Donnerstag, 29. September 2016

"Böses" Erinnern

Böse“ Erinnerungen...



...anlässlich des bevorstehenden 03. Oktober 2016: Zum Beispiel: Wie war das nur möglich, einen Patienten acht Wochen lang im Krankenhaus zu betreuen, ohne dass er auch nur ein Pfennig dafür bezahlen musste? Schon allein dieser Fakt dürfte ausreichen, ins Grübeln zu kommen. Darum an dieser Stelle ein weiteres  „böses“ Gedenken. Siehe diese Leseprobe:



Harry Popow: "DÄMMERZEIT.  EIN KESSEL STREITLUST", epubli-Verlag. Taschenbuch, Format DIN A5, 204 Seiten, ISBN: 978-3-7375-3822-0, Preis: 11,99 Euro, zu bestellen:
http://www.epubli.de/shop/buch/D%C3%84MMERZEIT-Harry-Popow-9783737538220/52205

Telefon: 030/ 617 890 200



Ein Essay

Gefährliches Erbe

Eine Laudatio auf ein unbezahlbares DDR-Kapital

Hey, der macht einem wirklich Sorgen. Zum Beispiel der ehemalige Innenminister
von Brandenburg, Jörg Schönbohm (CDU). Hatte der doch allen Ernstes behauptet, in
den neuen Bundesländern gebe es „eine verbreitete Stillosigkeit – im Umgang wie
bei der Kleidung“. Aufgrund der „Entchristlichung“ in der DDR fehle vielen
Menschen außerdem „ein geistlicher Halt“. Ein Politiker kommentierte dazu treffend,
dieser Mann könne seinen „Ekel vor Ostdeutschen nicht mehr verbergen“. („junge
Welt“, 23.11.2009)

Das lässt einem keine Ruhe. Der arme Mann. Wie muss er sich während seiner
Amtszeit gequält haben. Lauter Ossis um ihn herum. Es muss wohl ein starkes
Gegengift in ihm gewesen sein, so etwas auszuhalten. Ist dem Mann überhaupt zu
helfen? Will er sich helfen lassen? Jedenfalls muss ein Virus in ihm stecken, der nicht
totzukriegen ist. Also her mit einem Eimer … Für einen Hartgesottenen aus der Gilde
der Unbelehrbaren.

Und diese Gilde ist riesengroß. Selbst wenn man die meisten Medien und die Reden
der Politikergarde unter die Lupe nimmt, dann weiß man, wie miserabel es den
heutigen Machtbeflissenen geht. Sie deckeln alles ab, was einmal der andere Teil
Deutschlands war. Sie lassen auch nach zwanzig Jahren keinen grünen Zweig an der
DDR. Was könnte denen - also auch dem einstigen General der Bundeswehr - in die
Quere gekommen sein?

Dabei haben die Oberen aus der vollständigen Vereinnahmung Ostdeutschlands
glänzend profitiert. Sämtliches Volkseigentum haben sie wieder an sich gerissen und
mit dem Osten neue Absatzmärkte geschaffen. „Vom Volkseigentum der DDR profitierten zu 85 Prozent Westdeutsche, zu zehn Prozent internationale Konzerne
und nur zu fünf Prozent DDR- Bürger. Das Eigentum der DDR wurde durch die
Treuhand verschleudert. Das alles nenne ich nicht Revolution. Es ist die Restauration
des Kapitalismus, was im Herbst keine Forderung des Volkes war.“ („junge welt“,
19.09.2009, Gespräch mit Egon Krenz. Über sein Buch »Herbst ’89«, den Untergang
der DDR und über Legenden und Realität am 9. November vor 20 Jahren). Henry
Nick dazu im ND vom 13.11.2009: „In den vom Zeitgeist so sehr bemühten Wende-
Erinnerungen hätte auch an das Schicksal der ostdeutschen Industrie erinnert werden
müssen. Deren Absturz in den Jahren 1990/92 ist schließlich der spektakulärste
Vorgang in der Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit: Mitten in Europa und mitten im
Frieden wurden über zwei Drittel des Industriepotenzials brach gelegt. Das hatte es
selbst im Gefolge der Weltkriege nicht gegeben.“

Inbesitznahme Ostdeutschlands nach der Implosion der DDR kann doch keinen Ekel
erregen. Oder? Es muss da etwas geben, was sie, die Hassprediger des politischen
Tieffliegergeschwaders und mediengeschädigte Einfaltspinsel nicht vereinnahmen
konnten, was sie nicht mit noch so großen Jubelfesten auch im Jahre 2010
totzuschweigen imstande sind: Das ist der ehrliche Gedanke zurück, der sich nicht
nur mit Halbwahrheiten und Lügen abgibt, sondern dann der Wahrheit näher kommt,
wenn er dabei den gesamten Entstehungsprozeß der DDR als einzigartige Alternative
zum Kapitalismus ins Blickfeld holt. Sicher, die jetzigen Herrschenden mögen es gar
nicht lustig finden, wenn nicht wenige der Älteren unter den einstigen DDR-Bürgern
die Geschichte - mit zwei prüfenden Augen sehend – erzählen und so ihr Wissen und
ihre Erfahrungen an Jüngere würdevoll übermitteln. Kann es nicht sein, dass dabei
Wertvolles zutage kommt, das, was man heute nicht mehr wahrhaben will, was kaum
noch zu finden ist? Kann es da nicht passieren, dass Kritik am Bestehenden
aufkommt, am Marktgebaren? Könnte da nicht ein Dacapo am Himmel aufleuchten?
Ein Wiederaufleben humanistischer Gesellschaftsideen? Herbert Willner hält in dem
Buch „Kundschafter im Westen“, edition ost, S. 310, folgendes fest: Die Herren der
Globalisierung, der Konzerne und Banken hätten längst entsorgt werden können. „Ihr
Fazit: Das darf sich niemals wiederholen! Entsprechend müssen die Reste
sozialistischen Aufbegehrens mit Stumpf und Stiel ausgemerzt werden. Selbst die
Erinnerung muss so gründlich wie möglich getilgt werden. Die Menschen müssen
entsozialisiert, entsolidarisiert und entpolitisiert werden, um sie – Teile und herrsche!
– beherrschen und um jegliche gesellschaftsverändernden Aktivitäten ausbremsen
oder verhindern zu können.“

Die Furcht davor wäre immerhin denkbar, jagt doch ein gewisses Gespenst seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts den Geldmachtbeflissenen Angst und Schrecken ein. Und
nun revanchieren sie sich: Nie wieder Sozialismus/Kommunismus! Der Abgesang des
Sozialismus sei auch das Ende der Geschichte, sagen sie. Aber kann eine Idee so
leicht untergehen? Sind die Gründe dafür denn zu Grabe getragen worden? Wer zählt
die Vernunftbegabten, die dem widersprechen? Einer von vielen ist der Regisseur
Wolfgang Kohlhaase. Er sagt in einem nd-Interview „Wie die Wende ins Kino kam“:
„Das damals prognostizierte Ende der Geschichte ist ja nicht eingetreten, die
Geschichte geht weiter, als großes unbekanntes Abenteuer. Und der östliche
Gesellschaftsversuch ist ja nicht gescheitert, weil die Gründe für den sozialistischen
Welt - Verbesserungs - Entwurf aus dem 19. Jahrhundert sich erledigt haben. Die Gründe sind noch da.“ Gar nicht nebenbei gesagt: Eine englische Studie, eine Befragung in 27 europäischen Ländern ergab, dass 87 Prozent der Menschen sich eine andere, humanere Gesellschaftsordnung vorstellen können.

Gerade heraus: Alte „Ossis“ haben manches in petto, was einfach unbezahlbar ist. So
Generalmajor a.D. Heinz-Joachim Calvelage im „RotFuchs“ vom Dezember 2009.
Das gefiel mir. Man kann sogar von einem Reichtum sprechen der inneren Werte, der
Menschlichkeit, der Draufsicht auf ein Leben in Frieden und gegenseitiger Achtung,
auf die angestrebte – aber nicht immer praktizierte - Würde gegenüber jedem
Einzelnen. Nicht zuletzt auf die systembedingte Möglichkeit, sich nicht der Diktatur
des Geldes unterwerfen zu müssen. So unsere Anfangsbestrebungen. Und das sei zu vererben? So einfach liegen die Dinge nicht. Inge von Wangenheim schrieb in der Zeitschrift „neue deutsche literatur“ 3/81, Seite 99, dass sich die Kinder der ersten Generation, die die DDR aufgebaut haben, damals die Früchte dieses Sieges bereits genießen konnten, „ohne sich über sein Zustandekommen noch viel Gedanken zu machen. Warum auch sollten sie? Ständige Verbeugungen vor Eltern und Großeltern beschränken den Blick für die Weite des eigenen Horizonts.“ Wie aber kann man eine Hoffnung, eine Idee, eine Fackel weiterreichen? Wenigstens aber Antennen, sprich Neugier, für das, was da politisch gespielt wird. Wer will davon überhaupt noch etwas wissen?

Der Autor dieser Zeilen gehört auch zu den Alten. 1936 geboren und in der KVP sowie in der NVA gedient von 1954 bis 1986. Im Oktober 1949 mit der Fackel in der Hand auf dem Lustgarten stehend, jubelte auch ich der gerade gegründeten DDR zu. Später bildete auch ich junge Männer militärisch aus und griff schließlich zum Kugelschreiber und schrieb über jene, wie sie sich plagen, wie sie das Notwendige meistern lernten, den ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat zu schützen. Ja, ich habe als Offizier und Militärjournalist in der Nationalen Volksarmee zweiunddreißg Jahre mitgewirkt an einer Alternative zum Krieg, an einem Entwurf für ein großartiges
Gesellschaftsgemälde. Das trägt der Oberstleutnant a.D. mit Würde. Schmerz aber
erfüllte ihn und Millionen anderen Leuten, dass man im kleinen Land mit der Zeit
vieles vermasselt hatte. Eine ganze geschichtliche Periode, ein Startversuch in ein
menschenwürdigeres Dasein ist durch Unvermögen abgestürzt. Auf absehbare Zeit
unwiderruflich. Verspielte Chancen!

Und die standen anfangs nicht schlecht. Was für einen Reichtum wir angehäuft hatten: Gerne zitiere ich an dieser Stelle noch einmal Egon Krenz („junge welt“,
19.09.2009), dem es vor allem zu verdanken ist, dass kein Schuss beim
Systemwechsel gefallen war: „In der Erinnerung vieler wird bleiben, was Menschen
heutzutage so schmerzlich vermissen: Eine solidarische Gemeinschaft, in der der
Mensch des Menschen Freund und nicht sein Wolf ist, in der nicht das Geld diktiert
und soziale Angst über den Tag hinaus regiert, in der es Arbeit für alle gibt und
gleiche Bildungschancen unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Ohne Arbeit kann
es keine wirkliche Freiheit geben. DDR-Bürger kannten ein hohes Maß an sozialer
Gerechtigkeit, es gab gleichen Lohn für gleiche Arbeit, die Gleichberechtigung der
Geschlechter und der Generationen war selbstverständlich. Solange es die DDR gab,
kamen keine deutschen Soldaten aus Kriegsgebieten in Särgen nach Deutschland.“
Und man gibt dem einstigen Staatsratsvorsitzenden recht, wenn er Nachdenklichkeit
über Deutschland – nicht nur auf die DDR reduziert - einfordert und die Frage stellt,
was denn bewahrenswert aus den Erfahrungen der DDR ist? Wer soll den Enkeln und
Urenkeln Rede und Antwort stehen, falls diese Fragen irgendwann einmal gestellt
werden?

Und tatsächlich, „wie lebt es sich in einem Land“, so Henry Nick (ND 16.10.2009),
„ ohne Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Armut, ohne sehr Reiche, ohne soziale
Ängste; in einem Land, in dem Minister und Generaldirektoren großer Konzerne
höchstens das Vierfache und nicht wie manche Bosse im heutigen Deutschland das
vielhundertfache Einkommen des Durchschnittsverdieners erhalten? Wie lebt es sich
in einem Land ohne Bildungsprivilegien? Wie lebt es sich, wenn Gesundheitsleistungen kostenlos sind? Wie lebt es sich ohne organisierte
Kriminalität, Drogenkriminalität, in einem Land, in welchem die Kriminalitätsrate
nur ein Sechstel im Vergleich zum benachbarten kapitalistischen Staat beträgt? Gab
es in der DDR nicht in der Tat mehr menschliche Wärme, wie vor der Wende selbst
die »FAZ« äußerte; mehr Hilfsbereitschaft unter den Menschen, mehr
Kinderfreundlichkeit?“

Ja, Herr Schönbohm, die Ekel-Ossis!

