichnet. Und sein israelischer Kolle Tom Segev ergänzt: „Diese Veranstaltungen verströmen statt Offenheit und Menschenliebe Isolationismus bis hin zur Fremdenfeindlichkeit.“

Ein solches martialisches Militär-Schauspiel wird nun auch im Himmel über Deutschland stattfinden. Kampfjets der Bundeswehr und Israels werden über Fürstenfeldbruck im Gedenken an die Opfer des Olympiamassakers 1972 und über das ehemalige Konzentrationslager Dachau donnern, während unten am Boden Kränze niedergelegt und auch israelische Fahnen geschwenkt werden. Das Ganze soll – so der deutsche Luftwaffenkommandeur Ingo Gerhartz – ein bewegendes Zeichen unserer Freundschaft und ein Beitrag zum Kampf gegen den Antisemitismus sein.

Diese Worte und das geplante militärische Schauspiel am Himmel belegen die ganze Fragwürdigkeit des deutsch-israelischen Verhältnisses. Man kann grundsätzlich aus guten Gründen gegen solche militärischen Demonstrationen sein, die dem Frieden eher abträglich sind, in diesem Fall kommt aber etwas Besonderes hinzu: Wie kann es ein gemeinsame Auftreten der Bundeswehr mit der Armee eines Staates geben, der seit Jahrzehnten ein brutales Besatzungsregime über vier Millionen Palästinenser in den besetzten Gebieten aufrechterhält und die Palästinenser im Kernstaat als Menschen zweiter oder dritter Klasse in schlimmer Weise diskriminiert? Anders gesagt: Mit dem Staat Israel gibt es keine gemeinsamen Werte, die einen Auftritt beider Armeen rechtfertigen können, denn Israel ist ein Staat der Okkupation und Repression – und seine Armee ist das ausführende Organ dieser völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Politik.

Der israelische Sozialwissenschaftler und Philosoph Moshe Zuckermann hat diesen Sachverhalt schon vor Jahren deutlich gemacht und auch eine Beziehung zum Holocaust hergestellt: „Das jüdische Kollektiv im Staat Israel ist es, welches der Konfrontation mit der entsetzlichen Wahrheit nicht entkommen kann, dass jede ‚Abnormität‘ im Gazastreifen, jedes Opfer eines ‚Schusses in die Luft‘ in der Westbank, jeder Akt brutaler Repression, der sich direkt oder indirekt aus dem Tatbestand der israelischen Okkupation ableitet, es – das jüdische Kollektiv in Israel – von der sittlich-humanen, ihm von den Holocaust-Opfern als verpflichtendes Erbe auferlegten Identität entfernt, um es in zunehmenden Maße an eine der Mörder-Identität verschwisterten Mentalität zu ketten. Es irrt, wer den Spruch ‚Meine Vernunft ist in Auschwitz verbrannt‘ zur Rechtfertigung einer jeden Untat des israelischen Staates heranzieht: Nicht seine Vernunft, sondern seine Sittlichkeit ist dort verbrannt.“

Diese Sätze Zuckermanns werfen grundsätzliche Frage nach dem dem Holocaust angemessenen Erinnern auf. Es ist kein Geheimnis, dass Israel dieses Mega-Verbrechen für seine politischen, wirtschaftlichen und militärischen instrumentalisiert, was eine Verflachung, Banalisierung und Ideologisierung des Gedenkens an dieses Verbrechen und seine Opfer zur Folge hat. Das ritualisierte Andenken geht heute so weit, dass es auch die neuen Opfer, die Israels Politik permanent produziert, rechtfertigen muss. Die israelischen Kampfjets, die jetzt am deutschen Himmel „Gedenken“ zelebrieren, haben vermutlich gestern oder vorgestern noch ihre mörderische Last über dem eingeschlossenen Gazastreifen abgeworfen. Werden sich demnächst deutsche Kampfjets – natürlich auch im Namen des Holocaust – an diesem tödlichen Spiel über dem Himmel von Gaza beteiligen?

Die Lehre von Auschwitz kann nur eine universalistische sein: Nie wieder Krieg, nie wieder Lager, nie wieder Repression, Besatzung und Diskriminierung. Eine Politik des Gedenkens in diesem Sinne braucht keine martialischen militärischen Beweise von Kraft und Stärke am Himmel oder auf dem Boden. Die Opfer des Massenmords würden – wenn sie sich denn äußern könnten – mit Ekel und Abscheu von solchem Gehabe auf Distanz gehen.

14.08.2020


Sonntag, 16. August 2020

BELARUS: Putschversuche - Rainer Rupp

 Entnommen: https://www.freidenker.org/?p=3985


Weißrussland im Griff einer Farbenrevolution?

Ein Kommentar von Rainer Rupp.

In den letzten Tagen ist Belarus zum Schauplatz eines neuen Regimewechsels auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR geworden. Versucht hier ein Volk, sich eines Tyrannen zu entledigen? Oder wird hier von mächtigen Kräften im Westen ein weiter „Maidan“ angerührt, bei dem, wie 2014 in der Ukraine, nationalistische Extremisten und Faschisten mit aktiver Unterstützung westlicher Regierungen, vor allem in Washington und Berlin, in einem blutigen Putsch den rechtmäßig gewählten Präsidenten verjagt und bis heute de facto die Macht im Land halten.

Vieles spricht in der Tat dafür, dass es bei den Unruhen in der weißrussischen Hauptstadt Minsk nicht vorrangig um Menschenrechte und Meinungsfreiheit geht, wofür die meist jugendlichen Demonstranten auf die Straßen gehen. Tatsächlich scheint es den eigentlichen Strippenziehern im Westen um den Gewinn eines weiteren geopolitischen und geostrategischen Vorteils gegen Russland zu gehen, wofür sie die jungen Demonstranten, die zu zehntausenden mobilisiert wurden, bei den Unruhen als nützliche Idioten verheizen.

