Samstag, 29. Juni 2019

OHNE HORIZONTE... - https://kenfin.de



Dysfunktion der Macht um Acht: Die Bundespressekonferenz als Abbild unserer Scheindemokratie


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 29. JUNI 2019


von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam – https://kenfm.de

Die Bundespressekonferenz (BKP) in Berlin ist ein untypischer Verein von Journalisten. Er lädt Kanzler, Minister, Regierungssprecher sowie die Spitzenvertreter von Wirtschaft und Gesellschaft dazu ein, auf seiner Bühne Rede und Antwort zu stehen. Während im Ausland Medienleute üblicherweise von den politisch Mächtigen einberufen werden und deren Informationen in Empfang zu nehmen haben, sollte es in Deutschland genau andersrum vonstattengehen: Journalisten erfragen eigenständig Auskünfte von ihren Gästen, Nachrichten werden offen erarbeitet, nichts wird „off the records“ durchgestochen, nichts im Hinterzimmer gekauft oder als Auftragsbotschaft vergeben. Falls dieses Konzept je funktioniert hat, so kann heute davon keine Rede mehr sein. Die BPK ist zum Demonstrationsort programmierter Regierungsverlautbarung und journalistischer Rückgratlosigkeit verkommen.

Die versammelten Repräsentanten von Presse, Funk und Fernsehen – wenige Ausnahmen bestätigen die Regel – lassen sich in der BPK Woche für Woche von Politikern und speziell von den Regierungssprechern ebenso abspeisen, wie man quengelnde Gören mit Gummibärchen abwimmelt.

Das verbale Manna des Staatssekretärs Steffen Seibert und seiner Gefolgschaft aus den Pressereferaten der Ministerien besteht meist aus einem Gemisch von Halbwahrheiten, Desinformation, Schönfärberei, faulen Ausreden und Auskunftsverweigerung, dargereicht in bleiernen Floskeln und in einer verklemmten, steifen Atmosphäre. Die Auftritte der beamteten Sprechautomaten sind an Schamlosigkeit und Arroganz kaum zu überbieten. Spürbar reden sie oft wider besseres Wissen und letztlich daran interessiert, sich ihre Posten zu erhalten.

Ein Blick auf den gepflegten Rahmen: Die BPK hat ihren Sitz im Pressehaus am Schiffbauerdamm 40 in Berlin. Die Etage ist angemietet, das Gebäude gehört der Allianz Versicherung AG. Um recht zu bewerten, was sich dreimal wöchentlich im Raum 0103 abspielt: Da sind bei weitem nicht alle rund 920 BPK-Mitglieder versammelt, sondern üblicherweise höchstens zwei Dutzend Personen, meistens Reporter der Nachrichtenagenturen und der Neuen Medien. Die Stallwache eben. Die Funkhäuser, auch das ARD-Hauptstadtstudio, sind per Standleitung zugeschaltet, ihre Mitarbeiter selten persönlich anwesend. Diese benutzen lieber die eigene Kriechspur zu den Regierenden und bedürfen selten des Umwegs über die BPK.

Rein formal betrachtet könnte die Bundespressekonferenz ein Garant für gelebte Demokratie und Grundgesetzlichkeit sein. Ihre Journalisten könnten als eingetragene Mitglieder des BPK-Vereins realisieren, was Verfassungsrechtler als entscheidend hervorheben:

„Die unerlässliche Voraussetzung für das Funktionieren der repräsentativen Demokratie bildet daher eine jedem Bürger zugängliche Berichterstattung über alle politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und Entscheidungen, die dem Einzelnen seine individuelle politische Partizipation und Urteilsbildung erst ermöglicht. Diese verantwortungsvolle Aufgabe wird von den Massenmedien wahrgenommen, deren demokratischer Hauptauftrag es ist, jedem Bürger die Handlungsabläufe in Staat und Gesellschaft zur Kenntnis zu bringen und transparent zu machen.“

Noch mal zum Nachschmecken: „Verantwortungsvolle Aufgabe, von den Massenmedien wahrgenommen“ ist es, „die Handlungsabläufe in Staat und Gesellschaft transparent zu machen“? Ja freilich, schön wär’s!

Politische Urteilsbildung und Teilhabe bedürfen nicht nur der Vermittlung aller interessierenden Fakten, sondern auch eines funktionsfähigen Debattenraumes. Nachrichtenanbieter wie ARD-aktuell hätten der Öffentlichkeit nicht nur zu vermitteln, was offiziell — beispielsweise in der BPK — verlautbart wird. Sie müssten ihr Publikum auch über die zugehörigen unterschiedlichen Meinungen informieren, damit es die jeweiligen Positionen gegeneinander abwägen kann:

Durch die Veröffentlichung der politischen Debatten in Parlamenten, Parteien und Interessensgruppen, aber auch durch eigene Kommentierung derselben, sollen die Medien zur Meinungsbildung der Bürger beitragen. Denn nur solche Themen, die in den Massenmedien diskutiert werden, können in einer breiten Öffentlichkeit wirksam werden und im Idealfall– so die urdemokratische Grundidee der Pressefreiheit – der vernünftigsten Meinung zum Durchbruch verhelfen.

Trefflicher lässt sich nicht beschreiben, woran es der Tagesschau und ihren Geschwistern im Geiste fehlt: am diskussionsoffenen Horizont. Unsere Medien verzichten auf Eigenständigkeit, sie driften im Mainstream, sind Teil desselben und verbreiten Einheitskost. Sie prägen uniformierte Denkmuster im Sinne der vorherrschenden Politik. Nicht nur die Tagesschau-Sendungen sind darauf ausgerichtet, das Empfinden und Denken ihres Publikums zu uniformieren

Die Nachrichtensendungen sind Produkte eines Konglomerats von journalistischen Institutionen, Verlagen, Sendeanstalten, politischen Gremien, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Interessengruppen, die sich allesamt selten oder nie für die gesellschaftliche Aufklärung ihrer Adressaten engagieren. Vielmehr stützen sie ein krisenanfälliges, ungerechtes, aggressives, der Mitwelt schädliches kapitalistisches System, das einer ausschließlich am privaten Gewinn orientierten Zielsetzung dient. Die Methodik: Informationen auslassen, beschönigen, Feindbilder aufbauen, Scheindebatten anstoßen und führen, den Mächtigen eine Plattform bieten und als ihre allenfalls scheinkritischen Meinungsmultiplikatoren agieren.

Was sich als Informationswesen tarnt, ist tatsächlich eine eingefahrene, reibungslos funktionierende Anlage für sanfte, aber permanente und wirksame Gehirnwäsche. Die Quittung dafür ergibt sich aus Umfragen, die von den kritisierten Medien selbst in Auftrag gegeben werden. Sie erkennen den Mainstream-Medien nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung noch einige Glaubwürdigkeit zu. Wer die demoskopisch ermittelten Ergebnisse allerdings unter die Lupe nimmt, stellt fest: Weniger als die Hälfte der Bevölkerung hält die Medien für unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Interessen. Ein Offenbarungseid wäre fällig.