Da wagt es doch (siehe nd vom 30.10.2009) ein Kölner Institut den Ostdeutschen in
die Seele zu blicken und entdeckt ganz menschliche Züge. Wolfgang Hübner schrieb
dazu: Von den Ostdeutschen würden zwei Medienbilder existieren: „der Wendeheld
und der Jammerossi.“ … „Die meisten Ossis bewegen sich zwischen den
Stereotypen. Sie zeichnen sich durch »praktizierte Lebensbeherrschung« aus,
weshalb sie auf Luxus verzichten, Obst preiswert kaufen und selbst kochen und
backen. Sie sind bodenständig und naturverbunden, was sich etwa in ihrem Hang
zum Wandern dokumentiert. Sie bevorzugen einen geregelten Tagesablauf mit festen
Aufsteh-, Essen- und Schlafzeiten – im Gegensatz zum »überfrachteten und
fragmentierten westlichen Multioptions-Alltag«. Sie basteln lieber mit ihren Kindern
Kastanienmännchen und genießen dabei »das Gefühl, ein eigenes, konkretes Werk zu 
schaffen«.

Wohl niemand macht sich da etwas vor: Sowohl die vererbungswürdigen Schätze an DDR-Erfahrungen als auch die subjektiv-dummen, unverzeihlichen sowie teilweise
größeren Zusammenhängen geschuldeten Fehler – sie sind unter einem Dach groß
geworden. Widersprüche, die zu ernsten Konflikten zwischen oben und unten führten.
Was einst als sozialistische Persönlichkeit aus der Taufe gehoben werden sollte,
verdarb mitunter zur Deformation der Menschen im Denken und Verhalten. Was
sollte man denn davon halten, dass in den letzten Jahren vor 1989 kaum heikle
Fragen gestellt werden durften. Weder in den Schulen, noch in den Betrieben.
Gespräche zu politischen Widersprüchen nur hinter der vorgehaltenen Hand? Das ist
unwürdig. So erzieht man nur Jasager und keine reifen, kritikfähigen Mitstreiter in
einer Gesellschaft, die ja etwas ganz Neues in der deutschen Geschichte darstellen
sollte. Das konnte, und vieles andere mehr, nicht gut gehen.

Und es ging nicht gut. Mit recht platzte tausenden Bürgern zu gegebener Zeit der
Kragen. Kann man ihnen nicht verübeln. Wer wollte bezweifeln, dass die meisten von
ihnen eine reformierte DDR wollten. Ob das 1989 noch möglich geworden wäre, sei
dahingestellt. Die Implosion der DDR und des ganzen Sozialismus trieb die
Mauerspechte allerdings nicht in ein vermeintliches Paradies, sondern in die
gesellschaftliche Sackgasse.

Was dem Ostbürger nach der Maueröffnung drübergestülpt, ja zugemutet wurde, das
war mehr als nur Deformation der Persönlichkeit. Er fand sich plötzlich im
Konsumrausch, was natürlich Fröhlichkeit einschließt, er sah sich – bemerkbar oder
nicht – in einem Labyrinth unzähliger verfluchter Fragen und neuen, nicht gekannten
Ängsten. Mehr noch: Manche bemerkten gar nicht, dass die Gegenwart und auch die
Zukunft von der Vergangenheit gefressen wurde. Gunnar Decker schrieb dazu am
23.05.2009 im „ND“: „Die eigentliche Frage dieses Mauerfall-Jubiläumsjahres wird
in den Medien des Landes auffallend viel beschwiegen: Das Leben führt zum Tode,
aber wohin führt die Geschichte? Wir kommen nicht darum herum, das Gestorbene
am Gestern zu trennen von dem, was weiterlebt. Um diesen Prozess der Scheidung
geht es. Im Wiedererinnern wird beides sichtbar: Das, was lebt und das, was tot ist.“
In dem Buch „Vertreibung ins Paradies“, stellte Daniela Dahn auf Seite 207 fest: „Die
DDR war mein Problem, sie hat mich trotz allem betroffen und interessiert, ihre
utopische Potenz bewahrte bis zuletzt einen Impuls von 'Verändern-wollen', sie war
bis zum Schluss wenigsten noch wert, abgelehnt oder auch gehasst zu werden. Die
BRD ist nicht mein Problem, sie langweilt mich, weil sie nichts mit mir zu tun hat.
Sie lässt mich gleichgültig, weil ich nicht daran glaube sie verändern zu können."
Beifall für sie: Das nach „außen“ leben wollen und müssen, sich zeigen, sich
präsentieren, sich verkaufen müssen!! Die Genügsamkeit: Meine Arbeit, mein Haus 1
und Garten, mein Mann, mein Glück!! Maßlose Gier- und Verschwendungssucht der
Geldleute – nein, und nochmals nein, das kann nicht zukunftsbestimmend sein, erst
recht nicht die Kriege, die im Interesse der Machterhaltung der globalisierten
Marktanbeter geführt werden.

Mir gefiel, was Countertenor Jochen Kowalski in diesem Zusammenhang am
14.11.2009 gegenüber dem ND äußerte: „Für nichts ist mehr Ruhe, Zeit und die
nötige Freiheit von Druck da. Man hat Angst, nicht mehr besetzt, gar entlassen zu
werden, die Menschen sind in einem erbärmlichen Maße damit beschäftigt, sich
wichtig und unentbehrlich zu machen. Das ist doch irre: Alle fühlen sich frei, und
jeder geht zum Psychiater.“

Was will denn eigentlich der normale Bürger? Man denke an die Geschichte von Leo
Tolstoi „Wie viel Erde braucht der Mensch?“ Darin ging es um die Gier eines Bauern,
mehr Land haben zu wollen, als er eigentlich bearbeiten kann. Daran ging er zu
Grunde. Heute sind die Läden zwar voll mit allem was das Herz begehrt, aber das,
was ihn erst innerlich reifen lässt und seine Würde unterstreicht, das ist die Arbeit.
Und eine bezahlbare Wohnung. Und eine kostenlose Gesundheitsversorgung. Und
Liebe. Und das in einem Gesellschaftssystem, das dies durch eine andere Verteilung
des Reichtums als Rahmenbedingung garantieren könnte. „Ich denke, ich bin kein
gieriger Mensch. Deshalb ist es nicht mein System. Wie viele Menschen, die ich
kenne, wünsche ich mir einen sicheren Arbeitsplatz, eine Wohnung, die ich bezahlen
kann – alles andere richtet sich. Das kann und will mir das System nicht garantieren.
Braucht es mich nicht mehr, stößt es mich ab. Ich und viele andere kriegen die Krise,
wenn sie daran denken.“ So die Meinung von Christina Matte (ND, 28.05.2009).
Wohin führen Deformationsprozesse, wenn Leute nicht gefragt sind, wenn es nur ums
Geld geht, wenn Nachdenken über Visionen nur ein abfälliges Lächeln erzeugen? Ein
bemerkenswertes Eingeständnis von Maxim Leo, eines einstigen DDR-Bürgers, in
seinem Buch „Haltet euer Herz bereit“ (Seite 15): „Ich habe einen gut bezahlten Job
in einer Zeitung, und meine Hauptsorge besteht gerade darin, ob wir in unserer Küche
Dielen- oder Steinfußboden haben sollten. Ich brauche keine Haltung mehr zu zeigen,
muss mich nicht engagieren, benötige keinen Standpunkt. Politik kann ein
Gesprächsthema sein, wenn einem sonst nichts einfällt. Nicht die Gesellschaft, ich
selbst bin zum Hauptthema meines Lebens geworden. Mein Glück, mein Job, meine
Projekte, meine Träume.“ Ohne Kommentar!

Spätestens hier sei die Frage angebracht: Bräuchte nicht ein einstiges
Siebzehnmillionen-Volk angesichts fehlender Zukunftsvisionen sehr viele Eimer?
Ist das nicht grotesk: Zur Zeit der Jubelfeiern zum „Mauerfall“ um den neunten und
zehnten November 2009 herum, bei der auch der letzte Ruf nach einer Debatte über
grundsätzliche gesellschaftliche Alternativen zu Grabe getragen werden sollte,
versammelten sich Historiker, Politologen, Schriftsteller und Informatiker zu einer
Podiumsdiskussion an der FU Berlin. Sie diskutierten über den Sozialismus, über die
Aktualität einer Utopie. „Wir wollen darüber reden,“ so heißt es, „wie eine
Gesellschaft aussehen könnte, in der nicht Profit und Markt, sondern gesellschaftliche
Bedürfnisse die Produktion bestimmen, in der die Verteilung von Arbeit und
Ressourcen demokratisch geplant wird. Eine Gesellschaft ohne selbst produzierte
Sachzwänge, eine Gesellschaft, die willens und fähig ist, der ökologischen
Katastrophe zu entgehen. Eine historische Analyse des sogenannten »real
existierenden Sozialismus« ist dabei unverzichtbar.“

Unter diesen – nun erst recht wieder erstrebenswerten – Bedingungen lassen sich
leichter jene Werte ansteuern, die ansonsten immer mehr ins Hintertreffen geraten
könnten. Der Schriftsteller K.H. Roehricht stellte dazu in seinem Buch „Großstadtmittag“ S. 206 fest: „Es sind immer die Zuverlässigkeit und die
Bescheidenheit, der Fleiß und die Güte, die einen Menschen seinen wahren Wert auch
außerhalb der Bildung geben.“ Und Christa Wolf fragt sich, „was will der Mensch. …
Der Mensch will starke Gefühle erleben, und er will geliebt werden. Punktum.“
Sicher, Liebe, verbunden mit andauernder herzlicher Kameradschaft, verändert nicht
die Welt – aber sie gibt Halt und Kraft, im Leben zu bestehen und manchmal mehr zu
tun, als verlangt wird. Dann erst wächst einer über sich selbst hinaus. Nicht die
Funktion, der Besitz materieller Dinge, das Getue – dieses ganze Blendwerk der
Macht und Ehrgeizgierigkeit – nicht dies ist es, was die Reife eines Menschen zeigt,
seine Seele aufdeckt, ihn zum Menschen macht. In ihrem sehr bemerkenswertem
Buch „Meine ersten drei Leben“ entwirft Ingeborg Rapoport ein sehr schönes Bild
vom Menschen (Seite 36): „Aber ist nicht jeder besonders, und leuchtet nicht jeder in
der Berührung mit einem anderen auf, vielleicht nur für kurze Zeit – wie das Laub
draußen im Garten, wenn die Sonnenstrahlen hindurchgehen? Und hat nicht jeder das
Recht, mit Liebe aus der Erinnerung geholt zu werden für eine kleine flüchtige
Wiederkehr ins Leben?“

Kulturgeschwätz? Hirngespinste der Alten? Wer winkt da ab? Klarsicht und Vernunft
stünden den Deutschen besser zu Gesicht… Eimer ade also... Und das auf beiden
Seiten der noch existierenden „Mauern in den Köpfen“, wie man zu sagen pflegt.





Mittwoch, 28. September 2016

Meine Blog-Statistik

Blog-Statistik

Hits insgesamt seit Oktober 2011:


Stand vom 02.09.2013: 14.30 Uhr: 9.050
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Stand vom 07.06.2014: 18.00 Uhr: 15.300 Hits
Stand vom 08.01.2015, 19:00 Uhr: 24.686 Hits
Stand vom 24.04.2015, 10 Uhr: 29.637 Hits
Stand vom 10.08.2015, 17 Uhr: 35.695 Hits
Stand vom 04.02.2016, 19 Uhr: 45.534 Hits
Stand vom 28.09.2016, 17 Uhr: 57.865 Hits
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Montag, 26. September 2016

Antwort an einen Gleichgesinnten

Daumen hoch & Daumen runter

Antwort an einen, der als Ossi den Daumen auf der richtigen Stelle hat, und der dennoch manche Wunde nicht zu diagnostizieren vermag. Es geht um den Journalisten Frank Blenz aus Plauen i.V., der einen großen (und großartigen) Artikel zum Zusammenwachsen und Nichtzusammenkommen zwischen DDR und BRD in den NachDenkSeiten geschrieben hat. Mit freundlicher Genehmigung durch Albrecht Müller konnte ich den Blenz-Artikel in meinem Blog veröffentlichen.

Lieber Frank Blenz, ich antworte hiermit in einem offenen Brief auf Deinen Artikel „Mit der Vereinigung DDR/BRD zu den Konditionen der BRD war der schöne Aufbruch, der einer aller hätte werden können, vorbei“ in den NachDenkSeiten vom 22. September 2016.