Weißrussland ist nämlich ein osteuropäischer Staat und hat gemeinsame Grenzen mit Polen, der Ukraine, Litauen, Lettland und eine besonders lange Grenze mit Russland. Vom russisch-weißrussischen Grenzübergang bei Buda sind es über die E30 Autobahn nur noch 465 Km bis nach Moskau. Das weißrussische Militär, vor allem die Flugabwehr gegen die NATO ist fest mit der russischen Verteidigung integriert. Allein das macht einen erfolgreichen Umsturz in Minsk in den Augen der westlichen Kriegstreiber besonders attraktiv.

Bereits bei den vergangen Präsidentschaftswahlen hatte es jedes Mal entsprechende Versuche gegeben, eine Farbenrevolution in Gang zu bringen, aber in der Vergangenheit hatte der Funken nicht gezündet, denn die Weißrussen hatten die abschreckenden Beispiele aus der Ukraine vor Augen, zuerst die Folgen der so genannten „Orange-Revolution“ und dann des Maidan.  Außerdem ging es dem Gros der Weißrussen auch in den kleinen Dörfern den Umständen entsprechend gut. Die jahrelangen erbärmlichen Zustände, welche die Russen in den Jahren der Herrschaft des vom Westen so geliebten GROSSEN Demokraten Boris Jelzin zumindest durch vegetieren mussten, blieben den Weißrussen unter ihrem Präsidenten Lukaschenko erspart.

Von 2008 bis 2013 bereiste der Autor dieser Zeilen mehrere Male Weißrussland kreuz und quer. Es herrschte kein Überfluss, aber auch kein Hunger, alle hatten Arbeit oder konnten studieren und alle hatten ein Dach überm Kopf. Selbst die kleinsten Dörfer bestachen durch Schönheit, Sauberkeit und Ordnung. Allerdings gab es auch damals schon Unmut und Unzufriedenheit. Die Menschen sehnten sich jedoch kaum nach dem goldenen Westen. Mir wurde öfters erzählt, wenn Putin auch in Weißrussland bei der Präsidentschaftswahl antreten könnte, dann hätte Lukaschenko keine Chance mehr. Leben wie in Russland war das Vorbild und nicht der Westen. Nur an den Universitäten gab es immer wieder junge Leute, die sich vom Westen die Erfüllung all ihrer unerfüllbaren Wünsche versprachen.
Seither ist viel Zeit ins Land gegangen. Selbst Medien, die Weißrussland freundlich gesinnt sind, berichten von einer allgemeinen und weit verbreiteten Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung, wegen Inkompetenz und oder Korruption. Auch seien die politischen Eliten – vertreten durch den seit sechs Wahlperioden amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko – und die staatlichen Institutionen und Abläufe stark verkrustet.

Lukaschenko ist ehemaliger kollektiver Betriebsdirektor und hat nie eine Wirtschaftsreform zugelassen. Nahezu alle Vermögenswerte des Landes befinden sich im Staatsbesitz. Das Land ist eine Zeitkapsel aus Zeiten der Sowjetunion von vor 30 Jahren. Lukaschenkos Widerstand gegen die Privatisierung beruht weitgehend auf dem Wunsch, russischen Oligarchen den Zugriff auf die Industrie und Landwirtschaft des Landes zu versperren. Belarus ist allerdings der vom Kreml ins Leben gerufenen Europäisch-Asiatischen Wirtschaftsunion beigetreten und  zudem weitgehend in die russische Wirtschaft integriert.

Das Land ist besonders stark von russischer Energie abhängig, da Belarus über keine eigenen Kohlenwasserstoffressourcen verfügt. Bei der Zusammenarbeit der zentral geplanten Volkswirtschaft Weißrusslands mit der gesteuerten Marktwirtschaft Russlands kommt es natürlich immer wieder zu Ineffizienzen, was auch in der Bevölkerung für Unmut sorgt. Aber inmitten der Corona-Angst, die auch die weißrussische Bevölkerung ergriffen hat, zeigt sich, dass trotz allen Ärgers über den regierenden Lukaschenko, die Mehrheit der Bevölkerung nicht mitten in der Wirtschafts- und Gesundheitskrise auch noch die Regierung auswechseln wollte.

Dennoch befindet sich Weißrussland mitten in einem groß angelegten Versuch, mit Hilfe einer Farbenrevolution den Regimewechsel in Minsk durchzusetzen und das Land auf einen ungewollten Westkurs zu zwingen.


Für alle, die mit dem Begriff „Farbrevolution“ nicht viel anfangen können sei gesagt, dass es sich dabei um eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Psychologie beruhende, standardisierte Technik handelt, um in einem für den Umsturz vorgesehen Staat unzufriedene gesellschaftliche Gruppen mit ansprechenden Themen und Versprechungen von westlichem Konsum und grenzenloser Freiheit zu gewinnen. Zudem die Menschen bis zur rabiaten Gewaltanwendung gegen die Ordnungskräfte der jeweiligen Diktatur zu radikalisieren, das gesellschaftliche und politische Chaos im Zielland auf die Spitze zu treiben und letztlich den pro-westlichen „Regimewechsel“ durchsetzen.

Diesen Umsturztechniken zugrunde liegen die Werke des 1929 geborenen US-Sozialwissenschaftlers Prof. Dr. Gene Sharp, der in seinen jungen Jahren als Anti-Militarist wegen Wehrdienstverweigerung zwei Jahre im US-Militärgefängnis saß und damals sogar von Albert Einstein unterstützt wurde. In seinen Studien entwickelte er, unter anderem unter Berufung auf die Erfolge von Mahatma Ghandis friedlicher Revolution zur Befreiung Indiens vom Joch des britischen Kolonialismus, etliche Bücher über Umstürze durch gewaltlosen Widerstand. Die Krönung seiner Arbeit bestand jedoch in dem 1993 veröffentlichten Buch „From dictatorship to democracy: A conceptual framework for liberation“, das in deutscher Übersetzung folgenden Titel trägt: „Von der Diktatur zur Demokratie: Ein Leitfaden für die Befreiung.”

