Daumen
hoch & Daumen runter
Antwort
an einen, der als Ossi den Daumen auf der richtigen Stelle hat, und
der dennoch manche Wunde nicht zu diagnostizieren vermag. Es geht um
den Journalisten Frank Blenz aus Plauen i.V., der einen großen (und
großartigen) Artikel zum Zusammenwachsen und Nichtzusammenkommen
zwischen DDR und BRD in den NachDenkSeiten geschrieben hat. Mit
freundlicher Genehmigung durch Albrecht Müller konnte ich den
Blenz-Artikel in meinem Blog veröffentlichen.
Lieber
Frank Blenz, ich antworte hiermit in einem offenen Brief auf Deinen
Artikel „Mit der Vereinigung DDR/BRD zu den Konditionen der BRD war
der schöne Aufbruch, der einer aller hätte werden können, vorbei“
in den NachDenkSeiten vom 22. September 2016.
Ich
freue mich über Deinen Beitrag. Hatte ich mir bereits zur Zeit der
sogenannten Zeitenwende innerlich gesagt, jetzt müssten nach und
nach viele Zeitzeugen aus der DDR ihre Lebensläufe schildern, damit
die Historiker aus dem bürgerlichen Lager nicht alles, was geschah,
unter den Tisch fegen und damit Geschichte verhunzen können.
Ich
selbst habe die letzten Kriegsjahre und Tage noch als Kind erlebt,
machte begeistert mit bei den Pionieren und später in der FDJ.
Voller Bewunderung bin ich heute vor den großen Leistungen derer,
die unseren Staat aus dem Trümmerfeld holten und denen Mut
zusprachen, die sich ebenso qualvoll bemühten, die geistigen
Trümmern der Naziideologie loszuwerden.
Meine
wichtigste Erkenntnis heute als 80-jähriger: Danke für den in
Lektionen, Seminaren, im Fernstudium und in den Medien propagierten
Tiefenblick in die gesellschaftlichen Zusammenhänge, vor allem in
den engen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg. Die
bürgerlichen Medien und Politiker nennen das ganze Indoktrinär.
Mögen sie sich damit selber schützen, denn nichts anderes tun sie
selber sehr ausgiebig, diesmal aber zur Verdummung der Massen. Uns
damaligen, die sich bewusst ins Geschehen einbrachten, hat es gut
getan, weil man schnell das Wofür und Wogegen lernte, wobei auch die
Sinne für Unvolkommenes geschärft wurden. (Nachzulesen auch in
meinen persönlichen Erinnerungen „In die Stille gerettet“).So
ist es nicht verwunderlich, dass ich heute sämtliche Vorgänge in
der kapitalistischen Gesellschaft als Ausdruck des allerschärfsten
Klassenkampfes betrachte und keinerlei Illusionen habe über die
wirklichen Absichten sowohl der USA als auch der EU mit Deutschland
an der Spitze.
Nun
ist es unter weitgehend Gleichgesinnten nicht angebracht, sich in
einen nutzlosen politischen Streit zu begeben, aber um Klarheit
sollten Gesinnungsfeunde schon bemüht sein. Klare Worte im immer
stärker wirbelnden Klassenkampf tun bitter Not – im Interesse
unserer zur Zeit so sehr gefährdeten Zukunft. Wenn ich einzelne
Deiner Aussagen kritisch betrachte, dann sind das meine ganz
persönlichen Sichten, die ich im Verlaufe meines Lebens gewonnen
habe, und zu denen ich voller Überzeugung auch heute noch stehe.
Du
schreibst
Zitat
eins: Die
vielleicht bisher beste, fortschrittlichste Variante der Umsetzung
eines deutschen Staates haben wir im Osten erlebt, und dies in einer
kurzen Phase, welche inzwischen vergessen scheint und doch so
passiert ist zwischen dem Oktober 1989 und dem Frühsommer 1990.
Damals hieß diese Gegend noch DDR. Das wird so gut wie nie
besprochen; die DDR trägt bis heute bei den Meinungshoheiten stets
das Gesicht der Diktatur und den Stempel Unrechtsstaat. Dass sich das
Land, dieser Teil Deutschlands aber entwickelte, dass es eine
Revolution gab, dass es mit einem Mal ein anderes Land war –
Pustekuchen.