Ich freue mich über Deinen Beitrag. Hatte ich mir bereits zur Zeit der sogenannten Zeitenwende innerlich gesagt, jetzt müssten nach und nach viele Zeitzeugen aus der DDR ihre Lebensläufe schildern, damit die Historiker aus dem bürgerlichen Lager nicht alles, was geschah, unter den Tisch fegen und damit Geschichte verhunzen können.

Ich selbst habe die letzten Kriegsjahre und Tage noch als Kind erlebt, machte begeistert mit bei den Pionieren und später in der FDJ. Voller Bewunderung bin ich heute vor den großen Leistungen derer, die unseren Staat aus dem Trümmerfeld holten und denen Mut zusprachen, die sich ebenso qualvoll bemühten, die geistigen Trümmern der Naziideologie loszuwerden.

Meine wichtigste Erkenntnis heute als 80-jähriger: Danke für den in Lektionen, Seminaren, im Fernstudium und in den Medien propagierten Tiefenblick in die gesellschaftlichen Zusammenhänge, vor allem in den engen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg. Die bürgerlichen Medien und Politiker nennen das ganze Indoktrinär. Mögen sie sich damit selber schützen, denn nichts anderes tun sie selber sehr ausgiebig, diesmal aber zur Verdummung der Massen. Uns damaligen, die sich bewusst ins Geschehen einbrachten, hat es gut getan, weil man schnell das Wofür und Wogegen lernte, wobei auch die Sinne für Unvolkommenes geschärft wurden. (Nachzulesen auch in meinen persönlichen Erinnerungen „In die Stille gerettet“).So ist es nicht verwunderlich, dass ich heute sämtliche Vorgänge in der kapitalistischen Gesellschaft als Ausdruck des allerschärfsten Klassenkampfes betrachte und keinerlei Illusionen habe über die wirklichen Absichten sowohl der USA als auch der EU mit Deutschland an der Spitze.

Nun ist es unter weitgehend Gleichgesinnten nicht angebracht, sich in einen nutzlosen politischen Streit zu begeben, aber um Klarheit sollten Gesinnungsfeunde schon bemüht sein. Klare Worte im immer stärker wirbelnden Klassenkampf tun bitter Not – im Interesse unserer zur Zeit so sehr gefährdeten Zukunft. Wenn ich einzelne Deiner Aussagen kritisch betrachte, dann sind das meine ganz persönlichen Sichten, die ich im Verlaufe meines Lebens gewonnen habe, und zu denen ich voller Überzeugung auch heute noch stehe.

Du schreibst

Zitat eins: Die vielleicht bisher beste, fortschrittlichste Variante der Umsetzung eines deutschen Staates haben wir im Osten erlebt, und dies in einer kurzen Phase, welche inzwischen vergessen scheint und doch so passiert ist zwischen dem Oktober 1989 und dem Frühsommer 1990. Damals hieß diese Gegend noch DDR. Das wird so gut wie nie besprochen; die DDR trägt bis heute bei den Meinungshoheiten stets das Gesicht der Diktatur und den Stempel Unrechtsstaat. Dass sich das Land, dieser Teil Deutschlands aber entwickelte, dass es eine Revolution gab, dass es mit einem Mal ein anderes Land war – Pustekuchen.

Doch in diesen wenigen Monaten lebte es sich in der DDR so luftig frei und Revoluzzer erfrischend und freudig visionär wie naiv.

Wie kann ein kurzer Zeitabschnitt, in dem sowohl Ängste (vor allem vor Arbeitslosigkeit), Hoffnungen, politische Orientierungslosigkeit, Dummheit, Gier nach materiellen Werten, ja, Selbstmorde, Wankelmütigkeit, Wechsel der politischen Ansichten, unsichere menschliche Beziehungen, Frieden oder Krieg so dicht nebeneinander existierten, wie kann diese nach den Ergebnissen beurteilte Wende als Konterrevolution, wie kann das alles ein Ausdruck von „richtigem Sozialismus“ sein? Zumal gewisse führende Leute versucht haben, mit dem Besen alles über den Haufen zu fegen? Die wichtigste Umsetzung war wohl doch vorher geschehen: Vertreibung der Kriegsverbrecher, Enteignung des großen Privateigentums und die handfeste Politik „Nie wieder Krieg!“ „Nie wieder vom deutschen Boden aus.“ Und die Welt hatte das sehr wohl zur Kenntnis genommen, dieses großartige Signal aus dem fortschrittlichsten Deutschland, das es bisher gab, vor allem in außenpolitischer Hinsicht.

Zweites Zitat: Die jungen Leute fern von Konsumlust und voller Lust für eine bessere sozialistische Gesellschaft konnten sich gut vorstellen, die Ideen fern von Ausbeutung von Menschen, ein Miteinander, ein freies Leben, Solidarität und endlich auch ein Zusammenwirken von West mit Ost fern vom Kalten Krieg zu entwickeln. Gorbatschow war der Star.

Das es so viele Illusionen gab, ist auch einem jugendlichen Leichtsinn geschuldet und der Tatsache, dass kaum ein politisches Argument zur Entlarvung der westlichen Ideologie wirklich gezündet hat. Dazu kam noch die übermäßige Sucht, sich von bürgerlichen Medien beirren zu lassen, abgesehen von der Unfähigkeit in der politischen Arbeit, besonders auf die Interessen und Bedürfnisse der Jugend einzugehen, trotz Bemühungen.

Drittes Zitat: mit einem Mal war der Soldat Bürger und Mensch und der Ehrendienst einer.

Objektiv war der Ehrendienst tatsächlich einer, nämlich im Interesse des Friedens. Allerdings: Kann man sich einen „demokratischen Dienst vorstellen“, bei dem gefragt wird, ob wir heute über die Sturmbahn gehen oder lieber „Gesangsunterricht“ abhalten wollen?

Viertes Zitat: Doch richtig Sozialismus konnte man die Realität bis zur Wendezeit nicht nennen. Danach schon, in Ansätzen.

Siehe Antwort oben. Brecht sagte einst, ein schlechter Sozialismus ist besser als gar keiner. Ein schwerer Fehler in der Vergangenheit: Jegliche Fehlerdiskussionen aus „Angst vor dem Klassenfeind“ zu unterlassen, zu unterdrücken. Die Klassiker des Marxismus lehrten, jeden Schritt stets an der Praxis zu messen, um Fehler zu vermeiden.

Fünftes Zitat: Bei der Umsetzung zwischen 1949 und 1989 im Herbst, da standen welche dazwischen, die eine Realität durchzogen und zu verantworten haben, die bisweilen skurrile Züge trug. Sie gab es:
Die Gegner: Die Eliten der Parteikader, der Sicherheitsorgane, der Blockparteien und der Kirchenoberen, der Machthaber und Strippenzieher, der Mitläufer, die da alle mitmachten bei dem Nachplappern und Machtmissbrauchen, weil sie sich eingerichtet hatten.

Ich schäme mich für diese plumpe Generalwäsche. Anpasser, Karrieristen – ja, die gibt es stets und überall. Damals, um hochzuklettern, heute, um Geld zu machen, um den Arbeitsplatz zu behalten. Haufenweise sogar!! Aber die vielen, vielen engagierten Leute, die im vollen Bewusstsein, auf der richtigen Seite zu stehen und etwas für die Menschen zu tun, diese Leute generell in eine Ecke mit Mitläufern zu stellen, zeugt von kultureller Maßlosigkeit und von Verachtung gegenüber den „Aktivisten der ersten Jahre und danach“, wie oben beschrieben. Mehr noch: Viele jüngere Leute, die in der DDR eine gute Kindheit hatten, könnten ruhigen Gewissens denjenigen danken, die für so ein sinnerfülltes Leben gesorgt haben, einschließlich der Wehrbereitschaft zur Sicherung des Friedens.

Achtes Zitat: Regierung, Parlamente sitzen an den Hebeln, sie können, sie müssen verändern. Für alle Menschen. Sie können Sanktionspolitiken ändern, sie können aus einem Arbeitsmarkt eine Arbeitsgesellschaft machen. Sie können den Druck der Leistungsgesellschaft mildern, in dem neue Konzepte und Ideen des Zusammenlebens, der Solidarität, des Humanismus, der Ökologie installiert und ausprobiert werden. Warum müssen wir Bundesbürger uns immer über Geld, über was habe ich, was bin ich, woher komme ich definieren? Dabei sind wir alle und eben im Besonderen die Regierenden mit ihren Möglichkeiten zu entscheiden gefordert. Hierzulande, in Europa, weltweit. In Zusammenarbeit und Freundschaft und Koexistenz mit unseren Nachbarn. Und die Menschen aus dem Osten machen auch mit.

Welch ein heißer Wunsch kommt in diese letzten Zeilen des Autors Frank zum Ausdruck. Es bleiben leere Worte, Wunschträume, die sooo nicht erfüllt werden. Weil die Elite bei Strafe ihres eigenen Untergangs mit allen Mitteln jegliche Veränderung der Eigentums- und Machtverhältnisse zugunsten einer echten Volksdemokratie zu verhindern weiß. Da kann man noch so viel bei Demos mit Trillerpfeifen Lärm machen, Proteste an die Regierung schicken, das ist ja alles erlaubt und legitim. Nur eines darf man nicht: Die Geschichte wieder einmal umdrehen, diesmal wirklich im Sinne der ausgebeuteten Massen. Doch im Neoliberalismus, da sollst du dich um dich selbst kümmern, da sollst du stillhalten im Interesse des Kapitals. Hierzu passend ein Zitat aus einem Buch, das ich kürzlich rezensiert hatte:

Der neue Mensch

Zitat aus „Windflüchter“, Seite 62, Werner Rügemer, „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet“

Wie wurde der Marxismus gescholten, weil er einen „neuen Menschen“ wollte. Dieser „neue Mensch“ habe das Wesen des Menschen vergewaltigt und habe nur in einer Schreckensherrschaft enden können. Doch der Westen propagiert selbst seinen neuen Menschen: den Homo oeconomicus.
Der ist unfehlbar und steht jenseits von Gut und Böse. Je größer seine individuelle Profitgier, desto größer seine Effektivität und sein Ansehen. Er soll das realisieren, was dem Kommunismus vorgeworfen wurde: Der schuldlose Homo oeconomicus, Militär, Medienmacher und Geheimdienst bei Fuß, soll das Ende der Geschichte einleiten und die Menschheit in das endgültige Paradies führen.

Was bleibt? Insgesamt ein toller Zustandsbericht, schon dafür kann man sich wie bei jedem Arzt bedanken. Mehr aber auch nicht.

Lieber Journalist Frank Blenz, Daumen hoch für die kritische Analyse. Manche mögen schon dabei auf die Barrikaden gehen... Aber sollen sie jene um Veränderungen bitten, die Du in Deinem Artikel so arg mit Recht befeuerst? („Die Regierenden sind gefordert“) Sollen sie beten? In Stille verharren unter dem Motto „weiter so“??? Vielleicht findest Du im Namen des Pluralismus guten Rat im „demokratisch gewählten Soldatenrat“? Also dafür Daumen runter.


Beste Wünsche von Harry Popow

DDR/BRD - Teil II

Entnommen: NachDenkSeiten


23. September 2016 um 15:55 Uhr | Verantwortlich: Albrecht Müller

Der Tag der Einheit naht, Gedanken über Früher und Heute. Teil II

Veröffentlicht in: Das kritische Tagebuch



Von Frank Blenz, Plauen.


Bald ist wieder Feiertag. 3. Oktober. Der Tag der Deutschen Einheit. Da fühlt sich die unserige Bundesregierung gemüßigt, einen Bericht zu veröffentlichen von der „Ostbeauftragten“ verfasst. Der liest sich wie der Beweis und Beleg dafür, wie in diesen elitären Kreisen gedacht wird, was gehalten wird von der Einheit. Vom Osten. Von den Menschen da. Aber was ist das für eine Einheit, wenn immer wieder geteilt und unterschieden wird und wenn die Schuld von Teilung dann auch noch denen untergeschoben wird, die nichts dafür können? Das Gesprächsthema „Ostler“ ist derart hart durch die Tagesmedien, die Tagespolitik, die Verlautbarungen aus der Bundespressekonferenz an die Öffentlichkeit lanciert worden. Es schmerzt ob so vieler Dummheit, Arroganz und Boshaftigkeit.