Dieses letzte Werk und die Anwendung der darin enthaltenen Anweisungen unterscheidet sich gewaltig von seinen früheren, noch von linkem Pazifismus und Idealismus geprägten Denken. Denn in der Zwischenzeit hatten die professionellen „Regimechange Agenturen“ der US-Oligarchie in Washington und ihre zuarbeitenden Vasallen in der selbsterklärten „westlichen Wertegesellschaft“ sich längst die Techniken von Gene Sharp angeeignet und mit den modernsten Erkenntnissen der Konsum-, Marketing- und Massenpsychologie angereichert.

Dabei aber sorgfältig darauf geachtet, dass der populäre linke Flair von der Befreiung der Massen von der parasitischen Diktatur erhalten blieb, denn die darin enthaltenen progressiven, gesellschaftlichen Versprechen garantierten den Zugang zu den Köpfen der jungen Generation, egal welcher Staat gerade auf der Abschussliste der Strippenzieher in Washington stand.

Die Verantwortung zur Vorbereitung der Umstürze lag stets bei den US-Regierungsbehörden, wie dem Außenministerium oder dem Geheimdienst CIA, die dann – kombiniert mit privater Finanzierung und unter vorgeblicher Federführung von „humanitären“ NGOs, also Nichtregierungsorganisationen mit der Mobilisierung der Zielgruppen und der Destabilisierung des Zielstaates die anvisierte „Farbrevolution“ begannen. Der zigfache Multimilliardär, Börsenspekulant und angebliche humanitäre Wohltäter George Soros und dessen „Open Society“ NGO sind dafür ein weit bekanntes Beispiel.

Heute geht es darum, die unzufriedenen jungen Leute nicht mit zu viel politischer Theorie zu verwirren oder zu langweilen, sondern die angehenden Revolutionäre mit Popkultur zu motivieren, indem sie eingängige, inhaltsfreie Slogans, Logos und Teamfarben verwenden.

Die bekannteste US-Organisation dieser Art ist das „National Endowment for Democracy“ (NED), eine merkwürdige Einrichtung, die von der US-Regierung über die als „humanitäre Hilfsorganisation“ firmierende USAID, sowie durch Spenden von großen privaten Stiftungen neoliberaler Eliten kofinanziert wird. Die NED hat zwei Unterorganisationen, die die Mittel an verschiedene Regime Change-Projekte verteilen: eines ist das „International Republican Institute“, das der Republikanischen Partei angeschlossen ist und das andere ist das „National Democratic Institute for International Affairs“, welches bei der Demokratischen Partei angebunden ist. Beide Organisationen führen mit leichten Abweichungen in den Nuancen die gleiche Tätigkeit durch. Denn Demokraten und Republikaner sind lediglich die rechte oder linke Hand der Einheitspartei des US-Großkapitals, weshalb es in den USA in Bezug auf Außenpolitik viel mehr Überparteilichkeit gibt, als man sich hier in Europa gemeinhin vorstellt.

In den letzten Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Weißrussland am 9. August und den anschließenden Tagen ist es immer deutlicher geworden, dass das weißrussische Territorium der ehemaligen UdSSR erneut zum Schauplatz eines Regimewechsel Versuchs geworden ist. Diesmal allerdings war die direkte Einmischung des westlichen Un-Wertewesten – von Washington über Berlin bis zur EU in Brüssel – in die Wahl des souveränen Staates Weißrussland viel intensiver und stärker durchorganisiert als bei allen ähnlichen Versuchen im Land über die letzten zwanzig Jahre.

Bereits in den Monaten vor der Wahl hatten die Aktivitäten der vom Westen geförderten, so genannten „Oppositionskräfte“ dramatisch zugenommen. In einer breit angelegte Kampagne hatten diese fake „Oppositionskräfte“ die internationalen und lokalen Medien dazu ausgenutzt, um die im Land bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme sowie die allgemeine Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung hochzuspielen und Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen. .
Trotz dieses riesigen Aufwands zeigten die Ergebnisse der Wahl einen Sieg Lukaschenkos mit 80 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Oppositionskandidatin und Westmarionette Swetlana Tichanowskaja erhielt nur etwa 10 Prozent der Stimmen. Über 4% der Wähler machten ihr Kreuz in der Option „Gegen alle Kandidaten„. Die Wahlbeteiligung lag bei 84,23 %.

Die tatsächlichen Wahlergebnisse spielten jedoch für die so genannte Opposition keine Rolle. Diese folgt nämlich eins zu eins dem Drehbuch der erfolgreichen Farbenrevolutionen. Deshalb hatte sie schon Wochen vor Beginn der Wahl bequemer Weise erklärt, dass ein Sieg Lukaschenkos nur bedeuten könne, dass die Wahlergebnisse gefälscht worden sind. Die westlichen Medien brauchen Ihre Verdächtigungen nur über mehrere Tage 24 Stunden lang zu wiederholen, und schon weiß und glaubt jedes Kind, dass Lukaschenko ein Wahlfälscher ist.

Rationale Argumente, die gegen ein solchen Szenario sprechen, haben in diesem Narrativ keinen Platz. Auch nicht die Tatsache, dass eine künstliche Erhöhung der Stimmen für Lukaschenko um 15 bis 20 Prozent eine massive Massenfälschung während des Wahlprozesses vorausgesetzt hätte. Die Fälschung hätte unter den Augen von vielen Beobachtern unterschiedlicher politischer Zugehörigkeit stattfinden müssen, was kaum unbemerkt hätte bleiben können.

Aber außer der Behauptung der Wahlfälschung haben die so genannten Oppositionellen und ihre finanziellen Förderer keinen Beweis oder Zeugen aus den Wahllokalen vorgezeigt. Beweise spielen hier auch keine Rolle.  Behauptungen genügen. Und selbst wenn wir annehmen würden, dass die pro westliche Opposition in Weißrussland 20 Prozent der Stimmen bekommen hätte, wäre das Ergebnis für sie immer noch ein riesengroßer Misserfolg gewesen, denn Lukaschenko hätte immer noch mit 60% gewonnen.