Am ehesten wird noch dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den überregionalen und regionalen Tageszeitungen so etwas wie tradierte Glaubwürdigkeit zugebilligt. Aber auch dabei sind 60 Prozent der Befragten der Ansicht, dass unerwünschte Meinungen in der Berichterstattung ausgeblendet werden. Ebenso viele gehen davon aus, dass Vorgaben für die Berichterstattung gemacht werden – vor allem von Seiten der Regierung oder staatlicher Stellen, von der Wirtschaft oder von führenden Parteien.

65 Prozent, also zwei von drei Befragten, sind der Ansicht, dass Journalisten nicht immer sagen dürfen, was sie wirklich denken (ein Manko, das stromlinienförmige deutsche Journalisten gern ihren russischen Kollegen ankreiden). Zwei Drittel fordern eine tiefergehende Berichterstattung: In ihren Augen sollten die Medien Sachverhalte nicht zu sehr vereinfachen oder stereotyp darstellen (66 Prozent) und mehr auf die Folgen der Entscheidungen von Politikern eingehen (61 Prozent). Die Mehrheit wünscht sich zudem mehr Transparenz in den Medien – die sollten die Herkunft ihrer politischen Informationen kenntlich machen. Die Hälfte der Deutschen wünscht sich, dass die Medien ihnen und ihren Alltagssorgen mehr Aufmerksamkeit schenken. (ebd.)

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht mit seiner Berichterstattung nicht besser da als die kommerziellen Sender. Substantielle Abweichungen zeigen sich nicht. Die rundfunkbeitragspflichtigen Angebote unterscheiden sich allenfalls dank seriöserer Präsentation, geschmackvollerer Krawatten ihrer Selbstdarsteller – und dank ihrer jahrzehntealten Darbietungsriten (Tagesschau-Gong), die gleichzeitig das Signal zum Öffnen des Sechserpacks oder der Weinflasche liefern.

Noch bietet die BPK Journalisten beide Möglichkeiten: Sie können mittels Fragen und Nachfragen an politische Spitzenvertreter sowohl ein realistisches als auch ein illusionäres Bild von politischen Prozessen einholen und verbreiten. Wer diese Chance nutzen will, muss lediglich Mitglied im Verein „Bundespressekonferenz e. V.“ sein. Der Mitgliedsbeitrag ist erschwinglich. Geleitet wird die BPK e. V. von bekannten Profis der Mainstream-Medien, u. a. von Stephan Detjen, Chefkorrespondent im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks; der Mann fiel nur selten wegen kritischer Distanziertheitgegenüber der Regierung auf.

Untrennbar verbunden mit der BPK und gleichzeitig wichtiges finanzielles Standbein des Vereins ist der „Bundespresseball“, ein gesellschaftliches Großereignis, das seit fast 70 Jahren von den Journalisten organisiert wird. Rund 2.500 namhafte Gäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur werden dazu eingeladen. Machthaber, Prominente und Journalisten feiern buchstäblich Arm in Arm bei Sekt, Wein und lockerem Geplauder. Das erzeugt Nähe und gegenseitiges Verständnis.

Die Big Band der Bundeswehr sorgte 2018 für den musikalischen Unterhaltungsrahmen. Für die BPK kostenlos konnten somit die Promis im Dreivierteltakt schwofen: NDR-Intendant Lutz Marmor, WDR-Chef Tom Buhrow, ARD-aktuell-Sternchen Caren Miosga oder der bourgeoise Flügel der Linkspartei mit Arrivierten wie Katja Kipping und Caren Lay. Mit auf dem Parkett: Altbundeskanzler Schröder, der Grüne Cem Özdemir, Entwicklungshilfeminister Müller, Hessens Ministerpräsident Bouffier – alle, alle kommen gern zum Wohlfühlfest der Meinungs-Mafia.

Gesponsert wird das „Event“ vom deutschen Geldadel: „Platin-Partner“ Daimler, „Gold-Partner“ und mächtiger Finanzdienstleister BNP, „Silber-Partner“ Deutsche Post, Facebook, Krombacher. Zum Dank posiert auch schon mal Regierungssprecher Seibert vor den Werbeplakaten dieser Partner und ermöglicht reklameträchtige Pressefotos. Davon gibt es reichlich, und alle Beteiligten haben etwas davon, jeder auf seine Weise. Der Ball wird traditionell von zwei Paaren eröffnet: mit einem Tänzchen der Bundespräsidenten-Gattin, geführt vom obersten BPK-Journalisten; der Bundespräsident schwenkt derweil die Gattin des BPK-Vorsitzenden übers Parkett.

Ein harmloses Vergnügen mag das nennen, wer sich selbst gern in die Tasche lügt und die Symbolkraft und Bindewirkung solcher Ereignisse unterschätzt: Exponenten von Politik und Medien Arm in Arm. Gehobenes Gesellschaftsleben in einer Atmosphäre von Geld und Geltung. Chapeau! Prösterchen! So sieht sie aus, die Unabhängigkeit unserer Journaille von Politik, Wirtschaft und Kapital: Man kennt sich, man schätzt sich, man amüsiert sich miteinander. Weit abgehoben vom Volk, dem man ja dienen sollte, und das die ganze Chose letztlich bezahlt.

In der steuerbefreienden Satzung der BPK wird in § 3 als Zweck des Vereins vorgegeben,

Pressekonferenzen zu veranstalten und seinen Mitgliedern Möglichkeiten einer umfassenden Unterrichtung der Öffentlichkeit zu verschaffen. Soweit es dazu erforderlich erscheint, vertritt der Verein auch die Interessen seiner Mitglieder. Er verfolgt jedoch keine eigenwirtschaftlichen Interessen.

Viele BPK-Verläufe zeigen allerdings nur die Unvereinbarkeit von Wollen und Wirklichkeit. Entweder sind die Regierungsvertreter nicht zu sachdienlichen Auskünften und Antworten bereit – der Hausherr und gastgebende Vorstand der Bundespressekonferenz duldet in aller Regel auch ihre dreisten Unverschämtheiten – oder die versammelten Medienvertreter geben wichtige Informationen nicht an die Öffentlichkeit weiter, weil sie dem Tendenzvorbehalt ihrer Auftraggeber entgegenstehen. Manchmal liegt das informationelle Defizit auch daran, dass es der Reporterschar an sachdienlichem Vorwissen für geeignete Nachfragen mangelte.

Hinzu kommt das häufig geringe Interesse der Mitglieder am Angebot der BPK. Das hat den vormaligen Sprecher des Außenministeriums, Dr. Martin Schäfer (er ist heute Botschafter in Südafrika), sogar schon mal zu der Bemerkung veranlasst:

Herr Vorsitzender, wenn Sie erlauben, würde ich zunächst erst einmal gern sagen, dass es jedenfalls mich persönlich – ich spreche nur für mich – ganz schön traurig macht, vor welch leerer Kulisse wir hier sitzen. Wenn ich es richtig sehe, ist hier noch nicht einmal mehr eine Nachrichtenagentur vertreten.