Da redet die „Beauftragte für Ostdeutschland“ Iris Gleicke (SPD) bei der Vorstellung ihres Jahresberichts zum Stand der deutschen Einheit über den bedauernswürdigen Teil der Bundesrepublik (der Osten), als wäre dieser Landstrich mitsamt den Menschen eine koloniale Enklave. Sie redet dumm und es scheint, sie merkt es nicht einmal. Oder redet sie nicht dumm? Weiß sie um die Ansichten, ist es korrekt, das mit der Enklave, mit der Qualifizierung der Menschen in den fünf Bundesländern von Ostsee bis Fichtelberg? Dazu wird durch die Medien-Aufbereitung forciert (z.B. TV Sender Phoenix) ein fragwürdiges, bisweilen arrogantes Geschwafel von Moderatoren und eingeladenen Fachleuten. Es sind die derzeitigen medialen „Gewichtungen“, es scheint in so einigen Redaktionsstuben zu heißen: „Wir müssen aktuell was über den Osten machen, vor allem, wie da der Fremdenhass wütet.“

Beispiel einer dazu typischen Schlagzeile (Spiegel online):

„Bundesregierung zu Ostdeutschland „Nicht viel Positives zu berichten“.“

Spiegel online rein, bei GMX, Web.de, bei Phoenix, Deutschlandfunk – in vielen Medienauftritten kommt der Osten in überaus prägnanter verkürzter Weise schlecht weg. Nachdem ordentlich draufgehauen wurde, werden dann Sätze offenbar, die zugegebener Weise meinen, dass der Osten nicht immer was dafür kann (Phoenix TV) wie: „Ja es ist schon so, dass die Konzerne dann weiterzogen in andere Länder östlich des Ostens, weil es dort billiger ist.“ Derlei Betrachtung bezieht sich auf das „Abgehängtsein“ des Ostens im Bereich ökonomischer Zahlen.

Dann folgt der Hammer: Zitat Spiegel online: „Die Ostbeauftragte der Bundesregierung sieht in der Fremdenfeindlichkeit eine ernste Bedrohung für die wirtschaftliche Entwicklung. Es gebe überhaupt nichts schönzureden, sagte Iris Gleicke (SPD). Und weiter: „Der zunehmende Fremdenhass schade Ostdeutschland und gefährde den gesellschaftlichen Frieden. Gleickes ernüchterndes Fazit: „Im Moment habe ich nicht viel Positives zu berichten. Der Rechtsextremismus stelle „in all seinen Spielarten eine sehr ernste Bedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar“. Im Ausland werde Gleicke überall auf diese Entwicklung angesprochen. Ein nicht weltoffener Standort erleide ökonomische Nachteile. Im Tourismus gebe es etwa in Sachsen teils deutliche Rückgänge.“

Dann aber der Clou: der Widerspruch in sich kommt schließlich von Gleicke selbst:

„Die große Mehrheit der Ostdeutschen ist nicht fremdenfeindlich oder rechtsextrem.“

Stimmt. Die meisten in Ostdeutschland (es sind zunächst Deutsche und nicht „Ostdeutsche“ als Spezies) sind nicht extrem. Und es gibt ihn nicht: den „Ostdeutschen“. Was ist überhaupt ein Ostdeutscher? Der Schwabe, der „rübermachte“? Der Hamburger, der zig Wohnungen kaufte oder der Westfale, der auf Edelsanierung macht im Osten? Die Kinder, die ab Ende 1989 alle in der neuen Zeit geboren wurden und mit DDR nix anfangen können und verwundert sind als Ossis betitelt zu werden? Oder sind es die Leute hier, die zwar von Westkonzernen bezahlt und geduldet werden, aber dann doch zu einem anderen Tarif als jenseits der alten Grenze arbeiten? Was folgt? Die Aussagen, die medial so wuchtig wie böse sind, erzeugen einen sehr wirksamen Eindruck: Osten = Mist. Derlei erreichte Zielstellung dient nicht zum Schaffen und schon gar nicht zum Hegen und Pflegen einer Einheit.

Man stelle sich mal vor, es würde vor dem 3. Oktober so in Tagesschau und Co. von den „Westdeutschen“ gesprochen und das von einer Westbeauftragten, die nicht viel Gutes zu berichten habe, die vom Hinterherhängen, vom Extremismus redet, die dann in die Mikros spricht, sie sei ja selbst Westdeutsche.

Zurück zum Extremismus, der im Osten grassiert, wie Gleicke sagt. Nochmal das Zitat von der Ossifrau vs. die Ossis: „Der zunehmende Fremdenhass schade Ostdeutschland und gefährde den gesellschaftlichen Frieden. Gleickes ernüchterndes Fazit: „Im Moment habe ich nicht viel Positives zu berichten. Der Rechtsextremismus stelle „in all seinen Spielarten eine sehr ernste Bedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar“. Das behauptet sie, obwohl in keiner aktuellen Sendung zu ihrem Auftritt und auch in nicht in der Erklärung der Frau Gleicke nur annähernd deutlich aufgezeigt wurde, dass von Rostock bis zum Fichtelberg, von Forst bis nach Wernigerode, von Berlin bis Plauen, von Erfurt bis nach Stralsund tagtäglich der Baum brennt. Es gab zu Gleicke ein paar TV-Beispiele zur Unterfütterung der Gefährlichkeit des Ostens und der Massenhaftigkeit: Bautzen und zwei andere Städte.

Das Problem Extremismus, Rechtsextremismus konkret, ist eines. Ein heftiges. In ganz Deutschland. In Bautzen, in Berlin, in Leipzig ebenso wie in München, in Köln oder in Mannheim. Man schaue mal auf die interaktive Karte.

Die Karte zeigt, dass es ein Land ist, in dem diese nicht zu akzeptierenden, zu verurteilenden Dinge geschehen, diese unsäglich schlechten Gedanken und Handlungsweisen noch daheim sind. Im Land der Dichter und Denker, im Land der „Exportweltmeister“, bestehend aus Norden, Süden, Osten, Westen. Wären wir doch weniger Exportweltmeister als Humanisten. Die Mauer besteht weiter in führenden Köpfen, in den Redaktions- und Amtsstuben. Eine ganze Region samt der Menschen, die im Osten leben, hat den Stempel erhalten, der signalisiert: Westen gut, Osten schlecht. Wem nützt das, wem dient das?

Die Wirkung, der Zustand wird von Gleicke zum Gegenstand ihres Berichts gemacht. Die Ursachen benennt sie nicht. Wenn seit 1990 ein verschwindendes Land in einem gemeinsamen aufgeht und dabei eine Deindustrialisierung und Privatisierung sondergleichen durchgezogen wird, wenn eine Region im saloppen Unternehmerdeutsch „verlängerte Werkbank“ heißt, wenn man zum einen zwar sagt, dass „wir nun alle ein Deutschland und die Deutschen sind“, aber Ostdeutsche (die, die im Ausweis eine ostdeutsche Stadt stehen haben) bis heute öfters erleben, benachteiligt zu werden, wenn es Alltag ist, dass dieser wesentlich ein von westdeutschen Traditionen und Gepflogenheiten geprägter ist, dann bleibt ein Teil dieses Landes, in dem Fall Ostdeutschland zurück. Wie sollen diese fünf Bundesländer auch gleich sein, wenn es nicht so viele Menschen, Arbeitsplätze, große Firmenansiedlungen, Lohnhöhen gibt? Wie soll das gehen, wenn viele in Ostdeutschland lebende als Pendler gen Westen fahren und arbeiten und so ebenfalls die Bilanz verschieben? Warum wird bei der Berechnung überhaupt ein Unterschied, eine Teilung in diesem Land gemacht, wenn doch beispielsweise jeder Konzern, jeder Lebensmittel-Gigant seinen Sitz und seine Schatztruhe im Westen hat und selbstverständlich Filialen im Osten?
Der Autobauer in München baut also schneller als der in Leipzig? Die Verkäuferin in Hamburg besser als die in Leipzig?

Apropos Fremdenhass und Vorbehalte gegenüber Menschen, die aus Kriegsgebieten und Krisenländern zu uns nach Deutschland flüchteten. Und wie das in Ostdeutschland im Alltag so läuft:

Allein in und um Plauen im Vogtland (62.000 Einwohner) leben aktuell an die 3000 Flüchtlinge (aus mehr als einem Dutzend Ländern). Das Stadtbild Plauens hat sich enorm gewandelt. Das Miteinander auch. Wir haben neben uns syrische Familien, wir haben gegenüber zwei syrische Familien als Nachbarn. Ein Musikkollege und seine Frau sind Paten von zwei syrischen Frauen mit Kindern. Freunde von mir, ich selbst auch, wir helfen Menschen bei Behördengängen. Das ist kein Nebeneinanderleben. In Plauen gibt es mehrere Sonderklassen für Flüchtlingskinder, Sprachlehrgänge für Große, Sportvereine haben Menschen aus mehreren Ländern integriert, Kirchen bieten Treffs und Cafes und Hilfe, es gibt zwei große Anlaufstellen für geflüchtete Menschen, das Theater macht mit, die Stadtverwaltung, Firmen, Kunstgruppen und, und, und. Ja es gibt sie auch die von der neuen „Alternative“ bietenden Partei und besorgte Bürger – aber die bekommen stets verbal engagiert Paroli geboten. Wir lesen dann auch von CSU-lern, was die so eloquent wie boshaft in die Mikrofone reden. Die kommen aus Bayern, nicht aus Ostdeutschland. Plauen mit den Menschen da, aus dem Vogtland, aus dem Westen, aus dem Norden und dem Süden in einer Stadt als Bürger eines geeinten Landes, dieses Plauen ist kein Einzelbeispiel für Ostdeutschland, kein Einzelbeispiel für das geeinte Deutschland.

Und wenn nun in Bayern das Bier besser, der Fußball erfolgreicher, in Stuttgart mehr gespart wird oder in Köln lauter gefeiert wird als anderswo, dann ist die Ostsee schöner, die Spreewaldgurken saurer, das Berlinern frecher und die sächsische Eierschecke köstlicher als anderswo – in unserem geeinten Land.

Das geeinte Land zu einen, bedeutet, die Gemeinsamkeiten zu pflegen, die kulturellen und teils lieb gepflegten Unterschiede und Stile zu akzeptieren und dabei aber auch die Ungerechtigkeiten zu benennen und zu beseitigen. Es darf also nicht heißen „Gefühl des Abgehängtseins“ oder „Armutsrisiko im Alter“ – es muss heißen „Zustand des Abgehängtseins“ und „Altersarmut“. Es ist schon lange an der Zeit, wieder an 1989/90 zu erinnern, als es die Idee gab für eine gemeinsame Verfassung (dieser Auftrag steht im Grundgesetz). Es ist lang schon an der Zeit, das Klima im ganzen Land spürbar zu verbessern, in dem durch die Regierenden die soziale Kälte, der Zynismus, das Teilen des Landes, das Teilen der Menschen in Oben und Unten, die latent kriegerische, aggressive Polemik, der Druck im Land mit kraftvollen Maßnahmen beseitigt wird. Es ist nicht richtig, es reicht nicht, dass eine Regierung, ein Parlament sagt: „wir setzen uns ein.“ Nein. Regierung, Parlamente sitzen an den Hebeln, sie können, sie müssen verändern. Für alle Menschen. Sie können Sanktionspolitiken ändern, sie können aus einem Arbeitsmarkt eine Arbeitsgesellschaft machen. Sie können den Druck der Leistungsgesellschaft mildern, in dem neue Konzepte und Ideen des Zusammenlebens, der Solidarität, des Humanismus, der Ökologie installiert und ausprobiert werden. Warum müssen wir Bundesbürger uns immer über Geld, über was habe ich, was bin ich, woher komme ich definieren? Dabei sind wir alle und eben im Besonderen die Regierenden mit ihren Möglichkeiten zu entscheiden gefordert. Hierzulande, in Europa, weltweit. In Zusammenarbeit und Freundschaft und Koexistenz mit unseren Nachbarn. Und die Menschen aus dem Osten machen auch mit.








Samstag, 24. September 2016

Abbruch eines großen Traums

Entnommen: NachDenkSeiten

22. September 2016 um 12:20 Uhr | Verantwortlich: Albrecht Müller

„Mit der Vereinigung DDR/BRD zu den Konditionen der BRD war der schöne Aufbruch, der einer aller hätte werden können, vorbei.“

Veröffentlicht in: Audio-Podcast, Demokratie, Gedenktage/Jahrestage, Innen- und Gesellschaftspolitik, Wertedebatte



Ein Freund aus Plauen – Journalist, Fotograf, Musiker -, Frank Blenz hat sich Gedanken zum Tag der Deutschen Einheit gemacht. Ich habe ihn gebeten, diesen Text für die NachDenkSeiten aufzuschreiben. Es ist ein spontaner, ein subjektiver, auch ein treffender Text. Die Lektüre ist auch jungen Leserinnen und Lesern der NachDenkSeiten zu empfehlen. Darin klingt an, was war, was wichtig war und was wichtig ist in der jüngeren Geschichte. Teil II. folgt. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„Mit der Vereinigung DDR/BRD zu den Konditionen der BRD war der schöne Aufbruch, der einer aller hätte werden können, vorbei.“ - Frank Blenz



Der Tag der Einheit naht, Gedanken über Früher und Heute. Teil I.