Dennoch zeigt die Geschichte verschiedener Staatsstreiche rund um die Welt, dass eine konsolidierte und gut koordinierte aggressive Minderheit die Macht im Staat ergreifen kann. Eine solche Situation ereignete sich während des sogenannten „Maidan“-Putsches in der Ukraine im Jahr 2014, als eine aggressive Gruppe radikaler Nationalisten, die von ausländischen Kräften unterstützt wurden, die kopflose Untätigkeit der Janukowitsch-Regierung ausnutzte. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung unterstützte den Putsch und die weitere Gewalt, die sich in der gesamten Ukraine ausdehnte, nicht. Dennoch wurde die schweigende Mehrheit zum Opfer der aggressiven und lautstarken Minderheit.

Bereits Monate vor den Wahlen in Weißrussland war mit westlicher Hilfe ein Netzwerk von Konten in so genannten „Sozialen Medien“ aufgebaut worden, wobei die Betreiber der Seiten in Staaten außerhalb Weißrusslands registriert waren, wie z.B. in Polen und in den baltischen Staaten. Sie alle versuchten mit Unterstützung der Mainstream-Medien, das Bild des totalen Zusammenbruchs der Regierung in Minsk zu zeichnen. Weiter verbreiteten sie z.B. Anweisungen für Randalierer, persönliche Daten von Polizeibeamten und die Fake News über Lukaschenko, wonach der angeblich aus Weißrussland geflohen sei.

Ein besonderes Thema, das von diesen Medien behandelt wird, ist der Einsatz von Gewalt gegen die angeblich friedlichen Demonstranten. Wieso werden radikale Protestler in Westmedien und in den sozialen Medien als friedliche Demonstranten dargestellt werden, obwohl sie Polizisten provozieren und mit Knüppeln, Pflastersteinen und Holzstangen brutal angreifen und einige von ihnen sogar unter Inkaufnahme von tödlichen Verletzungen mit ihren Privatautos gezielt über den Haufen fahren?

Die pro-Putsch Medien in Minsk und im Westen sind jedoch mit ihren Forderungen nach einem landesweiten Streik ab dem 11. August voll auf die Nase gefallen.
Derweil haben die weißrussischen Strafverfolgungsbehörden laut lokaler Quellen und Beweisen vom Ort bei den Zusammenstößen mit den Farbenrevolutionären hohe Motivation und entschlossenes Handeln gezeigt, um die Ausbreitung des Chaos zu stoppen. Und Präsident Lukaschenko hat, ungeachtet der Kritik an seinen wirtschaftlichen oder politischen Strategien, offenbar die Lehren aus der Geschichte gezogen und hat entschieden alles getan, um den Putsch zu verhindern.

Wie nicht anders zu erwarten hat das US-Regime in Washington und die Europäische Union in Brüssel die Wahlen in Belarus bereits als „unfair“ und „nicht unabhängig“ verurteilt. Als  weiteres Zeichen für den misslungenen Putsch kann gewertet werden, dass am 11. August die wichtigste weißrussische Oppositionskandidatin, Tianowskaja, und mehrere führende Mitglieder ihrer Kampagne über die Grenze nach Litauen abgehauen ist, von wo sie immer noch lauthals Erklärungen abgeben, in denen sie die „Revolution“ fordern.

Auch der prowestliche, neoliberale Teil der so genannten Opposition in Russland hatte vor wenigen Tagen vor der belarussischen Botschaft in Moskau eine Kundgebung zur Unterstützung des Putschversuchs in Weißrussland abgehalten.
Besonders interessant ist, dass noch vor wenigen Wochen Präsident Lukaschenko öffentlich mit Washington & Co mit antirussischen Äußerungen und Importen von US-Flüssiggas geflirtet hatte. Das hat er höchstwahrscheinlich getan, um in den Verhandlungen über russische Energielieferungen bessere Preise herauszuschlagen. Mit dem Beginn der Präsidentschaftswahl haben die westlichen Länder ihren neuen Freund Lukaschenko sofort verraten und den anhaltenden Putschversuch unterstützt. Dies hat einmal mehr gezeigt, dass Vereinbarungen mit dem Washingtoner Establishment und den europäischen Bürokraten keinen Pfifferling wert sind.

Nachfolgend findet der geneigte Leser zwei Links zu Artikeln mit gegensätzlicher Sicht auf die aktuelle Lage in Weißrussland. In dem ersten mit dem Titel „Pantoffelrevolution: Regime Change in Weißrussland hat begonnen“  geht Wladislaw Sankin der Frage nach ob es sich um ein musterhaftes Beispiel einer Demokratie-Bewegung oder um eine Farbrevolution nach klassischem Drehbuch handelt. In dem zweiten Artikel „Proteste in Weißrussland: Neue Größenordnung der Repression“  kommt die Weißrussland-Expertin der George Soros nahen „Forschungsstelle Osteuropa“ der Universität Bremen, Olga Dryndova, zu Wort und macht deutlich, wie eine typische Farbenrevolution-Propagandistin argumentiert.

Rainer Rupp ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Link zur Erstveröffentlichung bei KenFM: https://kenfm.de/weissrussland-im-griff-einer-farbenrevolution-von-rainer-rupp/



Samstag, 15. August 2020

Provokationen gegen Russland - Wolfgang Bittner

 Entnommen: https://kenfm.de/permanente-anschuldigungen-und-provokationen-gegen-russland/

Permanente Anschuldigungen und Provokationen gegen Russland



Die deutsche Regierung ist ein williger Pitbull der US-Kriegshetzer.