Der spürbaren Wechselwirkung zwischen substanzfreier Verlautbarung der Regierungsvertreter und fehlendem journalistischen Engagement in solchen Pressekonferenzen brauchen wir wohl nicht auf den Grund zu gehen. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass sich spannende Informationen und Rückschlüsse gerade dann ergeben könnten, wenn unnachgiebig und treffsicher fragende Journalisten keine aufrichtigen Antworten von den Regierungsoffiziellen bekommen, ein sichtbarer Ausdruck der Missachtung des Informationsanspruchs der Öffentlichkeit. Solche Momente haben ihren ganz eigenen Informationswert.

Als in dieser Hinsicht vorbildlich sollen hier die hartnäckigen Fragen der Kollegen Tilo Jung (Jung & Naiv) und Florian Warweg (RT Deutsch) genannt sein. Gäbe es diese beiden und die Videoübertragungen ihrer Aktivitäten nicht, würde kaum jemand die Verbalakrobatik erkennen, mit der die Politvertreter die Mainstream-Journalisten verladen und den Informationsanspruch des Publikums ignorieren. Auch die ARD-aktuell schweigt sich vornehm über dergleichen Schweinereien aus. Den Nachrichtengehalt, der solchen Vorfällen innewohnt, übersieht sie geflissentlich.

Warweg und Jung – jeder auf seine Weise und mit eigener Präferenz – scheuen sich nicht, Leerformeln, Verlogenheit und Arroganz der staatlichen Repräsentanten öffentlichkeitswirksam bloßzulegen. Wie bedeutsam ihre Arbeit für die Meinungsbildung der Bürger ist und auf welch großes Interesse sie stößt, haben zum Beispiel die Millionen-Klicks des Rezo-Videos „Die Zerstörung der CDU“ gezeigt; in dem Streifen spielt auch die BPK ihre übliche Rolle.

Davon drei Kostproben.

Am 19. Mai hatte Donald Trump dem Iran per „Twitter“ die Vernichtung angedroht:

Wenn der Iran kämpfen will, dann wird das das offizielle Ende Irans sein. Drohen Sie nie wieder den Vereinigten Staaten!

Mehrere Journalisten fragten in der BPK die Vertreter des Auswärtigen Amtes und des Kanzleramtes, ob es zu dieser Drohung eine deutsche Stellungnahme gebe. Der Sprecher des Außenministeriums verneinte und rechtfertigte die erstaunliche Zurückhaltung so: Man wolle den Konflikt zwischen dem Iran und den USA nicht weiter anheizen, außerdem kommentiere man keine Tweets des US-Präsidenten.

Auf die naheliegende Frage, warum die Bundesregierung sich in diesem Fall zahm gebe, während sie bei vergleichbaren iranischen „Vernichtungsdrohungen“ gegenüber Israel unverzüglich mit harscher Verurteilung reagiere, blieb der Sprecher des Auswärtigen Amtes die Antwort schuldig und wiederholte lediglich: „Wir sind gegen verschärfende Rhetorik“. Und die Sprecherin des Kanzleramts echote ebenfalls nur: Man kommentiere die Trump-Tweets nicht.

Erst auf erneute Nachfrage des RT-Reporters ließ sich die Frau zu der „Erklärung“ herbei, die Situation sei im Hinblick auf Israel nicht vergleichbar: Der Aufruf zur Vernichtung Israels sei für die Bundesregierung völlig inakzeptabel und zu verurteilen. Auf den Einwand, die Staatsführung des Iran habe nie von einer Auslöschung Israels gesprochen, sondern immer nur – man kann das werten, wie man will – von der „Vernichtung des zionistischen Regimes“, während Trump tatsächlich die Vernichtung eines Staates androhe und damit auch das Leben der Bevölkerung Irans meine, erwiderte die Sprecherin der Kanzlerin inhaltlich nichts.


Spätestens in diesem Moment hätte der gastgebende BPK-Leiter einhaken und deutlich machen müssen, dass es auf einer Sitzung der BPK üblich sei, auf sachliche Fragen auch sachlich zu antworten. Er unterließ es jedoch, gegen die regierungsamtliche Arroganz einzuschreiten. Es bleibt der peinliche Eindruck: Den BPK-Herrschaften geht es nicht in erster Linie um eine „umfassende Unterrichtung der Öffentlichkeit“ (§3 der BPK-Satzung), sondern eher um das Wohlwollen der Regierungsvertreter.

Nicht minder die Reaktion der ARD-aktuell: Zwar wurde über den Trump-Tweet in der Hauptausgabe der Tagesschau berichtet, aber mit keinem Wort die doppelzüngige Stellungnahme der Merkel-Regierung in der BPK erwähnt. Das offenkundige Motiv: Chefredakteur Dr. Gniffkes regierungsfromme Qualitätsjournalisten wollten „Mutti“ Merkel vor öffentlicher Kritik schützen und ließen zu diesem Zweck Doppelstandards gelten. Ergebnis: Gedanklicher Nachvollzug der regierungsüblichen Rektalvisiten bei US-Präsident Trump sowie Kritiklosigkeit gegenüber der Regierung Israels einerseits, andererseits Hinnahme des passiven, teilnahmslosen Schweigens angesichts der verbalen US-Attacke auf den Iran.

Wie wenig selbstkritisch Dr. Gniffkes Qualitätsjournalisten sind, wird im Vergleich ihrer Berichterstattung über die deutsche BPK mit der über die Pressekonferenzen des russischen Staatspräsidenten Putin deutlich. „Bloß keine Nachfrage!“ höhnen sie über ihre Moskauer Kollegen und bezichtigen sie konformistischer Berufspraxis und fehlender Courage. Volksweisheit:

Wer anderen in der Nase bohrt, ist auch ein Schwein.

Am 17. Juni 2019 problematisierten „die üblichen Verdächtigen“ in der BPK deutsche Waffenexporte an die Jemen-Kriegsverbrecher Ägypten und Vereinigte Arabische Emirate, VAE. Der Hintergrund: Waffenlieferungen in Konfliktregionen und an nicht zur NATO gehörende Kriegsbeteiligte sind nach deutschem Recht unzulässig. Fragen an den Regierungssprecher Steffen Seibert:

„Waffen im Wert von 800 Millionen Euro an Ägypten sowie im Wert von 200 Millionen Euro an die VAE: Kann es sein, dass Ägypten und die VAE aus Sicht der Bundesregierung einfach keine ‚unmittelbar Beteiligten‘ sind, Herr Seibert? Dann würde das alles ja Sinn ergeben. (ab 25’:05”)
– Kann uns ein Ministerium sagen, wer die ‚unmittelbar Beteiligten‘ im Jemen-Krieg sind?
– Werden wir jemals erfahren, wer aus Sicht der Bundesregierung die ‚unmittelbar Beteiligten‘ im Jemen-Krieg sind? Ich frage das hier seit anderthalb Jahren, Herr Seibert; das wissen Sie.
– Sie sagten, dass die Antwort mit den unmittelbar Beteiligten unter anderem in Kleinen Anfragen beantwortet worden wäre. Könnten Sie uns die nachreichen? Könnten Sie sagen, wo wir das finden können? (ab 36’:07”)

Ich würde gerne wissen, ob es in den letzten zwölf Monaten überhaupt einen Einzelfall gab, in dem negativ entschieden wurde, was das Thema ‚Jemen-Krieg/Beteiligte/Waffenexporte‘ angeht.“

Seibert behauptete wider besseres Wissen eine restriktive Praxis bei der Waffenexport-Genehmigung und verwies im Übrigen auf seine Geheimhaltungspflicht. Der gastgebende BPK-Veranstaltungsleiter schwieg dazu, anstatt festzustellen, dass eine so umfassende Geheimhaltungspflicht hinsichtlich der Waffenexporte nicht besteht und rechtlich auch nicht zu begründen wäre; er forderte Seibert nicht dazu auf, seine Antwortverweigerung zu überdenken.