Von Frank Blenz, Plauen

Die vielleicht bisher beste, fortschrittlichste Variante der Umsetzung eines deutschen Staates haben wir im Osten erlebt, und dies in einer kurzen Phase, welche inzwischen vergessen scheint und doch so passiert ist zwischen dem Oktober 1989 und dem Frühsommer 1990. Damals hieß diese Gegend noch DDR. Das wird so gut wie nie besprochen; die DDR trägt bis heute bei den Meinungshoheiten stets das Gesicht der Diktatur und den Stempel Unrechtsstaat. Dass sich das Land, dieser Teil Deutschlands aber entwickelte, dass es eine Revolution gab, dass es mit einem Mal ein anderes Land war – Pustekuchen.

Doch in diesen wenigen Monaten lebte es sich in der DDR so luftig frei und Revoluzzer erfrischend und freudig visionär wie naiv. Die Naivität wich dann, da mit den Monaten die ernüchternde Erkenntnis vor allem bei uns damals jungen Leuten Einzug hielt: mit der dann vollzogenen Form von Vereinigung DDR/ BRD zu den Konditionen der BRD war der schöne Aufbruch, der einer aller hätte werden können, vorbei.

DDR, das war in dieser kurzen Phase kein an der Nase herumgeführtes Land mehr der SED-Oberen, sondern eines des Volkes. Man stelle sich vor, es wurde heftig, kräftig, gut, fair und auch unfair in der Presse geschrieben, es wurde an den Tischen daheim, in Kneipen, bei Freunden (wie vorher auch schon, aber nun viel freier) diskutiert und es wurde skizziert, wie das Jetzt und die Zukunft aussehen könnte. Und es wurde schon viel ausprobiert und getan. Die jungen Leute fern von Konsumlust und voller Lust für eine bessere sozialistische Gesellschaft konnten sich gut vorstellen, die Ideen fern von Ausbeutung von Menschen, ein Miteinander, ein freies Leben, Solidarität und endlich auch ein Zusammenwirken von West mit Ost fern vom Kalten Krieg zu entwickeln. Gorbatschow war der Star. Progressive Bürgerrechtler fern kirchlicher Gnaden und Blockparteien auch. Ich war bis Januar 1990 Soldat (Pflichtwehrdienst). Ich habe im Herbst 1989 in meiner Kaserne in Thüringen mit anderen zusammen den ersten Soldatenrat gegründet. Wir haben neue Dienstvorschriften durchgesetzt, Wir haben ordentliche Urlaubs– und andere Freizeiten erkämpft und mit einem Mal war der Soldat Bürger und Mensch und der Ehrendienst einer.

Wir haben, als ich wieder Bürger zivil daheim war, Theater gespielt, wir haben erste Reisen gen Westen ohne Geld unternommen, denn die Mauer war ja gefallen. Es zog indes ein Unwetter auf bei allen Südfrüchten und Gebrauchtwagenmärkten: Die Allianz für Deutschland. Helmut Kohls Tross inklusive BILD und Bertelsmann und den Eliten der Konzerne und Deutschen Banken. Das spürten wir. Wir vernahmen schnell: von wegen eine gemeinsame Deutsche Verfassung, von wegen Übernahme von „guten Sachen der DDR“ (es blieb gerade mal beim Grünen Räumpfeil an der Ampel), von wegen „Blühende Landschaften“ wie Kanzler Kohl schwadronierte. Im allgemeinen Erzählen der Meinungshoheiten wird oft so gesprochen, als habe sich die DDR-Bevölkerung in Gänze dem Geschehen gegenüber unkritisch verhalten und gehofft, es werde alles gut. Nein. Wir, gerade junge Leute, wussten: Treuhand, der überaus perfide taktische Schritt „Rückgabe vor Entschädigung“, DDR-Mark-Umtausch zu einem teils unverstandenen Kurs (Enteignung der Bevölkerung), der folgende „Anschluss“ der DDR an das Bundesgebiet – das war alles kein faires Ding. Und damit wurden zig Chancen für ein gutes, besseres gemeinsames Deutschland bewusst nicht in Angriff genommen. Die Chefs, die Entscheider, allesamt aus dem Westen, wähnten sich auf der Seite derer, die sagten: Wir sind dass bessere Deutschland.

Wem nützte das? Es nutzte einigen. Den Eliten des Westens, deren Handlangern und Helfern und denen im Osten, gerade die im Osten, die immer schon gut waren im Ellenbogen ausfahren, anpassen. Diese Leute überholten die Westler gar im Wessi sein. Die Worte „Es war nicht alles schlecht in der DDR“, „die DDR will heute aber keiner mehr zurück haben“, „der Kapitalismus hat den Sozialismus besiegt“, „der Sozialismus in der DDR konnte ja nicht klappen“ – es sind alles Worthülsen, die so falsch wie tröge wie hinterhältig waren und bis heute bleiben. Am 18. März gab es die so genannten „ersten freien Wahlen“ in der DDR, in der das Geld siegte, eine Wahlkampagne ohnegleichen den Osten überrollte, Slogans von „keine Experimente“ und „den Sozialismus hatten wir schon“ bis „Nieder mit den roten Socken“ jeden Widerspruch, jedes neue Konzept, ja eben auch Experiment niedermachte.

Am 3.10.1990 folgte die Wiedervereinigung. Mit großer Feier vor dem Reichstag und dem vielfach falschen Gesang der Eliten der Nationalhymne: „Einigkeit und Recht und Freiheit.“ Was folgte bis ins Heute 2016 ist ein bis in diese Zeit verfestigter Zustand, der den Westen zu dem besseren Teil des Landes samt Bevölkerung und den Osten zum zweiten Sieger macht.

Ist es so bekannt, dass in den Grundbüchern des Ostens, vielfach Namen stehen, die aus dem Westen stammen (Mietshäuser, Villen, Neubauten, Gewerbebauten, Betriebe, Gewerbeflächen, landwirtschaftliche Betriebe, Nutzflächen und, und, und)? Der Osten gehört eben nicht den Ossis. Ist es bekannt, dass im Osten in Sachen großer Firmen fast alle Chefs und Eigner aus dem Westen kommen, dass die wichtigsten Posten in Verwaltung, Justiz, Banken – und weiterer Wirtschaft oft von Leuten besetzt sind, die keine Ossis sind? Man mag es kaum glauben, es ist so, wie Experten (z.B. Michael Hartmann, Soziologe, Buch: Die globale Wirtschaftselite. Eine Legende“) es auch in der Beobachtung und Untersuchung der Eliten in den derzeitigen Gesellschaften beobachten: Herkunft entscheidet über die Aussicht auf Aufstieg.

Es stimmt, die Straßen in den Neuen Ländern sind zumeist in Ordnung, die Altstädte sind schick, die Gewerbegebiete auf Vordermann und neue Unternehmen meist auf dem neuen Stand. Wem nun gehören diese Immobilien? Warum ist es so wichtig, dass die Infrastruktur stimmt? Dass im Osten die Arbeitslosigkeit immer noch hoch, die Organisiertheit der Arbeiterklasse und Arbeitnehmerschaft niedrig, die Löhne auch, das Gefühl des Abgehängtseins groß (es ist nicht nur ein Gefühl, zu viele Menschen sind abgehängt und werden vom Establishment und ihren Hinterhertrabern verachtet) und das Wühlen der boshaften Kräfte von NPD bis AfD boshafter als im Westen – es hat Ursachen, die auch im unfair realisierten „Zusammenwachsen Ost/ West“ zu suchen sind.

Die intellektuellen Basislager konservativer bis reaktionärer Denke stammen nicht aus dem Osten, beobachte ich. Der Mitgründer der AfD ist Hamburger und Professor der Uni in der Hansestadt. Die NPD hat ihre Wiege nicht an der Elbe zwischen Magdeburg und Dresden. Und die Waffen und Flyer und Klamotten und Autos für Aufmärsche in Sachsen und Thüringen kommen vielfach aus Bayern (sogar der BR, der Bayerische Rundfunk, hat schon darüber berichtet). Die Rattenfängerei klappt, es gibt Ossis, die nun AfDler, NPDler, Nazis und Reaktionäre sind. Mir ist das fremd, ich kannte das zu DDR Zeiten nicht. Ich kannte damals wohl, dass es Leute auch in meinem Umkreis gab, die „die Roten“ hassten und den Westen wollten, die aus Prinzip nur ARD und ZDF und Rias konsumierten und jede Woche Westpakete von der Verwandtschaft aus dem Ruhrgebiet bekamen. Die haben das mit der Idee nicht verstanden, dass es das nicht geben sollte, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Idee, dass es keine Gesellschaft von Siegern und Verlierern, von Oben und Unten geben sollte. Wie gut liest sich bis heute gerade der Slogan der Franzosen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das hat was Ursoziales, Erstrebenswertes.

Die Idee des Sozialismus. Sie ist auf deutschem Boden schon mal praktisch ausprobiert worden. Nicht von den Eliten. Nein, von den einfachen Leuten, von den Idealisten, von den Menschen, die ahnten, das hat was, das ist gut. Ich war dabei. Und ich habe das Für und Wider erlebt, meine Biografie ist von den Kämpfen, Krämpfen, Gerechtigkeiten und Ungerechtigkeiten geprägt. Ich sage: trotz allem, war der Versuch die bisher mutigste Sache, die in unser aller Heimat versucht wurde. Doch richtig Sozialismus konnte man die Realität bis zur Wendezeit nicht nennen. Danach schon, in Ansätzen.

Bei der Umsetzung zwischen 1949 und 1989 im Herbst, da standen welche dazwischen, die eine Realität durchzogen und zu verantworten haben, die bisweilen skurrile Züge trug. Sie gab es:

Die Gegner: Die Eliten der Parteikader, der Sicherheitsorgane, der Blockparteien und der Kirchenoberen, der Machthaber und Strippenzieher, der Mitläufer, die da alle mitmachten bei dem Nachplappern und Machtmissbrauchen, weil sie sich eingerichtet hatten.



Der Westen. Die Eliten, die Regierungen, die Nato, die Bosse und Banker, die Leute der Denkfabriken. Es gab Boykottlisten und Sanktionen auf Dauer gegen die DDR und andere Staaten des RGW, es gab stete mediale Meinungsmache, Hetze. Die Folgen waren verheerend. Die DDR kam nicht auf die Strümpfe, die Brüder und Schwestern im Westen dachten von denen im Osten nicht gut, es wurde so erzogen. Dazu ein Beispiel, ein Zitat eines Westberliners bei einem Gespräch in einem Berliner Indien-Lokal nach der Wende 1997: „Damals vor dem Mauerfall haben die uns in der Schule und überall im Westen gesagt: alles was aus dem Osten kommt, ist Scheiße.“ Und ich habe es schon zu DDR-Zeiten so erlebt, dass bei „Westbesuchen“ stets der Eindruck des Belächelns uns gegenüber aufkam.
Das Leben im Osten, ja, es war eine Mischung aus heiler Welt, aus engagiertem Meistern des Alltags, der Schwierigkeiten, es war ein ständiges Tun im Zwiespalt eines gespaltenen Landes. Es war ein trotziges Leben auch. Auch gegenüber dem Westen. Wir konnten nicht so gut Fußball spielen, doch zur WM schlugen wir die Westdeutschen 1:0. Auch sonst waren wir gerade beim Sport schneller, höher, weiter als die Brüder und Schwestern aus dem Westen. Dass das erfolgreich medial und publizistisch mit dem Doping und der Staatsräson erklärt wird (um gleichzeitig zu verschweigen, dass die BRD viele Mittelchen für ihre Akteure parat hatte, sogar für die Sepp Herbergers Weltmeisterelf von 1954), sei s drum.

Tatsächlich gab es ständig diesen Vergleich, oft zum Nachteil der DDR.