Von
Wolfgang Bittner

Die Bundesregierung lässt keine Gelegenheit aus, Russland unter Drohung mit Sanktionen Vorkommnisse anzulasten, die nicht bewiesen sind. Im Mai 2020 ging es um angeblich aus Russland verübte Hackerangriffe auf den Deutschen Bundestag im Jahre 2015. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich schon wegen des Mordanschlags auf den britisch-russischen Doppelagenten Skripal mit Hassreden und Diplomatenausweisungen hervorgetan hatte, sprach von einem ungeheuerlichen Angriff, der sie sehr schmerze und der nach harten Reaktionen verlange. Dagegen hatte sie nichts unternommen, als ans Licht kam, dass der US-Geheimdienst NSA die deutsche Kommunikation überwacht und sogar ihr Handy abhörte.

Kürzlich griff Bundesaußenminister Heiko Maas den „ungeheuerlichen Hackerangriff“ aus Russland anlässlich einer Reise nach Moskau erneut auf und wiederholte die Anschuldigungen, ohne Beweise vorzulegen. Außerdem ging er auf den Mord an einem Tschetschenen mit georgischer Staatsangehörigkeit am 23. August 2019 im Berliner Tiergarten ein, der ebenfalls Russland angelastet wird. Auch dieser Vorfall hatte eine Krise – eine der vielen in den letzten Jahren – in den deutsch-russischen Beziehungen ausgelöst und Diplomatenausweisungen zur Folge. Obwohl der Prozess vor dem Berliner Kammergericht erst noch bevorsteht, drohte Maas bereits mit Konsequenzen.

Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mag sich gelegentlicher Ausfälle gegen Russland nicht enthalten. Schon als Außenminister der Regierung Merkel warf er Russland in Umkehrung der Fakten immer wieder Missachtung des Völkerrechts vor, so in den Auseinandersetzungen um Syrien, Venezuela und die Ukraine. Donald Trump, der sich für Frieden mit Russland aussprach, bezeichnete er als „Hassprediger“, und beim Anschluss Montenegros an die NATO erwies er sich als Vertreter der US-Interessen. Da es der westlichen Allianz nach Meinung Steinmeiers nicht möglich ist, Russland zu verändern, hält er ein distanziertes Verhältnis für angebracht.

Dass sich mit solchen Politikern, zu denen sich gerne russophobe NATO-Propagandisten wie der CDU-Kanzlerkandidat Norbert Röttgen, Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer oder der im Hintergrund heftig agierende Europaabgeordnete der Grünen Reinhard Bütikofer gesellen, keine vernunftbasierten Beziehungen mit Russland unterhalten lassen, ist offensichtlich. Es wird vermutet, unterstellt und gehetzt, und es ist erstaunlich, wie gelassen und sachlich der russische Präsident Putin und Außenminister Lawrow darauf reagieren.


Der lange Weg in die Gegnerschaft

Sehr viele Menschen in Deutschland wünschen sich friedliche und konstruktive Beziehungen zu Russland. Aber das wird seit mehr als einem Jahrhundert durch US-amerikanische und britische Machenschaften verhindert. Deutschland und Russland sollen nicht zusammenkommen, weil das den imperialen Ansprüchen insbesondere der USA entgegensteht. Zweimal wurden Deutschland und Russland im vergangenen Jahrhundert mit katastrophalen Folgen gegeneinander in Stellung gebracht, und 1945 wurde Westdeutschland als Einflussgebiet der USA zu deren Frontstaat und Brückenkopf gegenüber der Sowjetunion und Russland aufgebaut.

1990 kam es dann auf Initiative des damaligen russischen Präsidenten Michail Gorbatschow zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von dem zerstückelten Deutschen Reich übrig geblieben waren. Die westlichen Siegermächte hatten quer durch Europa und mitten durch Deutschland einen Eisernen Vorhang gezogen und die Sowjetunion zum Gegner erklärt. Diese Konfrontationspolitik, die zum sogenannten Kalten Krieg geführt hatte, sollte beendet werden.

Doch nach einer kurzen Zeit relativer Friedfertigkeit begannen die USA erneut, die mühsam angebahnten Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zu demontieren und zu vergiften. Die NATO rückte absprachewidrig bis an die russischen Grenzen vor, an denen unter fadenscheinigem Vorwand Raketen stationiert und Militärstützpunkte errichtet wurden. Wiederholt haben Michail Gorbatschow und Wladimir Putin, aber auch Helmut Schmidt und Egon Bahr, vor einem „großen Krieg“ gewarnt, den wir alle nicht überleben würden. Wer gutwillig und bei klarem Verstand ist, kann die aus den USA gesteuerte menschenverachtende Aggressions- und Sanktionspolitik nur schärfstens verurteilen und bekämpfen.


Die Bevölkerung wünscht Frieden und Freundschaft mit Russland

Während einer Vortragreise durch Russland lernte ich 2016 viele Menschen kennen, die mir – trotz allem was Nazi-Deutschland ihrem Land angetan hat – freundlich und ohne Ressentiments entgegenkamen, voller Vertrauen auf ein wieder besseres Miteinander. Sie bedauerten die seit Ende der 1990er-Jahre zunehmende Entfremdung und von westlichen Politikern geschürte Feindseligkeit. Manche führten die Beteiligung Deutschlands daran auf seine mangelnden Souveränität und eine sich dem übermächtigen Einfluss der USA willfährig beugende Regierung zurück. Als ich zustimmte, kamen wir rasch ins Gespräch.

Deutschland und Russland verbindet eine lange wechselvolle Geschichte, deren positive Seiten nicht vergessen werden dürfen. Über die Jahrhunderte gab es Zeiten regen Handels, kulturellen und wissenschaftlichen Austauschs. Nachdem die Katastrophen des vorigen Jahrhunderts gerade erst überwunden sind, sollte statt Gegnerschaft an die positiven Seiten einer gedeihlichen, freundlichen Nachbarschaft so bald wie möglich angeknüpft werden.

Frieden und Freundschaft mit Russland ist nicht nur ein Wunsch, der weitaus überwiegenden Mehrheit in beiden Ländern, es ist die Grundvoraussetzung für ein friedliches, prosperierendes Europa. Da die Berliner Politikerkaste das beharrlich ignoriert, bleibt abzuwarten, ob es wenigstens ein Wahlkampfthema der Linken in der Partei DIE LINKE werden wird. Sie könnten damit dem Frieden in Europa einen unschätzbaren Dienst erweisen und dazu noch Punkte sammeln.