Doch in diesen wenigen Monaten lebte es sich in der DDR so luftig frei und Revoluzzer erfrischend und freudig visionär wie naiv.
Doch in diesen wenigen Monaten lebte es sich in der DDR so luftig frei und Revoluzzer erfrischend und freudig visionär wie naiv.
Wie
kann ein kurzer Zeitabschnitt, in dem sowohl Ängste (vor allem vor
Arbeitslosigkeit), Hoffnungen, politische Orientierungslosigkeit,
Dummheit, Gier nach materiellen Werten, ja, Selbstmorde,
Wankelmütigkeit, Wechsel der politischen Ansichten, unsichere
menschliche Beziehungen, Frieden oder Krieg so dicht nebeneinander
existierten, wie kann diese nach den Ergebnissen beurteilte Wende als
Konterrevolution, wie kann das alles ein Ausdruck von „richtigem
Sozialismus“ sein? Zumal gewisse führende Leute versucht haben,
mit dem Besen alles über den Haufen zu fegen? Die wichtigste
Umsetzung war wohl doch vorher geschehen: Vertreibung der
Kriegsverbrecher, Enteignung des großen Privateigentums und die
handfeste Politik „Nie wieder Krieg!“ „Nie wieder vom deutschen
Boden aus.“ Und die Welt hatte das sehr wohl zur Kenntnis genommen,
dieses großartige Signal aus dem fortschrittlichsten Deutschland,
das es bisher gab, vor allem in außenpolitischer Hinsicht.
Zweites
Zitat: Die
jungen Leute fern von Konsumlust und voller Lust für eine bessere
sozialistische Gesellschaft konnten sich gut vorstellen, die Ideen
fern von Ausbeutung von Menschen, ein Miteinander, ein freies Leben,
Solidarität und endlich auch ein Zusammenwirken von West mit Ost
fern vom Kalten Krieg zu entwickeln. Gorbatschow war der Star.
Das
es so viele Illusionen gab, ist auch einem jugendlichen Leichtsinn
geschuldet und der Tatsache, dass kaum ein politisches Argument zur
Entlarvung der westlichen Ideologie wirklich gezündet hat. Dazu kam
noch die übermäßige Sucht, sich von bürgerlichen Medien beirren
zu lassen, abgesehen von der Unfähigkeit in der politischen Arbeit,
besonders auf die Interessen und Bedürfnisse der Jugend einzugehen,
trotz Bemühungen.
Drittes
Zitat: mit
einem Mal war der Soldat Bürger und Mensch und der Ehrendienst
einer.
Objektiv
war der Ehrendienst tatsächlich einer, nämlich im Interesse des
Friedens. Allerdings: Kann man sich einen „demokratischen Dienst
vorstellen“, bei dem gefragt wird, ob wir heute über die Sturmbahn
gehen oder lieber „Gesangsunterricht“ abhalten wollen?
Viertes Zitat:
Doch richtig Sozialismus konnte man die Realität bis zur Wendezeit
nicht nennen. Danach schon, in Ansätzen.
Siehe
Antwort oben. Brecht sagte einst, ein schlechter Sozialismus ist
besser als gar keiner. Ein schwerer Fehler in der Vergangenheit:
Jegliche Fehlerdiskussionen aus „Angst vor dem Klassenfeind“ zu
unterlassen, zu unterdrücken. Die Klassiker des Marxismus lehrten,
jeden Schritt stets an der Praxis zu messen, um Fehler zu vermeiden.
Fünftes Zitat: Bei der Umsetzung zwischen 1949 und 1989 im Herbst, da standen welche dazwischen, die eine Realität durchzogen und zu verantworten haben, die bisweilen skurrile Züge trug. Sie gab es:
Die Gegner: Die Eliten der Parteikader, der Sicherheitsorgane, der Blockparteien und der Kirchenoberen, der Machthaber und Strippenzieher, der Mitläufer, die da alle mitmachten bei dem Nachplappern und Machtmissbrauchen, weil sie sich eingerichtet hatten.
Ich
schäme mich für diese plumpe Generalwäsche. Anpasser, Karrieristen
– ja, die gibt es stets und überall. Damals, um hochzuklettern,
heute, um Geld zu machen, um den Arbeitsplatz zu behalten.