Immerhin zeigte diese Pressekonferenz besonders anschaulich, wie mit beharrlichen und nicht beantworteten Journalisten-Fragen indirekt aufschlussreiche Informationen vermittelt werden können, was der Regierungssprecher sicher gern ausgeschlossen hätte. Nicht nur, wenn es um die blutigste und schmutzigste Art von Geschäften geht, nämlich um den Verkauf von Massenmordwerkzeug ans Ausland, erweisen sich führende Repräsentanten der Politik als Vertuscher, Lügner, als Auskunftsverweigerer und als unseriöse Weißwäscher.

Der Musterfall demonstriert darüber hinaus, wie wenig BPK-Vorstandsvertreter bereit sind, die Bemühungen ihrer kritischen Journalisten zu unterstützen:

Herr Jung, ich verstehe, dass Sie die Antwort möglicherweise nicht zufriedenstellt, das müssen Sie leider so hinnehmen.

Ach ja? Musste er? Oder hätte der Konferenzleiter und Gastgeber nicht vielmehr dem Regierungssprecher erklären müssen: „Herr Seibert, Sie sind hier zu Besuch, ich muss Sie bitten, sich entsprechend zu benehmen?“ Und: „Wenn Sie nicht die Absicht haben, begründete Fragen sachlich zu beantworten, dann sitzen Sie im Augenblick auf dem falschen Platz!“

Jung & Naiv ließ allerdings selbst nicht locker und entlarvte zwei Tage später auf der nächsten Pressekonferenz die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer als rechthaberische Servierdame von „Fake News“:

„… am Montag wollte ich noch wissen, wie viele Rüstungsexportgenehmigungen letztes Jahr abgelehnt wurden. Da hatte Herr Seibert so getan, als ob das geheim sei. Jetzt schreiben Sie heute selbst davon, dass letztes Jahr 88 Anträge auf das Ausführen von Rüstungsgütern abgelehnt wurden, was einem Wert von 39,43 Millionen Euro entsprochen habe. Gleichzeitig hat man letztes Jahr Rüstungsgüter im Wert von 4,8 Milliarden Euro ausgeführt. (…) Da steht: Es gab 11.100 positive Genehmigungen. (…) 0,8 Prozent der Anträge auf Rüstungsexporte werden also von der Bundesregierung abgelehnt. Jetzt sagen Sie ja immer wieder, dass Sie eine restriktive Rüstungspolitik machen. (…)  Herr Seibert sagte hier noch am Montag: ‚Wenn man jeden Antrag genehmigte, könnte man kaum von einer restriktiven Politik sprechen.‘ Das haben wir doch! Sie genehmigen 99,2 Prozent aller Rüstungsexporte. (…) Wenn Sie 99,2 Prozent aller Sachen akzeptieren: Das ist doch nicht restriktiv! (ebd., ab 44’:17”).“


Auch aus dieser brisanten Phase einer Bundespressekonferenz ließ die ARD-aktuell kein Wort an die Öffentlichkeit gelangen. Ausführlich berichtete sie hingegen aus der Veranstaltung, dass dort über die geplanten Änderungen der Grundsteuer keine Informationen gegeben worden seien. Eine Nullnummer.

Derartige Nachrichten-Gewichtung belegt journalistische Ignoranz und Inkompetenz. Sie ist Betrug am Informationsanspruch der Öffentlichkeit. Der Betrugsvorwurf ist angebracht, schließlich zahlt diese Öffentlichkeit die Rundfunkgebühr nicht in der Absicht, sich mit Informationsluschen abfertigen zu lassen.

Das Internet-Angebot des ARD-Faktenfinder schauen sich kaum 20.000 Besucher auf tagesschau.de an, während die Zahl der an Jung & Naiv-Interessierten locker die 70.000-Marke überschreitet. Dr. Gniffke, seine Mitverantwortlichen in der Redaktion, seine Vorgesetzten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und dessen aufsichtführende Rundfunkräte, allesamt Siegelbewahrer des deutschen Qualitätsjournalismus, finden die Zweitrangigkeit des „Faktenfinder“ offenbar nicht mal peinlich.

So verdienstvoll Jung & Naiv sich oft in der BPK schlägt, so fragwürdig ist manchmal die Rolle, die der Herausgeber Tilo Jung an anderer Stelle spielt: Er schämt sich nicht, einem kritischen Kollegen in den Rücken zu fallen.

Florian Warweg vom russischen Fernsehsender RT Deutsch sprach die Vertreter der Bundesregierung in der BPK am 6. November 2018 auf die Rosstäuscherei mit den sogenannten „Weißhelmen“ an, vorgeblich eine syrische Zivilschutzorganisation, erwiesenermaßen jedoch Handlanger von Terroristenbanden, vom Westen unterstützte Kriegspropagandisten, die sich ausschließlich in den von Söldnern und Dschihadisten besetzten Gebieten in Szene setzen. Die Regierungssprecher – Christopher Burger, Außenministerium, Sören Schmidt, Innenministerium – verstrickten sich bei der Beantwortung prompt in Widersprüche. Ohne erkennbaren Grund sprang ihnen schließlich Tilo Jung zur Seite und betätigte sich als Stichwortgeber. Ganz und gar nicht „jung und naiv“, sondern reichlich hinterlistig fragte er den Außenamtssprecher:

Herr Burger, wie bewertet die Bundesregierung die russischen Propagandamaßnahmen gegenüber den Weißhelmen?

Burger, hocherfreut über die unerwartete Steilvorlage, präsentierte sofort die bekannte Propaganda-Schablone: Russland sei bemüht, die „Weißhelme“ trotz deren „unbestreitbarer humanitärer Verdienste“ zu diskreditieren.


Die Kolleginnen und Kollegen der deutschsprachigen russischen Medien haben wegen der gehässig und dummdreist hochgetriebenen Russophobie hierzulande ohnehin keinen leichten Stand. Dass ihnen auch ein vermeintlich kritischer Journalist wie Tilo Jung so elementar die kollegiale Solidarität verweigert, ihnen sogar in den Rücken fällt, sagt eine Menge über ihn selbst und über seinen Charakter aus. Er war bereit zur Liebedienerei, und zwar unter Verletzung seiner beruflichen Pflicht, unabhängig vom Fragesteller alle aufschlussreichen Informationen aufzunehmen. Der Fall zeigt die (selbstverschuldete) Begrenztheit journalistischer Arbeitsweise in Deutschland.