Dass in der DDR aber keine Straße, keine Kaserne nach einem Nazi benannt wurde, dass in Sachen internationaler Beziehungen zum Beispiel mit Ländern in Afrika damals schon faires Handeln und echte Hilfe realisiert wurde statt Kolonialismus, steht auf der Habenseite. In Mosambique oder Angola oder Ägypten oder in weiteren Ländern Nordafrikas wurden mit Unterstützung von ostdeutschen Agrarexperten Programme durchgesetzt, die eine bessere Versorgung der Bevölkerung garantierten. In Mosambique wurde das von „Rebellen“ dank freiheitlicher US-Helfer mit Waffengewalt kaputt gemacht. In Chile putschte 1973 Pinochet, vorher und danach hat die DDR den Leuten dort viel Solidarität und Hilfe geleistet (einschließlich Asyl für viele Chilenen in der DDR nach dem Sturz und der Ermordung Allendes). Weitere Länder lassen sich aufzählen. Vietnam, Kuba, Nicaragua, andere Länder Lateinamerikas, Palästina. Ich hatte bei der Pflege der Beziehungen zu diesen Ländern stets den Eindruck, dass da bei aller Politik und Geostrategie wirklich Freundschaft und ein gutes Miteinander tragende Motivationsgründe waren. Und bei der Wiedervereinigung war mir ebenfalls bewusst, dass nun die USA als „Freunde“ einen wie bis dato schon unrühmlichen Beitrag leisten werden. Die Amis waren in der DDR beliebt: bei der Musik, beim Sport, bei Jeans und Kaugummi und bei Wild West Filmen. Bei letzteren liebten aber alle stets die Indianer und nicht die Cowboys. In anderen Bereichen waren die USA nicht beliebt. Bis heute nicht.

Wir hatten keine Supermärkte. Es gab in meiner kleinen Heimatstadt zig Fleischer, Bäcker, drei Gemüse-Obst-Läden, einen Fischladen, mehrere Cafes, einen Späteinkaufladen, mehrere Lebensmittelläden der Organisationen HO und Konsum und gar mehrere Tante Emma Läden. Der Clou: es gab einen Laden, der als Laden selbstgemachte Salate und Mitnehmspeisen wie auch als Garküche für die Arbeitswoche Mittagstisch anbot und legendär war. Es waren fast alle Gewerbeflächen belegt. Die Schaufenster der Läden liebevoll gestaltet, obschon sie nicht vergleichbar waren mit West-Schaufenstern. Ja, es duftete nicht so wie bei Aldi oder Tengelmann.

Westpakete. Die waren bei DDRlern beliebt, Verwandte aus dem Westen legten Süßes, Kaffee, Klamotten und, und, und ´rein. Zugegeben, die Konsumwaren der BRD gab es so nicht in der DDR, also gab es Begehrlichkeiten. Ich hatte ab 1985 auch richtige Westverwandte, meine Mutter und meine Schwester zogen mit dem zweiten Mann meiner Mama gen Westen. Ich blieb mit meinem Vater im Osten. Dann kamen ab und an Pakete. Ich wünschte mir… Schallplatten. Grönemeyer, Lionel Richie.

Sport war Alltag bei mir und im Land. Es gab viele Vereine, ich habe Fußball gespielt, wollte gar Profi werden. Drei, vier Mal Training die Woche, Wochenende Spiel. Klamotten, Schuhe, Transport – alles wurde vom Verein gestellt. Nach dem Freitagstraining gab es stets ein großes Sportlerbuffet. Die Anlagen waren gepflegt, es gab aber auch viel Investitionsstau, weil Material fehlte und das Know How, Stadien und Struktur zu errichten wie heute.

Schule. Ein Bereich, den ich liebte und hasste. Zum einen gab es viele interessante Fächer, es wurde umfänglich unterrichtet und auch nicht streng nach Lehrplan (je nach Lehrer, wie es im Leben halt so ist). Es wurde auch diskutiert und es wurde eben nicht, wie oft behauptet, dauernd und generell Andersdenken unterdrückt. Ich hatte schon 1978 als Achtklässler in Geografie und Geschichte mit dem Lehrer diskutiert, dass es nicht gut ist, dass es keine „Reisefreiheit gibt“ und dass die Mauer steht und zwar so, dass sie am Flüchten hindert und nicht am Hereinkommen… Das hatte keine Folgen. Es gab indes auch dieses Vereinnahmen nach Staatsräson, Pioniere, Freie Deutsche Jugend, Slogans, 1. Mai, die Partei. Wer konnte, entzog sich, so gut es ging. Und lebte ein ziviles, streitbares Leben. Ich habe mich immer renitent verhalten und nie ein Parteibuch in der Tasche gehabt. Kirche. Ich musste als Kind in die Kirche. Ich erlebte dort, dass es eine andere Art von Wohlstand gab. Der katholische Pfarrer hatte alles so in der Art, wie es im Westen sein musste. Mich störte das wenig, bis heute ist das Thema Konsum nur eines von vielen, die das Leben ausmacht. Ich erlebte auch, dass die Kirche sich gut eingerichtet hatte. Und gut konnte mit den „Roten“. Ich kann nur mal so verweisen auf heutige Politprominenz, die es damals im Osten schon leicht hatten (Gauck, Merkel). Und an Feiertagen waren Kirchen gut besucht. Fakt ist auch, dass es diesen Kampf der Ideologien gab, dass sich eine Opposition gerade in Kirchenräumen traf unter der Deckung/ Tarnung christlicher Bibelstunden oder Kreise. Und dass es „staatliche“ Pression gab gegen diese Leute.

Zusammenleben. Es war eine weniger hektische Zeit damals. Es gab viel Zusammenleben der Menschen. Ich spreche von meinem Umfeld. Viele hatten Gärten, in den Kneipen war das Bier preiswert, an den Wochenenden waren die Tanzsäle voll, es gab rege kulturelle, sportliche, freizeitorientierte Bewegungen. Nachbarschaftliche Beziehungen wurden aus Solidarität, Freundschaft und aus wirtschaftlichen Interessen gepflegt. Der Tauschhandel, der Tausch von Kompetenzen und der von Ressourcen wurde gepflegt. Es herrschte irgendwo immer irgendein Mangel, es wurde immer irgendwie eine Lösung gefunden. Im Freundeskreis gab es viele Treffen, viele Diskussionen, offen, kontrovers, kritisch mit dem „realen Sozialismus“, mit dem Westen, über Frieden, über Krieg, über die Ungerechtigkeiten der Welt. Dass es Spitzel gab, das war bekannt, ich habe dennoch stets meine Weltsicht vertreten, Kritik geäußert. Es gab auch die, die zwei Gesichter hatten, daheim schimpfen und draußen die besten DDRler sein. Und ich erfuhr nach der Wende, dass Freunde Spitzel waren.

Urlaub wurde gemacht. Ferien gab es acht Wochen allein schon im Sommer, drei Wochen im Winter. Dann waren alle unterwegs. Im Land und im sozialistischen Ausland. Ich habe viele Reisen unternommen. Bis runter nach Bulgarien ging es. Froh bin ich, dass es nach der Wiedervereinigung (die, wie oben beschrieben, nicht so gut lief) wenigstens mit dem Reisen weiter weg ging. Ich lächle gerade.

Beruf und Karriere. Dass meine Biografie von Ost und West so beeinflusst werden sollte, wie geschehen, vermochte ich erst so nach und nach zu begreifen. Wie schon beschrieben, war ich ab 1985 ein Bürger mit Westverwandtschaft. Das hatte zur Folge, dass mein Berufsweg eingegrenzt war. Kein Studium konnte ich aufnehmen. Ich habe mich mehrfach beworben, habe auch Aufnahmeprüfungen gemeistert: Musiklehrerstudium, Grafik-Kunststudium, Kultur-Ökonomie-Studium, Sport-Studium. Alles endete mit Ablehnungen. Teils mit sonst was für Begründungen. Ich habe Abitur gemacht und einen Beruf in der Textilbranche erlernt, dort ein halbes Jahr gearbeitet und dann einen Job als Mitarbeiter in einem Kulturhaus (später Kultur in der Stadtverwaltung) bekommen. Das war ein Glücksfall. Doch 1988 musste ich zur Armee kurz vor der Ausmusterung…

Noch Fragen? Ach ja, noch ein paar Stichworte. Bettler? Nein. Keine gesehen in DDR Zeiten, nicht im Osten, nicht in Budapest, nicht am Schwarzen Meer, nicht in Prag. (Nach der Wende um so viele mehr…)

Arbeitslose? Es gab offiziell Vollbeschäftigung. Tatsächlich waren die meisten Menschen untergebracht, es gab solche, die viel, andere die nicht viel zu tun hatten. Wohnungslose? Nein. Es gab eine Art Wohnungsknappheit und der Zustand gerade in der Altbausubstanz war teils morbid. Das änderte sich zäh und doch sichtbar und spürbar verbesserten sich die Wohnverhältnisse. Preise? Lebensmittel waren sehr günstig, edle Lebensmittel (Schokolade, exotische Konserven, Weine) eher teuer. Mieten, Strom, Verkehrsmittel, Eintrittspreise – alles niedrig und erschwinglich. Artikel wie Fernseher, Autos und modische Klamotten – teuer.

Als Kind genoss ich das Leben, kaufte mir ne Groschensemmel und ne Flasche Vita Cola und ging zum Fußballspielen auf den Bolzplatz.

Warenangebot im ideellen Bereich? Bücherangebot war sehr gut, Bildbände weniger. Schallplatten auch mau (internationale Musik). Die DDR-Bands die mochte ich nicht besonders ihrer Stilrichtungen wegen (Ostrock, steifer Sound, Texte), da kam mir Jazz und Funk und Soul von Berliner Bands wie Zöllner oder Jessica oder Flair entgegen.

Medien? Ein vielfältiges Angebot. Zeitschriften, Tageszeitungen. Wir hatten drei Zeitungen daheim, Lokal, eine Junge Welt, eine Tageszeitung für Sport (!): Sport-Echo. Dazu noch die Wochenpost, diverse Zeitschriften und Comichefte (Mosaik). Das Sowjetmagazin Sputnik (wurde 1988 verboten, da war ich Soldat, wir haben in der Kaserne protestiert, nach der Revolution war das Blatt wieder erlaubt). – Zu sagen ist auch, dass es einen Zwischen-den-Zeilen-lesen-Journalismus gab und durchaus sehr gute Artikel. Die Verlautbarungsartikel der Obrigkeit – konnte man sich schenken, außer man konnte den Tenor herauslesen. Nebenbei: die Medien heute sind irgendwie nicht besser…

Zum Finale. Skurril, tragikomisch herrscht der Eindruck, das Erleben: bis heute steht die Mauer. Wir sind ab und an im Westen, und öfters kommt bis heute (!) der Spruch „ihr aus der DDR“. Wie mit der Muttermilch weitergegeben. Derlei Ost–West–Unterschied wird gepflegt im Sport, in der Wirtschaft, bei gesellschaftlichen Anlässen, er ist zu spüren bei kleinen Lebenssituationen, die so schnell an uns vorbei huschen, dass man aufmerksam sein sollte, sie zu registrieren. Beispiel? Ja, meine Tochter und ich saßen jüngst in Berlin am Gendarmenmarkt vor einem kleinen Lokal, gleich daneben standen eine Frau und ein Mann in einem Hauseingang eines Hauses für Behörden, Firmen, Versicherungen. Sie rauchten. Sie bliesen den Rauch gen uns. Ich regte mich auf. Der Mann schaltete auf stur und meinte dann noch, ich sollte erst mal Deutsch lernen als Ossi. Wohl bemerkt: er stand mit seiner Zigarette auf Ostberliner Gebiet und laberte einen Menschen an, den er als einen Ossi beschimpfte, weil er einen ostdeutschen Dialekt sprach….

Und nun geht es gen Feiertag. 3. Oktober. Und da fühlt sich die unserige Bundesregierung gemüßigt, einen Bericht zu veröffentlichen von der „Ostbeauftragten“. Und er liest sich wie der Beweis und Beleg dafür, wie in diesen elitären Kreisen gedacht wird, was gehalten wird von der Einheit. Was ist das für eine Einheit, wenn immer wieder geteilt und unterschieden wird und wenn die Schuld von Teilung dann auch noch denen untergeschoben wird, die nichts dafür können?

Mit dem Ärgernis „Ostbeauftragte und Co“ beschäftige ich mich im Teil II.






Donnerstag, 22. September 2016

Windflüchter - Buchtipp

NRhZ_1Windflüchter
Werner Rügemer: Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet


Windflüchter



Buchtipp von Harry Popow

Windflüchter – das sind Bäume und Sträucher an der Meeresküste, die unter konstanten Westwinden stark gekrümmt wurden. Ein anderer Wind weht in der menschlichen Gesellschaft. Er ist eisig und menschenfeindlich, fegt mit aggressiver Gewalt über den ganzen Globus, zwingt mit finanzgewaltigen Helfern und den Medien die Menschen, sich krumm zu machen, sich abzuducken, sich willenlos anzupassen. Ja, dieser Kapitalwind macht die Konsumenten im Namen des Neoliberalismus glauben, das sei alles vernünftig und normal und wer nicht mithalten kann, sei selber Schuld. Und wer das ändern will, der unbequeme Fragen stellt, der sei ein Störenfried im System. Oder ein Krimineller. Oder gar ein Terrorist?