Haufenweise sogar!! Aber die vielen, vielen engagierten Leute, die im
vollen Bewusstsein, auf der richtigen Seite zu stehen und etwas für
die Menschen zu tun, diese Leute generell in eine Ecke mit Mitläufern
zu stellen, zeugt von kultureller Maßlosigkeit und von Verachtung
gegenüber den „Aktivisten der ersten Jahre und danach“, wie oben
beschrieben. Mehr noch: Viele jüngere Leute, die in der DDR eine
gute Kindheit hatten, könnten ruhigen Gewissens denjenigen danken,
die für so ein sinnerfülltes
Leben gesorgt haben, einschließlich der Wehrbereitschaft zur
Sicherung des Friedens.
Achtes
Zitat:
Regierung, Parlamente sitzen an den Hebeln, sie können, sie müssen
verändern. Für alle Menschen. Sie können Sanktionspolitiken
ändern, sie können aus einem Arbeitsmarkt eine Arbeitsgesellschaft
machen. Sie können den Druck der Leistungsgesellschaft mildern, in
dem neue Konzepte und Ideen des Zusammenlebens, der Solidarität, des
Humanismus, der Ökologie installiert und ausprobiert werden. Warum
müssen wir Bundesbürger uns immer über Geld, über was habe ich,
was bin ich, woher komme ich definieren? Dabei sind wir alle und eben
im Besonderen die Regierenden mit ihren Möglichkeiten zu entscheiden
gefordert. Hierzulande, in Europa, weltweit. In Zusammenarbeit und
Freundschaft und Koexistenz mit unseren Nachbarn. Und die Menschen
aus dem Osten machen auch mit.
Welch
ein heißer Wunsch kommt in diese letzten Zeilen des Autors Frank zum
Ausdruck. Es bleiben leere Worte, Wunschträume, die sooo nicht
erfüllt werden. Weil die Elite bei Strafe ihres eigenen Untergangs
mit allen Mitteln jegliche Veränderung der Eigentums- und
Machtverhältnisse zugunsten einer echten Volksdemokratie zu
verhindern weiß. Da kann man noch so viel bei Demos mit
Trillerpfeifen Lärm machen, Proteste an die Regierung schicken, das
ist ja alles erlaubt und legitim. Nur eines darf man nicht: Die
Geschichte wieder einmal umdrehen, diesmal wirklich im Sinne der
ausgebeuteten Massen. Doch im Neoliberalismus, da sollst du dich um
dich selbst kümmern, da sollst du stillhalten im Interesse des
Kapitals. Hierzu passend ein Zitat aus einem Buch, das ich kürzlich
rezensiert hatte:
Der
neue Mensch
Zitat
aus „Windflüchter“, Seite 62, Werner Rügemer, „Bis diese
Freiheit die Welt erleuchtet“
Wie
wurde der Marxismus gescholten, weil er einen „neuen Menschen“
wollte. Dieser „neue Mensch“ habe das Wesen des Menschen
vergewaltigt und habe nur in einer Schreckensherrschaft enden können.
Doch der Westen propagiert selbst seinen neuen Menschen: den Homo
oeconomicus.
Der
ist unfehlbar und steht jenseits von Gut und Böse. Je größer seine
individuelle Profitgier, desto größer seine Effektivität und sein
Ansehen. Er soll das realisieren, was dem Kommunismus vorgeworfen
wurde: Der schuldlose Homo oeconomicus, Militär,
Medienmacher und Geheimdienst bei Fuß, soll das Ende der Geschichte
einleiten und die Menschheit in das endgültige Paradies führen.
Was
bleibt? Insgesamt ein toller Zustandsbericht, schon dafür kann man
sich wie bei jedem Arzt bedanken. Mehr aber auch nicht.
Lieber
Journalist Frank Blenz, Daumen hoch für die kritische Analyse.
Manche mögen schon dabei auf die Barrikaden gehen... Aber sollen sie
jene um Veränderungen bitten, die Du in Deinem Artikel so arg mit
Recht befeuerst? („Die Regierenden sind gefordert“) Sollen sie
beten? In Stille verharren unter dem Motto „weiter so“???
Vielleicht findest Du im Namen des Pluralismus guten Rat im
„demokratisch gewählten Soldatenrat“? Also dafür Daumen runter.
Beste
Wünsche von Harry Popow
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