Auch ein bekannter Medienkritiker wie Stefan Niggemeier gibt sich solche Blößen. In einem an sich lesenswerten Beitrag über die BPK setzt er sich zwar angemessen mit dem unprofessionellen Gebaren eines WELT-Journalisten auseinander und kritisiert die antirussische Attitüde des Mannes. Zugleich aber verkniff er es sich nicht, ebenfalls über die Kollegen der deutsch-russischen Medien herzuziehen:

Dass auch mich die meisten Wortmeldungen von Sputnik und RT Deutsch nerven, tut nichts zur Sache. Dass sie Fragen stellen, die mich nicht interessieren oder meinem Verständnis der Lage nicht oder oft überhaupt nicht entsprechen: geschenkt. Dass sich viele ihrer Fragen wie Kommentare aus der YouTube-Kommentarspalte anhören, sagt eher was über ihr journalistisches Niveau aus als über ihre Gefährlichkeit …“

Dass auch seine Erhabenheit, der „Papst der Medienkritik“ Niggemeier, seinem Affen Zucker gibt, Pfauenräder schlägt und sich selbst voller Selbstgefälligkeit für überlegen hält: ebenfalls geschenkt.

Wesentlicher ist anderes: Wir steuerzahlende Bundesbürger alimentieren beamtete Regierungspropagandisten und Faktenverdreher wie Seibert, Burger oder Schmidt dafür, dass sie uns faulen Zauber servieren, mit Jahresgehältern bis zu 180.000 Euro und dem Anspruch auf eine Rente von mehr als 120.000 Euro. An die 80.000 Euro jährlich streichen qualitätsjournalistische Pappnasen ein, die den Schmarren aus solchen Hohlräumen wie der BPK durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkkanäle zu uns durchschieben; ihre Gehälter werden aus unseren Rundfunkbeiträgen erbracht. Wir löhnen also indirekt gleich zweimal dafür, dass wir nach Strich und Faden angeschmiert werden.

Wenn es schon sein muss, hochverehrtes Publikum: Wo ist unsere Republik tatsächlich angekommen? Könnten wir uns nicht ohne diese Leute auch selbst verarschen, notabene kostenlos?

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Das Autoren-Team:

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 im NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1985 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehr- und Forschungsauftrag an der Fu-Jen-Uni in Taipeh.

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Dieser Beitrag erschien am 25.06.2019 bei RT-Deutsch.


Dysfunktion der Macht um Acht: Die Bundespressekonferenz als Abbild unserer Scheindemokratie







Freitag, 28. Juni 2019

Nasse Füsse contra Kulturschande (Leseprobe 15)


SOLDATEN FÜR DEN FRIEDEN (Teil fünfzehn)

Leseprobe aus „AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder“ im 70. Jahr der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949

Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 sehr glücklich verheiratet.


Nasse Füsse contra Kulturschande

Eggesin bei Nacht. Man schreibt das Jahr 1961. Eine dunkle, Gleichschritt haltende Masse bewegt sich in die kalte und mondhelle Januarnacht hinein. Matt schimmern die Stahlhelme. Rhythmisch schlagen wir die Arme durch. Unsere Schatten begleiten uns auf dem schneebedeckten und holprigen Kopfsteinpflaster. Ein oberflächlicher Beobachter würde denken, eine militärische Einheit, was ist schon dabei. Er hätte recht. Das gehört zu unserem Alltag: Da marschieren Traktoristen, Melker, Filmvorführer, Tischler ... Und die Kommandeure waren und sind ebenfalls Arbeiter: Forstfacharbeiter, Lehrer, Junghauer, wie ich. Wir wissen, weshalb wir marschieren – jetzt, in den Sonnabend hinein, an dem sich so manche noch ruhig in den Betten wälzen, mit Recht ... Zwei Ausgänger kommen uns mit schnellen Schritten entgegen, sie streben der Kaserne zu, wir von ihr weg. Wir kommen an erleuchteten Schaufenstern vorüber, den wenigen, die es in Eggesin gibt, an ein verloren wirkendes Pärchen ... „Ist das hier die richtige Richtung?“, fragt unser Kompaniechef einen auf einer Kreuzung stehenden Regulierungsposten. „Jawohl“. Der zerdrückt seine Zigarette zwischen den Fingern, wirft sie in den Schnee und reiht sich bei uns ein.

Vor dem Abtransport mit der Eisenbahn müssen wir im Wald warten. Zugführer Leutnant Kr. lehnt an einem Baum, um ihn herum Soldaten, die Karabiner und MPi’s auf den rechten Schultern, die Stiefel gegeneinander stoßend, die Mantelkrägen hochgeschlagen. Witze werden erzählt, es wird viel gelacht, das Lachen steckt auch andere an, der lange Anmarsch, die ersten brennenden Fußsohlen - sie sind vergessen. Wenig später: Die Waggons rütteln und schütteln uns. Der Kerzenschein einer an der Waggondecke hängenden Stalllaterne flackert unruhig und wirft ein mattes Licht auf die Leute, die auf den Pritschen liegen oder sitzen oder auf dem Fußboden kauern. Unserer Kompanie stehen nur zwei Waggons zur Verfügung, deshalb die Enge. Doch keiner beschwert sich. Man rückt zusammen und bietet den noch Stehenden ebenfalls einen Liegeplatz an. Einige stehen neugierig an der spaltoffenen Waggontür - wegen des qualmenden Kanonenöfchens - und stieren in die vorüberziehende Mondlandschaft. Da schweifen wohl manche Gedanken in die Ferne ... Und manche sprechen plötzlich über das, was sie am stärksten bewegt, über Privates, da öffnen sich Herzen. Ein Gefreiter, Melkermeister aus Wismar, erzählt mir aus seinem Leben. Er streckt mir den Daumen hin, ich sehe im Halbdunkel eine Warze. „Die kommt vom Melken“, erklärt er. Fünf Kinder habe er schon. Ich schweige, kann nicht mitreden, noch nicht. Die Fahrt dauert, die Waggontür wird geschlossen, Schläfrigkeit breitet sich aus, man „zieht einen ein“, wie wir manchmal so sagen, und die Kerze in der Laterne flackert noch im ratternden Zug. Stille, nur das regelmäßige Rucken der Räder ist zu hören und zu spüren, wenn sie über die Schienenstöße holpern.

Plötzlich ein gespenstisches Schweigen. Man hält, sofern man noch Wachträumen nachhängt, den Atem an. Kein Rütteln und Schütteln, nichts, nur hin und wieder ein Schnarchen im Waggon. Was ist los, diese Ruhe? Der Transport hat ruckartig gehalten. Das kann nur eines bedeuten: Wir sind am Ziel. Ruhiges und besonnenes Wecken. Ohne Murren und lautlos treten die Genossen vor den Güterwagen an. Einige humpeln, wollen offensichtlich mit dem einzigen bereitstehenden Kraftfahrzeug H3A, der uns zusteht, mitfahren, um nicht laufen zu müssen. Der Kompaniechef weiß es, sicherlich aus Erfahrung, manche simulieren nur. Deshalb spricht er ein Machtwort: „Alle marschieren!“ Das klingt hart, aber so viele Kilometer liegen noch nicht hinter uns, aber etliche noch vor uns. Abhärtung, auch das will geübt sein, wenn es auch schwer fällt. In Reihe trippeln wir entlang einer eisgefrorenen Feldfurche. Dann und wann gleiten einige aus, rappeln sich wieder auf, stemmen sich gegen den starken und kalten Wind, der uns um die Stahlhelme pfeift. Eine endlose weite Schneefläche stößt am Horizont anscheinend mit dem schwarzen Himmel zusammen. Den Weg säumen vereinzelt große schlanke Birken, sie biegen sich unter der Wucht des Sturmes. Der Weg nimmt wohl nie ein Ende ...