Zu den Widerständigen zählen Millionen ehrlicher nach Wahrheit strebender Leute, Verbände, Bündnisse, Parteien in aller Welt, freilich mit sehr unterschiedlichen Gedankenkonstruktionen oder gar Illusionen. Unter ihnen einzelne Politiker und Künstler. Einer von ihnen ist Werner Rügemer, (Dr. phil.), geboren 1941, Publizist, Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied im deutschen PEN-Club, im wissenschaftlichen Beirat von Attac und bei Business Crime Control. 2002 erhielt er den Journalistenpreis des Bundes der Steuerzahler NRW, 2008 den Kölner Karlspreis für kritische Publizistik.
Manipulierungstechniken des Kapitals

In seinem neuen Sammelband “Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet“ hat uns der unbeugsame Autor einiges zu sagen. Im Vorwort heißt es: „Wie genau konnte der Kapitalismus in die Poren des Verhaltens, Denkens und Fühlens so tief eindringen?“ Und sei er überall derselbe? Täuschen sich die „Deutschen“ nicht darüber hinweg, dass „sie selbst Vasallen sind, freilich privilegierte Vasallen?“

Das 226 Seiten umfassende Werk enthält acht Kapitel und 40 Einzelbeiträge. Das sind ausgewählte Texte aus drei Jahrzehnten, die in unterschiedlichen, verstreuten Medien veröffentlicht wurden, sowohl in öffentlichen Rundfunkanstalten wie WDR und Deutschlandfunk, aber auch in junge Welt, Ossietzky und neue rheinische zeitung. Enthalten sind aber auch unveröffentlichte Alltagsberichte und etwa die ironische Selbstanklage eines Bankers, die Rügemer für ein Theaterstück verfasst hat. Die Beiträge stellen ein Konglomerat der unterschiedlichsten Sichtweisen auf die Machtausübung sowie auf die Manipulierungstechniken des Kapitals dar. Die Geschichte betreffend als auch aktuelle Fragen. Jeder Text beleuchtet auf seine Art die vielfältigen Erscheinungsformen des trickreich geführten Klassenkampfes, der Vergessensproduktion und der machtgestützten Desinformation. (S. 8)

Den Ursprung allen Unrechts – wie kann es anders sein – sieht der Autor im Privateigentum an Produktionsmitteln. Er wählte dazu den Text seiner Sendung aus WDR3 vom 11.06.2005 unter der Überschrift „Arbeit im schalltoten Raum“ aus. Darin heißt es, dass, damit die Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben, die Lohnnebenkosten als auch die Lohnhauptkosten gesenkt werden müssen. Zu den wichtigen Methoden zähle die Entlassung. Das sei „sehr einfach geworden und sehr verbreitet“. (S. 10/11) Man habe Arbeit und sei trotzdem arm. So würde zwar die Armut in Statistiken ausgebreitet, aber, so lesen wir auf Seite 15, die historisch einmalige Reichtumsexplosion seit 15 Jahren sei tabu. Geschwiegen wird auch darüber, „dass in der gegenwärtig vorherrschenden Logik Investitionen gar nicht zu neuen Arbeitsplätzen führen...“ (S. 15) Das Schweigen der Arbeit, das mediale Vorzeigen – etwa in der Tagesschau - hilfloser Betroffenheit (durch Trillerpfeifen und viel Lärm) würden „erst dann aufgehoben, wenn aus Kostenfaktoren und Almosenempfängern (…) vollgültige Mitglieder der Gesellschaft werden, (...)“ Die Arbeit als Menschenrecht müsse „wirksam und für alle eingefordert werden“. (S. 16)

Mit ausgewählten polemischen Beiträgen geht Rügemer gegen die enge Verflechtung der ökonomischen mit der politischen Macht zum Beispiel bei der Kölner Bank Oppenheim vor. Sie gehörte zu einem Bankenkonsortium, das im Wilhelminischen Deutschen Reich z.B. das Großprojekt der Bagdad-Bahn betrieb. Der Bankensproß Max von Oppenheim, als Archäologe verkleidet, stachelte im Auftrag des Wilhelminischen Geheimdienstes im deutschen Interesse während des 1. Weltkriegs Muslime zum Heiligen Krieg an; auch den Nazis diente sich der Banker und Archäologe mit diesem Konzept an. Im Jahre 2011 wurde Max von Oppenheim auf der Berliner Museumsinsel als „Vorbild für die Arbeit von heute“ hingestellt. (S. 186)
Weltherrschaftspläne des US-Imperialismus

Vergessensproduktion auch im Hinblick auf die Weltherrschaftspläne des US-Imperialismus. Insofern ist das Kapitel „Unter der Statue der Freiheit“ (S. 106) interessant. Die am 28. Oktober 1886 eingeweihte Freiheitsstatue in New York symbolisiere nicht die Sklavenbefreiung, sondern die ins Auge gefasste Eroberung der sieben Kontinente und Meere. (S. 109/110) Gegen den deutschen Faschismus habe sich mit den USA zwar eine Koalition der Vernunft gebildet, notwendig sei heute eine neue Koalition, „damit nicht ein Atompilz die Welt im Namen der Freiheit (…) ein letztes Mal erleuchtet.“ (S.113) Auf Seite 152 wird darauf verwiesen, dass seit den 20er Jahren eine Internationalisierung des Kapitals stattfand, einem wesentlichen Vorläufer der europäischen ökonomischen Integration. Schon in der Zeit zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg „hatten die USA Druck ausgeübt, einen für sie offenen europäischen Markt zu schaffen“. (S. 154)

Wenn es dem Kapital passt, dann schweigt es sich selbstverständlich zu solch einem Tatbestand aus: So wird aus der Kiste der Verschwiegenheit die enge Verflechtung des deutschen NS-Kapitals mit der französischen Industrie während der Okkupation hervorgeholt. Der verblüffte Leser erfährt, dass das Giftgas Zyklon-B auch in Frankreich im Auftrag der deutschen Kriegsverbrecher hergestellt wurde. Das Tabu darüber bestehe weiter.(S. 154) Nicht die politische Kollaboration spielte die Hauptrolle, sondern die Ökonomie „bildete das Zentrum der Kollaboration“. (S. 153)
Machtelite mit ihrer Heerschar zur Verblendung des Volkes

Was wäre die Machtelite ohne die zahlreichen Mitmacher, die mit ins Horn blasenden Politiker, die marktkonformen kirchlichen Würdenträger sowie manch williger Künstler. Zwei Namen mögen für viele solcher Leute sprechen. So nahm Rügemer seinen Artikel aus junge Welt vom 23.12.2014 in den Sammelband auf: Der nach dem Ende der DDR neugegründete Freistaat Sachsen wurde  unter Kurt Biedenkopf „das Eldorado für staatliche Subventionen an westliche Investoren, die sich mit ausgelagerten Niedriglohn-Arbeitsplätzen bedankten“. (S. 162) Danke an den Autor auch für den Beitrag über den ehemaligen Kölner Erzbischof und Kardinal Joachim Meisner, zuerst veröffentlicht in junge Welt vom 28.02.2014. Dieser würdigte die kirchliche Militärseelsorge bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Dank gebühre Gott für den Fall des Eisernen Vorhangs. Westeuropa trage nun „eine globale Verpflichtung für den Frieden“. (S. 170)

Nicht nur die dienstbeflissene Unterwürfigkeit spielt den sturmwütenden Geldmächten in die Hände, auch die oft und immer wieder – vor allem bei Gewalttaten – geheuchelte Anteilnahme. Rügemer übernahm seinen Artikel aus der Zweiwochenzeitschrift Ossietzky 2/2013 in den Sammelband; darin hatte er das westliche Führungspersonal geschildert, das sich im entsetzten Nichtverstehen von US- Amokläufen und Massakern suhlt. Warum? „Denn das Verstehen würde das systemrelevante Tabu der westlichen Wertlosgesellschaft aufbrechen: (…) (Seite 75)

Zurück zu den vom Sturm krumm gewachsenen Bäumen an der Küste: Je tiefer sie sich beugen müssen, desto leichter fällt ihnen das Überleben. Einzelpersonen und vor allem Künstlern geht es da nicht anders. Rügemer porträtiert den weltbekannten Maler Gerhard Richter, den Schriftsteller Hans Enzensberger, aber auch – sage und schreibe – den deutschen Nationaldichter Johann Wolfgang von Goethe als Mittäter der jeweiligen Obrigkeit. (S. 198-205)
Die dem Ansturm der Eliten nicht standhalten

Der Autor widmet sich auch denen, die dem Ansturm der Eliten nicht standhalten und deshalb im Neoliberalismus als die allein Schuldigen für ihr Versagen hingestellt und zum Teil verlacht werden. Ab Seite 17 schreibt Rügemer von einer Zeitungsausträgerin, der wegen einer Berufskrankheit die Frührente nicht anerkannt wurde. Sie gibt letztendlich auf und rechnet für ihr restliches Leben mit jedem Cent. Von einem Karnevals-Pfandbierflaschen-Sammler ist ab Seite 22 die Rede. Er sammelt leere Flaschen auf Bahnhöfen und achtet dabei darauf, dass sein Mantel nicht schmutzig wird: Welch eine feine Beobachtung durch den Autor. Auf den Seiten 26/27 wird eine Altenpflegerin vorgestellt, die das oft herrschende Schweigen und die Angst vor Repressionen bricht, einen Erfahrungsbericht verfasst und dazu ermuntert, sich nicht alles gefallen zu lassen. Demonstrieren sei das eine, „aber das erpresste angstvolle Schweigen der (Noch-)Beschäftigten an ihrem (Noch-) Arbeitsplatz ist das große Problem in Deutschland“.

Wer dieses politisch hochbrisante und gesellschaftskritische Werk von Werner Rügemer mit Erkenntnisgewinn lesen möchte, der sollte sich nicht nur auf einzelne Texte stützen, sondern versuchen, alle Kapitel im Sinnzusammenhang zu erfassen. So erschließt sich ein Mosaik, das die kapitalistische Erfolgsspur mit all ihren Betrugsserien und Blutopfern nicht nur weiter verdeutlicht – bis in die Gegenwart -, sondern auch dem Anliegen des Autors gerecht wird, mit der Wahrheit gegen den machtgestützten Relativismus anzukämpfen, Mut zu machen, an einer friedlichen Zukunft mitzuarbeiten. Menschen sind keine Windflüchter.


Werner Rügemer: „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur“, Papyrossa-Verlag, Köln 2016, 226 Seiten, 14,90 Euro

Erstveröffentlichung in der NRhZ,
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23139 , Online-Flyer Nr. 580  vom 21.09.2016






Dienstag, 20. September 2016

Gedicht von Wolfgang Bittner

Bomben-Stimmung

Von Wolfgang Bittner

Ganze Länder zerstört,
aufgemischt, entstaatlicht, chaotisiert.
Hunderttausenden das Leben genommen,
Millionen in die Flucht getrieben,
Abermillionen die Existenz entzogen,
Hunger und Not verbreitet.
Menschlichkeit, ein schöner Traum,
ein Vorwand,
„humanitäre Einsätze“, heißt das
oder „Demokratisierung“.
In Wahrheit: Profit, Rendite,
Strategie und Größenwahn.

Zurück bleiben: ein Schlachtfeld,
die Weinenden, Leidenden,
die Entrechteten und Bedürftigen,
die tickenden Zeitbomben –

und das Staatstheater
 Terrorismushysterie.





Montag, 19. September 2016

Zur Berlin-Wahl...


Berlin-Wahl: Wachsende Wut gegen etablierte Parteien


VERÖFFENTLICHT VON EGESTER ⋅ 19. SEPTEMBER

von Johannes Stern – http://www.wsws.org/

Das Ergebnis der Abgeordnetenhauswahl in Berlin zeigt die wachsende Wut und Entfremdung großer Teile der Bevölkerung von der gesamten offiziellen Politik. Die etablierten Parteien unterscheiden sich kaum voneinander und vertreten das gleiche rechte und unsoziale Programm. Sie waren in den vergangenen 25 Jahren alle an unterschiedlichen Regierungen in der Hauptstadt beteiligt und haben eine soziale Katastrophe angerichtet. Am Sonntag erhielten sie dafür an den Wahlurnen die Quittung.

Die sogenannten Volksparteien CDU und SPD, die bislang den Berliner Senat stellten und auch im Bund gemeinsam regieren, brachen mit Verlusten von jeweils mehr als 6 Prozent regelrecht ein. Mit 21,6 Prozent erreichten die Sozialdemokraten eines ihrer schlechtesten Ergebnisse seit der Wiedervereinigung. Die CDU fuhr mit 17,5 Prozent ihr schwächstes Ergebnis in Berlin seit Gründung der Bundesrepublik ein. Die Grünen verloren im Vergleich zu 2011 2,5 Prozent und kamen auf 15,2 Prozent der Stimmen.