Der Schriftsteller und Publizist
Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. 2019 sind von ihm der Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ sowie das Sachbuch „Der neue West-Ost-Konflikt – Inszenierung einer Krise“ erschienen.

Siehe auch:
https://kenfm.de/im-gespraech-wolfgang-bittner/

Mittwoch, 12. August 2020

Apartheidstaat am Pranger - Buchtipp


Arn Strohmeyer: "Weltmacht Israel. Wie der nahöstliche Kleinstaat als globaler Player agiert"


Apartheidstaat am Pranger



Buchtipp von Harry Popow

Wie angenehm, wenn dich selbst unter der Mundmaske in schlimmen Zeiten anscheinend jemand zulächelt. Wie erhellend, wenn dir ein Buch für die Probleme in der Welt ein wenig die Augen öffnet. Unzählige Autoren tun es mit gesellschaftskritischen Sachbüchern. Erst kürzlich wieder der Schriftsteller Arn Strohmeyer mit „Weltmacht Israel. Wie der nahöstliche Kleinstaat als globaler Player agiert.“ Der Autor, Jahrgang 1942, hat Philosophie, Soziologie und Slawistik mit dem Abschluss Magister studiert. Er verfasste mehrere Bücher, auch über das Palästina-Problem.

Diese Erkenntnis ist nicht neu: Wer von diesem Nah-Ost-Konflikt – auch bei zahlreichen anderen kritischen Autoren - gelesen hat, dem muss man nicht wiederholen: Das israelische Herrenvolk berufe sich auf Grund seiner alten Kultur, seiner europäischen Herkunft und der Leiden, die es in seiner Geschichte durchgemacht hat, auf seinen privilegierten Status und habe mit seinem über ein anderes Volk errichteten Besatzungsregime jede moralische Orientierung verloren. Aus den Verfolgten von einst (Holocaust) seien brutale Täter geworden. Die Wahrheit: Die Ursachen des Konflikts mit den Arabern beziehungsweise den Palästinensern (…) werden nicht in der eigenen Politik (Kriegs-, Siedlungs-, Eroberungs- oder Vertreibungspolitik) gesehen, sondern ausschließlich in der ´Feindseligkeit´ und in der Mentalität der ´Anderen´. Der zionistischen Ideologie nach seien Araber grundsätzlich feindselig und nicht friedensfähig. So schaffe sich Israel durch Entpolitisierung und Dämonisierung selbst ein Feindbild und erklärt sich dabei als Opfer, was eine Konfliktlösung unmöglich erscheinen lässt.
 

Religiöser Machtanspruch

Arn Strohmeyer lotet bereits in seinem Sachbuch „Die israelisch-jüdische Tragödie“ tief aus, indem er auf die Entstehungsgeschichte des Zionismus eingeht. Zunächst stellt er auf Seite 68 klar, Judentum und Zionismus sind nicht dasselbe. Während das erstere eine Religion ist, eine kulturelle Gemeinschaft, so ist der Zionismus „eine nationalistische Ideologie, die aber für sich in Anspruch nimmt, für das ganze Judentum zu sprechen“, die Israels Staatsideologie ist. Dem entgegengesetzt, so schreibt der Autor auf Seite 194, steht ein Teil des  Judentums auf dem Standpunkt der Alternative eines Universalismus, der sich somit im Einklang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte befindet. „Die Zionisten entschieden sich aber klar gegen den Universalismus und für die konservativ-nationalistische Richtung, was aber auch Absonderung und Isolation bedeutet“, so der Autor auf Seite 195. Es gehe im Grunde auch um die Trennung zwischen Juden und Nicht-Juden, die sich durch die ganze jüdische Geschichte zieht. Auf Seite 70 findet der interessierte Leser viele Argumente gegen die Behauptung der zionistischen Bewegung, ihren Anspruch auf Palästina absichernd, „dass die Juden, die sich gegen die römische Besatzung erhoben hatten, 70 n.u.Z bei der Zerstörung Jerusalems durch die Römer vertrieben worden seien und nun nach 2000 Jahren wieder in `ihr´ Land zurückkehren würden“.

In „Weltmacht Israel“ greift der Autor noch tiefer die gesellschaftlichen und religiösen Ursachen für den Nah-Ost-Konflikt auf, denn dieser habe sich unter gegenwärtigen Bedingungen enorm zugespitzt. Im Vordergrund – wie kann es anders sein -, stehe die Ideologie der Zionisten, die Motive für deren Denk- und Handlungsweise. Der zionistische Staat sei drauf und dran, sich auf den Knüppel des Holocaust stützend und die Gewalt als „rechtmäßiges“ Mittel für sich in Anspruch nehmend, die Welt im Interesse der ökonomischen und militärischen Macht Israels umzukrempeln. Und das bedeute Krieg, dabei die Menschenrechte und das Völkerrecht missachtend.

In den acht Kapiteln geht es um die Monopolisierung der Erinnerung, um den Antisemitismus als politische Waffe, um den israelischen Versuch, das Völkerrecht nach seinen Interessen umzugestalten, um die „Israelisierung“ der Welt, um die Methoden der Hasbara (Propaganda), um die Geschichtsmythen des Zionismus und um Deutschland, dem am meisten „israelisierten“ Land der Welt.

Gestützt auf zahlreiche Literaturquellen nimmt Arn Strohmeyer demzufolge zum Holocaust, zum Zionismus, zum Antisemitismus-Vorwurf, zur Gefahr für den Frieden in der Welt, zu den Methoden des Apartheidstaates zur Manipulierung der eigenen Bevölkerung und der Welt, zur Haltung der Regierung der BRD und zum berechtigten Widerstand der Palästinenser gegen den Völkermord Stellung.