Endlich, der Konzentrierungsraum ist erreicht. Wir dürfen ein Lagerfeuer anzünden (unter realen Kampfbedingungen ein Unding und lebensgefährlich), sitzen und wärmen uns. Der Morgen graut. Kurze Auswertungen. Lob für Soldat Schu., der trotz seiner Fußschmerzen bis hierher durchgehalten hat. Ich sehe, der wird ein wenig rot im Gesicht. Dann wird die Verteidigungslinie bezogen. Die Feldspaten schlagen sich Millimeter um Millimeter in den steinhart gefrorenen Boden. Brocken von Schnee und Erde fliegen zur Seite, der Schweiß rinnt von der Stirne. Gegen Abend. Hinter der Stellung wurde im schützenden Wald ein Wärmezelt aufgebaut. Leutnant Kr. kommt ins Zelt und berichtet von besten Leistungen beim Bau der Schützenlöcher. Ich schreibe bei flackerndem Kerzenschein, notiere und überlege, ob es Sinn macht, von der FDJ-Gruppe ein Flugblatt herauszugeben, in dem Bestes gewürdigt wird. Aber es ist bereits 21 Uhr, und das Abendbrot ist vom Hauptfeldwebel noch immer nicht herangeschafft worden. Als die Leute das Essen schon abgeschrieben hatten, trifft es doch noch in den einzelnen Verteidigungsstellungen ein. Gegen 5.45 Uhr reißen wir in aller Eile das Wärmezelt ab. Ich gehe in die Stellung des 3. Zuges. Zuvor noch ein paar Schlucke warmen Tee mit Rum getrunken. Der Morgenwind fegt über das flache Mecklenburger Land, biegt das spärliche Gestrüpp und treibt tiefhängende dunkle Wolken vor sich her. Es ist wärmer geworden. Der Schnee schmilzt, und die Wald- und Feldwege verwandeln sich in aufgewühlte Schlammrinnen. Indessen habe ich den 3. Zug erreicht. In einer LMG-Stellung (Leichtes Mascinengewehr) steht der Schütze im Anschlag, daneben fehlt sein Gehilfe – der versteckt sich, sitzt zusammengekauert unter einer Zeltplane. Trotzdem ein Lob von mir. Die Stellung ist gut ausgebaut und getarnt. Wie viel Mühe dahintersteckt! In einem anderen Abschnitt erwarte ich mit den Genossen den Angriff. Soldat T. erzählt mir, dass er schon öfter an Übungen teilgenommen hatte ...

Dann steigen Leuchtraketen in den Morgenhimmel. T. beobachtet das Gefechtsfeld, auf den beginnenden Angriff gefasst. Immer mehr Leuchtspuren kreuzen den Himmel, Detonationen ganz in der Nähe. Am Horizont dunkle Punkte, die immer größer werden, sich auf uns zu bewegen. T. hält den Karabiner im Anschlag ... Feuerbefehle. Schüsse. Salvenfeuer. Zusammengefasstes Feuer. Gelernt ist gelernt. Der „Gegner“ darf nicht durchbrechen.

Später, viel später: Wieder hocken wir am Lagerfeuer auf notdürftig errichteten Bänken aus Kiefernholz, denn der Waldboden ist zu naß. Man sammelt vor allem Kienspan, der brennt am besten. Im Widerschein der zuckenden Flammen glühen die Gesichter, die Augen leuchten, der noch kalte Wind faucht gegen die Rücken, die Gedanken fliegen voraus: „Wenn wir reinkommen, werde ich gleich einen Grog in der Gaststätte trinken“, schwelgt einer in Zukunftsträumen. „Aber richtig heiß muss er sein“, ergänzt ein anderer. Ein Dritter: „Dann Waffenreinigen und ab ins Bett.“ Der Hauptfeldwebel tritt in den Leuchtkreis des Lagerfeuers, lässt eine Decke ausbreiten und legt darauf die Brote. Plötzlich kommt Bewegung in die Leute. Jetzt will jeder der erste sein - beim Essenempfang! In den dämmrigen Morgenstunden des nächsten Tages rückt die Kompanie wieder in die Kaserne ein, die Gesichter verschmutzt und unrasiert.

Eine Stunde später lese ich im „Neuen Deutschland“ vom 31. Januar folgende Bemerkung von Prof. Steenbeck: „Es ist in meinen Augen eine der größten Kulturschanden, dass der Kampf gegen den Atomtod in der christlichen Bundesrepublik durch Gerichte verfolgt wird. Es wird nicht mehr lange dauern, und wir alle werden auf diese Tatsache mit ähnlicher Scham zurückblicken, wie auf die Ketzerverbrennung früherer Zeiten oder die Judenmorde des nationalsozialistischen Deutschland.“ Gefällt mir, dieses Zitat. Gegen jene und andere Kulturschanden setzen wir vieles, auch unsere „nassen und kalten Füße“. Nehme mein Notizheft und schreibe diese Zeilen, nur so für mich.

Zum Inhalt

Ausgangssituation ist Schweden und in Erinnerung das Haus in Berlin Schöneberg, in dem die Ziebells 1945 noch wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.

Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.

Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.

Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.

Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die erwarteten Schlussfolgerungen zieht.

Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.

Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien, politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender, auch nach der Rückkehr nach Deutschland im Jahre 2005. Nunmehr als Rentner, Blogger, Rezensent und Autor!

Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro


https://www.epubli.de//shop/buch/AUSBRUCH-AUS-DER-STILLE-Harry-Popow-9783748512981/83705?

Donnerstag, 27. Juni 2019

NUR ABWARTEN? - Dmitri Orlov



Ihr werdet getrollt


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 27. JUNI 2019


von Dmitri Orlov – https://www.theblogcat.de

Die Welt steht wieder am Rande eines Krieges. Schon wieder. Und, ja, noch einmal. Und dann stehen wir nicht mehr am Rande eines Krieges…. aber halt, da ist noch mehr! Natürlich gibt es noch mehr, das gibt es immer. US-Flugzeugträger-Kampfgruppen schippern auf Nordkorea zu…. oder auch nicht. Sie dampfen ziellos herum, irgendwo nicht in der Nähe von Nordkorea, aber das auf sehr bedrohliche Weise. Dann treffen sich Trump und Kim Jong Un, kommen gut miteinander klar, unterschreiben ein Stück Papier, das nichts bedeutet und trennen sich freundschaftlich. Jetzt dampfen die Flugzeugträger weit weniger bedrohlich herum. Dann treffen sich Trump und Kim wieder, um ein anderes bedeutungsloses Stück Papier zu unterschreiben, aber dann poltert John Bolton drauf los und futsch ist der Deal. Aber Trump und Kim tauschen weiterhin Liebesbriefe aus, so dass die Romanze nicht tot ist. Auf jeden Fall ist ein Krieg zwischen den USA und Nordkorea nicht nur ungewinnbar, sondern auch undenkbar: Die Hauptstadt Südkoreas befindet sich in Reichweite der nordkoreanischen Artillerie und alle US-Militärbasen in der Region befinden sich in Reichweite der nordkoreanischen Raketen. Der Krieg mit Nordkorea ist definitiv abgesagt. Zusammenfassung: Es passiert nichts. Also, was sollte das Ganze?