Die Linkspartei konnte nach ihrem katastrophalen Wahlergebnis vor fünf Jahren zwar einige Stimmen hinzugewinnen und erhielt 15,7 Prozent. Wenn sich ihr Spitzenkandidat Klaus Lederer nun als Wahlsieger feiert, ist das allerdings absurd. 2011 hatte die Linkspartei die Quittung für zehn Jahre brutaler Kürzungspolitik im sogenannten rot-roten Senat erhalten und war auf 11,7 Prozent abgestürzt. Zehn Jahr zuvor hatte ihre Vorgängerin PDS, die bis zur Wende als SED den Ostteil der Stadt regiert hatte, noch 22,6 Prozent bekommen.

Die FDP zog nach ihrem historischen Tief von 2 Prozent im Jahr 2011 mit knapp über 6 Prozent wieder ins Berliner Abgeordnetenhaus ein.

In einer Situation, in der sich die Arbeiterklasse noch keine Führung aufgebaut hat, um unabhängig ins politische Geschehen einzugreifen, konnte erneut die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) von der wachsenden Wut und Empörung über die etablierten Parteien profitieren. In Berlin hat die AfD mit 14,1 Prozent zum zehnten Mal infolge den Einzug in ein Landesparlament geschafft. Die Mehrheit der AfD-Wähler stimmte vor allem aus Protest für die rechtsextreme Partei. Laut dem Meinungsforschungsinstitut infratest dimap gaben ihr nur 26 Prozent aus Überzeugung ihre Stimme. 69 Prozent wählten die AfD aus Enttäuschung über die anderen Parteien.

2011 hatte die Piratenpartei nach einem großen Medienhype aus dem Stand 8,9 Prozent der Stimmen erhalten und mit ihren Forderungen nach mehr Transparenz und Mitbestimmung die wachsende Unzufriedenheit vor allem jüngerer Wähler kanalisiert. In den vergangenen fünf Jahren entpuppten sich die Piraten jedoch als ganz normale bürgerliche Partei und verloren schnell wieder ihre Unterstützung. Am Sonntag verpassten sie mit weniger als zwei Prozent der Stimmen klar den Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus.

Unter Bedingungen einer tiefen Krise der bürgerlichen Herrschaft, die sich gegenwärtig im Niedergang der etablierten Parteien und im Aufstieg der AfD ausdrückt, betrachten weite Teile der herrschenden Klasse eine rot-rot-grüne Regierung als beste Option, um das Programm von Sparpolitik und innerer und äußerer Aufrüstung fortzusetzen. Der Spitzenkandidat der SPD, Michael Müller, hatte sich bereits im Wahlkampf für eine Zusammenarbeit mit den Grünen und auch der Linkspartei ausgesprochen. Er sehe „viele Schnittstellen mit den Grünen“ und werde „auch Sondierungsgespräche mit anderen Parteien führen“, erklärte er am Wahlabend.

Vertreter der Linkspartei versicherten, sie stünden nicht nur zu einem rot-rot-grünen Bündnis in Berlin, sondern auch auf Bundesebene bereit. So erklärte die Parteivorsitzende Katja Kipping, das Wahlergebnis sei nicht nur ein „großartiges Signal“ für Berlin, sondern auch „für den Bund“. Der Linken-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Dietmar Bartsch, betonte: „Selbstverständlich steht auch Sahra Wagenknecht für eine andere Konstellation im Bund zur Verfügung.”

Die Partei für Soziale Gleichheit, die mit einer Landesliste und mit Direktkandidaten in Wedding, Tempelhof-Schöneberg und Friedrichshain an der Wahl teilnahm, hatte bereits in ihrem Wahlaufruf vor Rot-Rot-Grün gewarnt:

„Die Berlinwahl gilt als Test, um die Weichen für eine rot-rot-grüne Koalition im Bund zu stellen. Eine solche Regierung wäre kein Fortschritt. 1998 hatten die SPD und die Grünen ein Regierungsbündnis gebildet, um die Bundeswehr wieder in Auslandseinsätze zu schicken und mit der Agenda 2010 Löhne und Sozialleistungen zu senken. Nun soll dieses Bündnis mithilfe der Linkspartei neu belebt werden, um die nächste Runde des Sozialabbaus einzuleiten und dem deutschen Militarismus Bahn zu brechen.“

Während des gesamten Wahlkampfs signalisierte die Linkspartei der herrschenden Klasse, dass sie ein zuverlässiger Partner für die Umsetzung dieser reaktionären Pläne sei.

In ihrem Berliner Wahlprogramm forderte sie neben einigen sozialen Versprechen eine „fundierte Ausbildung und Ausstattung“ der Sicherheitskräfte und die Einstellung von „mehr Polizistinnen und Polizisten“. Im Bundestag warf Bartsch der Großen Koalition vor wenigen Tagen vor, „eine verfehlte Personal- und Sparpolitik zu verantworten“. Sie habe die Polizei in den vergangenen Jahren „zum Sparopfer“ gemacht und seit 1998 „17.000 Stellen bei der Polizei abgebaut“. Notwendig sei jedoch ein „handlungsfähige[r] Staat“. Dazu gehöre „gut ausgebildetes und ausgestattetes Personal im öffentlichen Dienst, insbesondere bei der Polizei“.

Auch in der Kriegsfrage bereitet Die Linke dieselbe Kehrtwende vor, wie die ehemals pazifistischen Grünen vor 18 Jahren. Während des Wahlkampfs erklärte Bodo Ramelow, der als erster „linker“ Ministerpräsident die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen anführt, im Spiegel, die Linken seien „keine Pazifisten“. Wagenknecht hatte ihrerseits im ZDF-Sommerinterview versichert: „Natürlich wird Deutschland nicht an dem Tag, an dem wir in eine Regierung einsteigen, aus der Nato aussteigen.“

Während alle Parteien für innere Aufrüstung und Krieg trommeln, die Spannungen zwischen den Großmächten eskalieren und ein neuer Weltkrieg droht, stellte die Partei für Soziale Gleichheit den Aufbau einer internationalen Bewegung gegen Krieg ins Zentrum ihres Wahlkampfs. Auf tausenden Plakaten und zehntausenden von Flugblättern, mit Infoständen, öffentlichen Versammlungen und Auftritten im Fernsehen und im Internet betonte sie, dass sich eine solche Bewegung auf die Arbeiterklasse stützen, gegen den Kapitalismus richten, für ein sozialistisches Programm kämpfen und international sein muss.

Der PSG ging es nicht darum, durch oberflächliche Parolen möglichst viele Stimmen zu erhalten, sondern die künftige Entwicklung vorzubereiten, in der die Arbeiterklasse mit der Frage von Krieg und Revolution konfrontiert sein wird. Dafür hat sie so viele Stimmen erhalten wie noch bei keiner Wahl zuvor in Berlin. Mit über 2000 Stimmen konnte sie ihr Ergebnis von 2011 (1690 Stimmen) deutlich steigern.

In den Bezirken, in denen sie ihre Schwerpunkte legte, erreichte sie noch höhere Anteile. In Mitte 6 holte Peter Hartmann 0,9 Prozent der Erststimmen. Andreas Niklaus erhielt in Mitte 7 0,6 Prozent, Der Vorsitzende der PSG, Ulrich Rippert sowie Christoph Vandreier und Endrik Bastian erreichten in ihren Wahlkreisen jeweils 0,5 Prozent. Markus Klein erreichte in Friedrichshain-Kreuzberg 5 0,3 Prozent.

http://www.wsws.org/de/articles/2016/09/19/berl-s19.html





Sonntag, 18. September 2016

In die Stille gerettet

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1. Leseprobe zum Buch „In die Stille gerettet“ - Autor Harry Popow


Es ist einer jener Tage im frühlingshaften März, von denen man sich wünscht, sie mögen andauern, in diesem Zustand der heiteren Gelassenheit, so würzig die Luft, so schwerelos die menschliche Seele, so eins kann sie sein mit der Natur, so ausgeglichen und glücklich darf man sich fühlen. Da sitzt er nun, ein in die Jahre gekommener grauhaariger Mann, auf der Terrasse am kleinen schwedischen Holzhäuschen, über ihm der unendlich kobaltblaue Himmel. Weiße Schwäne ziehen in langer Kette mit gleichmäßigem Flügelschlag zu den stillen Seen in den weiten nordischen Wäldern. Noch sind die Baumäste kahl, doch dicht am Haus haben sich bereits Schneeglöckchen und Krokusse eingefunden, verpackt in einem Erdboden, der des Nachts noch in Eiseskälte erstarren wird. In den Niederungen liegen die Sümpfe noch unter brüchigem Eis. Irgendwo bellt ein Hund, eine Kreissäge kreischt. Der Träumer in ihm ist nicht totzukriegen.



Plötzlich ein Beben, dann ein Grollen, ein Donner, der über die Wälder kommt. Das Eis des Orrefors-Sees bricht auf mit lautem Getöse, gleich starken Explosionen. Diese Geräusche – da sind sie wieder, die Bilder von einst, sie drängen sich mitunter hinter seine Stirn: Er jagt als Ausbilder junge Männer über das Übungsfeld. Jahre danach greift er zum Kugelschreiber und schreibt über jene, wie sie sich plagen, wie sie das Notwendige meistern lernen. Ja, er hat als Offizier und Militärjournalist in der Nationalen Volksarmee zweiunddreißg Jahre mitgewirkt an einer Alternative zum Krieg, an einem Entwurf für ein großartiges Gesellschaftsgemälde. Darauf ist der einstige Oberstleutnant stolz. Nicht aber darauf, daß man im kleinen Land mit der Zeit vieles vermasselt hatte. Eine ganze geschichtliche Periode, ein Startversuch in ein menschenwürdigeres Dasein ist durch Unvermögen abgestürzt. Auf absehbare Zeit unwiderruflich. Verspielte Chancen! Und was dann kam ...

Nun aber aalt er sich in der Vormittagsstunde auf der Sonnenbank, freut sich darauf, mit Cleo, seiner Frau, auch heute wieder kilometerweit zu wandern, hin und wieder zu schreiben an seinen Tagebuchnotizen oder zu malen. An wärmeren Tagen wird er seine Staffelei in den Garten stellen, Farben und Pinsel bereit legen. Ja, er hat wieder Lust, seinem späten Hobby nachzugehen. Ihm schwebt ein Ölgemälde vor, mit roten Rosen, Tulpen, Dahlien, Gladiolen, Kapuzinerkresse. Er sieht sie schon vor sich, die sommerlichen Farbtupfer im Garten, und mittendrin das schwedische Holzhaus. Ja, das will er malen ...


Das kleine Schwedenhaus

Es ist bei weitem kein repräsentatives Traumhaus, in dem Cleo und Henry seit 1996 leben, eher ein bescheidenes, aber sehr schmuckes kleines Holzhäusel mit vier Zimmern. Ausreichend für sie, ihre tollen Kinder und Enkel, die, so oft es geht, gern zu Besuch kommen. Das Grundstück umfaßt einen 900 Quadratmeter großen Garten, bewachsen mit riesigen Haselnußhecken, drei imposanten Wacholdern und einer gewaltigen, etwas altersschwachen Birke. Das Haus hat – ganz schwedentypisch - zwei Eingänge, um in strengen Wintern bei Schneeverwehungen zwei Notausgänge zu haben. Im Wohnzimmer steht ein antiker weißer Porzellankachelofen, der bis zur Decke reicht. Dieser ist auch als Kamin nutzbar. Geheizt wird nur mit Holz, das es ja in Schweden zur Genüge gibt. Ein Durchgang führt zum Eßzimmer. Vom runden Tisch aus hat man nach allen Seiten einen herrlichen Blick in den am Grundstück angrenzenden Wald. Steigt man die Holztreppe hinauf, findet man zwei Zimmer mit schrägen Wänden, das Schlafzimmer in Hellblau mit weißen antiken schwedischen Möbeln, das Gästezimmer ganz in Rosé. Ein Schmuckstück auch das voll geflieste Bad mit Holzdecke und romantischen Badraummöbeln im gleichen Dekor. Außergewöhnlich schön ist die Herbstzeit. Dann liegt oft ein wenig Schwermut über dem stillen Ort Gadderos (im Glasreich Smaland gelegen) mit seinen roten, gelben oder braun-weißen Holzhäusern. Am frühen Nachmittag kriecht langsam aus den Wäldern die Dunkelheit hervor und hinter den Fenstern leuchten die Schwibbögen.


Harry Popow: „In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3