Israel agiere zum Beispiel im politischen Bereich global sehr erfolgreich. So hat dieser Staat es geschafft, seine völkerrechtswidrige Politik gegenüber den Palästinensern gegen alle Widerstände von außen Jahrzehnte lang aufrechtzuerhalten. Dabei hilft es Israel, seine Sicht des Holocaust für seine Interessen weltweit zu instrumentalisieren und dabei auch eine Formel für Judenhass einzusetzen, die jede Kritik der israelischen Politik unter den Antisemitismus-Vorwurf stellt. Um diese Ideologie zu verbreiten, hat Israel ein einzigartig erfolgreiches Propaganda-System (Hasbara) entwickelt.

Israel arbeitet zurzeit mit den USA daran, das Völkerrecht in seinem Sinne zu verändern. An die Stelle von humanen und demokratischen, also universalistisch gültigen Lösungen internationaler Probleme soll eine Politik der Stärke treten, die sich rücksichtslos über die Interessen der kleinen und schwachen Interessengruppen und Völker hinwegsetzt. Jüngstes Beispiel hierfür ist der „Jahrhundert-Deal“ von US-Präsident Trump, der es Israel ermöglicht, große Teile des Westjordanlandes völkerrechtswidrig zu annektieren. Diese Bestrebungen zusammen genommen haben dazu geführt, von einer zunehmenden „Israelisierung“ der Welt zu sprechen.

Bereits im Vorwort wird vermerkt, dass es Israel mit der Instrumentalisierung des Holocaust gelungen ist, „den Diskurs über den Antisemitismus weitgehend zu bestimmen und kritische Stimmen zu unterdrücken.“ Dazu sei folgende Aussage auf Seite 21 hervorgehoben: Nach dem Verständnis des Zionismus, außerhalb ihres politischen Systems gebe es „keine sinnvolle jüdische Existenz“ folge automatisch die Schlussfolgerung, dass das zionistische Israel den Holocaust „nie als Menschheitskatastrophe verstanden, sondern diesen Zivilisationsbruch stets ausschließlich als Vernichtung der Juden (Shoa) interpretiert“. So diene der Holocaust der Rechtfertigung des brutalen israelischen Vorgehens gegen die Palästinenser. Das Erinnern an die Opfer geschehe nicht um ihrer selbst willen, „sondern ist von fremd bestimmten Zwecken“ geleitet. So werde das Erinnern zur Ideologie. Schlimmer noch: Der Zionismus anerkenne keine humanistischen Prinzipien, dem Staat gehe es um Selbstverteidigung „um jeden Preis“.

Auf den Seiten 26/27 heißt es: „Die Berufung auf den Holocaust führt letzten Endes zu der Maxime, dass Israel ´Alles erlaubt ist!`, dass Völkerrecht und Menschenrechte für diesen Staat also nicht gelten, beziehungsweise nur so weit, wie sie israelischen Interessen dienen.“ Dies führe zur Spaltung des Judentums, nicht religiös gegen säkular, sondern zwischen zionistischem Partikularismus bzw. Nationalismus und universellen Menschenrechten. „Beide Sichtweisen schließen sich gegenseitig aus und führen das Judentum in eine tiefe, so gut wie unlösbare Krise.“

Auf Seite 40 bezeichnet Arn Strohmeyer den Umgang mit dem Holocaust tiefgründig als „Holocaust-Industrie“, wobei die Opfer im Mittelpunkt stehen und nicht mehr die Mordmaschinerie. Diese sei darauf aus, „das Leiden der Vergangenheit zu maximieren und aus ihm so viel politisches Prestige und sogar wirtschaftliches Kapital zu schlagen wie nur möglich. Deshalb wurden nach und nach fast alle anderen Opfer ausgeblendet, und der Genozid geriet zu einer ausschließlich jüdischen Angelegenheit. Auch jeder Vergleich mit anderen Völkermorden war von nun an untersagt“.


Geheucheltes „nie wieder“

An dieser Stelle hat der Autor meiner Meinung nach den wundesten und gefährlichsten Punkt im Nah-Ost-Konflikt und für den Weltfrieden genannt. Wie Recht er hat, wenn er sagt, kein Politiker des Westens würde es wagen, „die Ausschließlichkeit der jüdischen Opfer in Frage zu stellen und auch die anderen Opfer herausragend zu erwähnen“. Auf Seite 207 sieht Arn Strohmeyer einen Zusammenhang mit dem deutschen Establishment, „indem man glaubte, die richtige universalistische Maxime des ´Nie wieder!` erfüllen zu können, indem man sich dem zionistischen Staat Israel zuwandte, sein Projekt bedingungslos unterstützte und die Verbrechen dieses Projektes mit Schweigen überging.“

Die Ursache? Der Autor zitiert den deutsch-jüdischen Philosoph Ernst Tugendhat, der darauf hinwies, dass das „Einknicken“ der Deutschen vor den Israelis „auf die Nicht-Verarbeitung der deutschen Schuld am Holocaust“ zurückführe. (S. 190) Der Deutsche Bundestag habe zum Beispiel mit dem Beschluss gegen die BDS-Bewegung vom 17. Mai 2017 „eine der empörendsten und bizarrsten Resolutionen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verabschiedet“. Das erlaube, jeden Unterstützer von BDS als Judenhasser zu betrachten. Deutschland sei faktisch „zu einem Agenten des israelischen Kolonialismus geworden“. (S. 206)

(Der Rezensent erinnert sich an die Tageszeitung „junge Welt“ vom 16. Juni 2020. Unter der Überschrift „Zurechtgelegte Geschichte“ in Erinnerung der Befreiung vom Faschismus vor 75 Jahren werden neuerliche Geschichtslügner entlarvt. Die Losung „nie wieder“, so ist zu lesen, werde von Bundespräsident Steinmeier bedenkenlos umgemünzt in ein „Nie wieder allein“, weshalb es vor allem für Deutsche gelte, „Europa zusammenzuhalten“. Das „Nie wieder“ werde so enthistorisiert, banalisiert und damit für andere Zwecke verfügbar gemacht, heißt es in diesem Beitrag.)