Jetzt geht es um Venezuela. Sein demokratisch gewählter Führer wird zum Usurpator erklärt, und ein geeigneter Ersatz wird unter dem Namen Random Guy-doh gefunden. Amerikanische Vasallenstaaten auf der ganzen Welt werden tyrannisiert, um ihm diplomatische Anerkennung als Präsident Venezuelas zu gewähren, obwohl er nur ein zufälliger Typ aus einer Wohnung in Caracas ist. Einige Lastwagen werden auf einer Brücke zwischen Kolumbien und Venezuela angezündet. Sie transportierten humanitäre Güter, etwa Drahtrollen. Es wird von militärischer Intervention gesprochen, aber es ist nur Gerede. Die Bank of England beschlagnahmt Venezuelas Gold, die USA frieren die Bankkonten der venezolanischen Ölgesellschaft in den USA ein und geben sie an einen Haufen zwielichtiger Venezolaner weiter, die das Geld stehlen. Dieser Teil macht Sinn, der Rest davon? Na ja! Auf jeden Fall ist ein militärischer Überfall der USA auf Venezuela nicht möglich: Venezuela verfügt über russische Luftverteidigungssysteme, die es zu einer Flugverbotszone für die US-Luftwaffe machen; außerdem ist die Bekämpfung einer Guerilla-Aktion in venezolanischem Regenwald nichts, wozu das US-Militär fähig ist. Zusammenfassung: Es passiert nichts, schon wieder.

Jetzt geht es um den Iran. Trump zieht sich aus dem sorgfältig ausgehandelten internationalen Abkommen mit dem Iran zurück und sagt, er wolle eine anderes Abkommen aushandeln. Falls ihr es bemerkt habt, das ist ein wirklich idiotischer Zug, nach dem Motto: „Ich werde es dir nie zurückzahlen, also leih mir mehr Geld.“ Wenn ein Land die Vereinbarungen, die es bereits unterzeichnet hat, nicht einhält, warum sollte es sich dann die Mühe machen, weitere Vereinbarungen mit ihm auszuhandeln? (Das ist eine rhetorische Frage.) Der Iran verkündet, dass der Iran den Deal nicht einhalten wird, da die USA den Deal auch nicht einhalten. Ein Haufen Öltanker wird beschädigt und die USA versuchen, den Iran dafür verantwortlich zu machen, aber niemand glaubt den USA. Und so werden ein paar weitere Öltanker beschädigt und die USA versuchen, den Iran wieder dafür verantwortlich zu machen, aber schon wieder glaubt niemand den USA . Und so fliegen die USA eine Drohne in den iranischen Luftraum, beschattet von einem Aufklärungsflugzeug mit einer internationalen Besatzung an Bord, in der Hoffnung, dass der Iran einen Fehler macht und das Aufklärungsflugzeug abschießt. Aber der Iran schießt die Drohne ab und die fällt ins seichte Wasser, in die Hoheitsgewässer des Iran, und nicht in die 100 Fuß tiefen internationalen Gewässer, so wie die USA behaupten, aber niemand glaubt es. Der Iran fischt sie schnell heraus und zeigt stolz das Wrack der nicht mehr streng geheimen Drohne. Die Amerikaner erzählen eine Geschichte über den Wunsch, den Iran anzugreifen, aber in letzter Minute brechen sie den Angriff ab. Der Ölpreis steigt ein wenig. Der US-Ölfleck produziert am Anschlag, aber auch blutend rote Zahlen wie verrückt. Sie braucht höhere Ölpreise, um eine große Welle von Insolvenzen zu vermeiden. Dieser Teil macht Sinn, der Rest davon? Egal! Ein militärischer Angriff auf den Iran ist jedenfalls undenkbar: Der Iran hat die Fähigkeit, die Straße von Hormuz für alle Schiffe zu schließen, ein Drittel aller Ölexporte der Welt abzuschneiden und die Weltwirtschaft, einschließlich der USA, zu sprengen. Zusammenfassung: Nichts passiert, schon wieder mal.

Es gibt verschiedene andere Nicht-Ereignisse in anderen Teilen der Welt. NATO-Schiffe tuckern über das Schwarze Meer und die Ostsee, wo sie ziemlich leichte Beute sind, falls die Feindseligkeiten mit Russland kinetisch werden. Das sagt uns also, dass die Feindseligkeiten nicht kinetisch werden, weil diese Schiffe teuer sind und es kein Geld gibt, sie zu ersetzen. Es gibt auch NATO-Übungen im Baltikum, das sich direkt an der russischen Grenze befindet. Sie üben das Eindringen und Abschlachten von Zivilisten in malerischen mittelalterlichen Dörfern, die mit russischsprachigen Statisten besetzt sind, die vorgeben, Bauern zu sein, die sich ergeben wollen. (Technisch gesehen sollte das als Fantasy-Spiel und nicht als Trainingsübung kategorisiert werden.) Die Russen bleiben unbeeindruckt. Sie wollen nichts mit den baltischen Staaten zu tun haben, die früher Transitstaaten für russische Exporte waren, aber jetzt werden sie für nichts mehr gebraucht (außer als NATO-Tummelplatz). Wie auch immer – über einen Krieg mit Russland zu sprechen, ohne die Miene zu verziehen, dazu sind nur extrem dumme Menschen fähig. Zusammenfassung: Es passiert nichts.Erstellen

Kennt ihr den Refrain? (Ich bin sicher, dass ihr das tut.) Folgendes spielt sich ab: Ein abgehalftertes Land, das nicht aufhören kann, die wenigen Ressourcen, die es für einen nutzlosen, aber lächerlich aufgeblähten militärisch-industriellen Komplex übrig gelassen hat, zu verschwenden, versucht, Aktivität zu erzeugen, um weitere verschwenderische Verteidigungsausgaben zu rechtfertigen. Alle möglichen Experten spielen mit und behaupten, dass die Bedrohung durch diesen oder jenen Krieg sehr real ist und dass wir daher alle darauf achten sollten, was passiert. Aber was passiert, ist, dass ihr getrollt werdet.

Da sie nichts Besseres zu tun haben, versuchen die USA mit allen Mitteln, die ganze Welt zu trollen, aber immer mehr weigert sich die Welt, sich trollen zu lassen oder trollt gleich gegen die USA zurück.

– Wenn die USA drohen, den Zugang zum US-Finanzsystem zu unterbrechen, arbeitet die Welt daran, das zu umgehen.

– Wenn die USA Zölle und Sanktionen verhängen, reagiert die Welt mit einer Überarbeitung ihrer Handelsbeziehungen, um die USA auszuschließen.