Arn Steinmeyer schreibt von völliger Unterordnung, totalem vasallenartigen Gehorsam „und damit auch eine pathologische Abhängigkeit von dem Willen und den Bedürfnissen des zionistischen Staates“. (S. 189) Den Völkerrechtsverletzungen aber selbstbewusst und mit kritischer Distanz gegenüberzutreten wäre im Sinne des moralischen Vermächtnisses des Holocaust unbedingt notwendig.

Vor diesem Hintergrund der auf Gewalt und Einzigartigkeit des Zionismus angelegten ideologischen Ausrichtung samt ihrer Propaganda treten die folgenden aufklärerischen Fakten und Beispiele des Autors desto deutlicher hervor. Das betrifft vor allem die Gefahren, die von so einer verbrecherischen Politik für den Weltfrieden ausgehen. Auf der Seite 103 fällt das Wort „Israelisierung der Welt“. Es sei eine Politik der Stärke, „bei der der Rechtsstaat auf der Strecke bleibt. Israel frage nicht nach den politischen Ursachen des Problems – Landraub, Unterdrückung und Vertreibung der Palästinenser, sondern macht aus dieser Frage ein Sicherheitsproblem, das nur mit technologischer Kontrolle und geheimdienstlichen Mitteln angegangen wird“. „Das ´Modell Israel` sei ein Staat, der von der Logik des permanenten Krieges, der Logik einer absoluten Sicherheit getrieben ist, die wichtiger sei als alle Garantien demokratischer Rechte.“ (S. 105) Wenig später zieht der Autor daraus das Fazit, dass diese Entwicklung große Gefahren berge. So könnte Gaza, wenn Demonstrationen und Menschenrechtsaktivisten nicht wachsam sind, überall sein. (S. 133)

Mit welchen Methoden die Israel-Lobby zur Einschüchterung des Volkes und der Welt vorgeht, beweist Arn Strohmeyer an zahlreichen Beispielen. Israel gelte als der am meisten militarisierte Staat der Welt. Es hat aus der Unterdrückung der Palästinenser und den kriegerischen Auseinandersetzungen mit ihnen ein Milliarden-Geschäft gemacht. Die israelische Industrie hat spezielle Waffen entwickelt, die das Label „Im Kampf erprobt“ tragen. Es gehe um Drohnen, die „gut für den Kampf gegen Dissidenten, Rebellen und Aufstandsbewegungen“ geeignet seien. (S. 126), kampferprobte Roboter, Cyber-Waffen. Außerdem haben israelische Firmen zur Überwachung und Kontrolle der Palästinenser in den besetzten Gebieten einzigartige Techniken entwickelt. Beides – Waffen wie die Kontroll- und Überwachungstechniken plus die Strategien zu ihrer Anwendung – exportiert Israel mit großem Erfolg in die ganze Welt. Wobei auch Angriffe auf Internet-Foren zu verzeichnen sind.

Auf Seite 207 fragt der Autor zurecht, ob der Weg der Aufarbeitung der Vergangenheit gescheitert ist? Das propagierte Gelöbnis, die Sicherheit Israels sei deutsche „Staatsräson“ helfe, „Israels brutale Herrschaft über ein von ihm unterworfenes Volk zu sichern. Die deutsche Israel-Politik kann so gesehen kein Beitrag zum universalistischen ´Nie wieder!`sein, sie ist schlichtweg gescheitert“. (S. 208) Als Resümee stellt Arn Strohmeyer fest, dass es keinen Frieden geben kann, „solange dem palästinensischen Volk seine Grundrechte verweigert werden“. Es gehe um die Gleichheit beider Völker „auf der Grundlage der gegenseitigen Selbstbestimmung. Deutschland habe die große Chance, eine solche Vision zu fördern. Zugleich aber bezeichnet er auf Seite 83 das Recht der Palästinenser auf Widerstand gegen das Besatzungsregime. Das Völkerrecht verbiete es „unter Fremdbesatzung stehendem Volk nicht, bei seinem Widerstand Gewalt einzusetzen, sie darf sich aber nicht gegen Zivilisten richten, sondern nur gegen das Militär und seine Einrichtungen“.

Das Buch von Arn Strohmeyer ist kein Schulbuch, kein Lehrbuch für Ungebildete. Es mag aber zum Nachdenken anregen, seine eigene politische Position, sein Denken und Tun zu überprüfen. Nicht ohne Grund setzt der Autor die zahlreichen Fakten und Beispiele mit dem universalen Völkerrecht und den Menschenrechten in Beziehung. Wobei alles in allem darauf hinausläuft, nicht nur die Israel-Lobby als auch die westliche Wertegemeinschaft in ihrem Drang nach Profit und militärischer Macht – die Menschenrechte verletzend – an den Pranger zu stellen. Die Opfer des Holocaust wären erst dann gesühnt, so ist das Buch zu verstehen, wenn die Macht des Kapitals weltweit gebrochen würde und das beschworene „Nie wieder!“ mit der Beseitigung der ökonomischen und politischen Ursachen für Eroberungskriege und Völkermord ein für allemal auf festen Füssen zu stehen kommt. Dazu bedarf es der internationalen Solidarität und der Unterstützung friedliebender demokratischer Staaten. In diesem Zusammenhang sei die Warnung der Volksrepublik China an Israel vor der Umsetzung von Annexionsplänen gegenüber Palästina erwähnt. (siehe Linke Zeitung vom 27. Juli 2020) Dem Autor sei Dank gesagt, dazu einen sehr wissenschaftlich wertvollen Meinungs- und Erfahrungsschatz geleistet zu haben.


Arn Strohmeyer: "Weltmacht Israel. Wie der nahöstliche Kleinstaat global agiert"






Gabriele-Schäfer-Verlag; 1. Auflage (8. Juli 2020), broschiert, 244 Seiten, ISBN-10: 3944487761, ISBN-13: 978-3944487762, 17,90 Euro

(Erstveröffentlichung in der NRhZ)