– Wenn die USA Länder mit einer militärischen Intervention bedrohen, reagiert die Welt, indem sie neue Allianzen aufbaut und Sicherheitsmaßnahmen trifft, die die USA isolieren.

Aber am wichtigsten ist, dass die Welt einfach abwartet. Die USA weisen nun ein Haushaltsdefizit von über einer Billion Dollar pro Jahr auf und häufen Schulden etwa in gleicher Höhe wie während des Höhepunkts des vorangegangenen Finanzkollapses auf. Was glaubt ihr was passieren wird, wenn der nächste Finanzkollaps eintritt? (Nach vielen maßgeblichen Stimmen sollte das entweder in diesem oder im nächsten Jahr passieren.) In der Zwischenzeit hoffe ich, dass es euch Spaß macht, getrollt werden, denn ich bin mir sicher, dass es mehr Trolling aus den USA geben wird, ihr wisst schon, nur um beschäftigt zu bleiben, schätze ich.






Dienstag, 25. Juni 2019

KAPITALE MONSTER - Götz Eisenberg



VANDALISMUS UND GESELLSCHAFT


Zeit der Monster


Der Kapitalismus zerstört systematisch menschliche Bindungen, die das einzig wirksame Gegenmittel gegen Gewalt sind. Vandalismus und der Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft


Von Götz Eisenberg


Angst und Schrecken. Auch das zeitweilig auftretende Phänomen der Horrorclowns darf als Ausdruck des selbstverursachten, systemimmanenten Verfalls von Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gesehen werden


Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er ist Mitinitiator des Gießener Georg-Büchner-Clubs. Eisenberg arbeitet an einer »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«, deren dritter Band unter dem Titel »Zwischen Anarchismus und Populismus« 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Seit Tagen liegt ein aus der Verankerung gerissenes Verkehrsschild vor unserer Haustür auf dem Gehweg. Niemand holt es ab oder stellt es wieder auf. Diese Gleichgültigkeit gehört zum Thema und ist die andere, wenn man so will, behördliche Seite des Vandalismus. Wer etwas gegen ihn unternehmen will, muss, wenn er schon gegen seine Ursachen nichts ausrichten kann oder will, wenigstens seine Folgen möglichst schnell beseitigen. Müll an Straßenrändern und in Parks, zerbrochene Bierflaschen auf Fahrbahnen und Gehwegen wirken wie ein Verstärker und signalisieren Resignation. Von den herumliegenden Insignien der Zerstörung geht die Botschaft aus: »Die Bürger haben ihr Territorium auf- und zum Plündern freigegeben, sie nehmen ihre eigenen Werte nicht ernst und verteidigen sie nicht.« Es gibt beim Zerfall einer Gesellschaft einen kritischen Punkt; ist er überschritten, sind die weiteren Zerfallsprozesse unumkehrbar und verstärken sich wechselseitig. Die Gesellschaft des losgelassenen Marktes hat die noch überlebenden Formen von Solidarität, die letzten Zwischenstufen, die das Individuum vom Markt trennten und es vor ihm schützten, erodieren lassen und das Leben ihrer Mitglieder als sinn- und ziellosen Kampf aller gegen alle organisiert. So ist es kein Wunder, dass die dem Zerfall nichts entgegenzusetzen haben. Sie haben keine »Werte«, sie konsumieren, das ist alles. Und Konsum ist seinem Wesen nach nihilistisch und kann keine stabile moralische Ordnung stiften. Christoph Hein hat bereits vor vielen Jahren geschrieben: »Ein Mensch, dem der Lebenssinn abhandenkommt, wird Selbstmord begehen. Eine menschliche Einrichtung, sei es eine Familie oder sei es ein Staat, die nur noch – und sei es bestens – funktioniert, aber die nichts darüber hinaus verbindet, die von keiner gemeinsamen Idee oder Vision oder ideellem Interesse getragen und verbunden ist, ist tot und wird verfallen.«

Offensichtlich reicht, was Sozialisation in der frühen Kindheit hervorgebracht hat, nur dann lebensgeschichtlich als einmal erworbene Hemmung aus, wenn die je aktuellen Bedingungen solche erworbenen Hemmungen verstärken oder wenigstens gleichsinnig stützen. Das tun diese aber seit längerem schon nicht mehr. Im Gegenteil: Die Funktionsimperative des »flexiblen Kapitalismus« (Richard Sennett) untergraben und schwächen sie. Diese wachsenden Verzahnungsmängel zwischen erworbenen Einstellungen einerseits, situativen Bedingungen des sozialen Feldes andererseits, bilden den Nährboden für Desorientierung und Verunsicherung und damit für kollektive psychische und politische Regressionsprozesse.

Der »gemeine Vandalismus«



Eine privilegierte Zielscheibe des »gemeinen Vandalismus« sind herrenlose Fahrräder, deren Speichen eingetreten und Felgen demoliert werden. Aus Blumenkübeln werden Pflanzen herausgerissen, Mülltonnen werden umgestoßen, Abfallbehälter aus der Verankerung gerissen und ihr Inhalt weiträumig in der Gegend verteilt. Eine namenlose Wut sucht sich ihre Objekte.

Ein ganz spezieller Reiz scheint für junge Männer von senkrecht aus dem Boden ragenden Gegenständen auszugehen. Stangen, Pfähle, Pfosten, Stämme, kleine Bäume werden gern herausgerissen oder umgeknickt. Man muss kein orthodoxer Freudianer sein, um zu vermuten, dass diese sie an ein Körperteil erinnern, das ihnen mit seinem energischen Eigenleben so heftig zu schaffen macht. Umfang und Größe des eigenen Genitals geben dem jungen Mann schwer zu denken und erweisen sich als eine Quelle ständigen Selbstzweifels. So muss er alles, was außerhalb seiner steil in die Höhe ragt, nach Möglichkeit umhauen, flachlegen und kleinmachen. Die Dinge sind menschlich, sagt Sartre, sie stehen für etwas anderes, sie symbolisieren etwas. Hängt ein Café Blumenkästen an das Geländer einer Brücke, kann man sicher sein, dass diese innerhalb weniger Tage zerstört sein werden. Manchmal ist es gerade das Intakte und halbwegs Funktionierende, das die Zerstörungslust entfesselt: »Warum, zum Teufel, gibt es Dinge, die schön sind und funktionieren? Bei mir funktioniert doch auch nichts!« Hass und Selbsthass sind manchmal wie zu einem Zopf verflochten. Je prekärer das männliche Selbstwertgefühl, desto größer ist die Verlockung, sich seiner Männlichkeit durch grobes und zerstörerisches Verhalten zu vergewissern.

Unlängst wurde ich Zeuge, wie sich ein vandalischer Akt anbahnte. Jeden Tag gehe ich mehrfach an einem Blumengeschäft vorüber. Es befindet sich eingangs eines Parks und ist eines der wenigen, wenn nicht das einzige Geschäft, das noch übrig ist aus der Zeit, als ich Ende der 1960er Jahre nach Gießen kam. Die Inhaberin ist eine angenehme Frau, die dort Anfang der 70er Jahre eine Lehre gemacht und dann irgendwann den Laden von ihrem Chef übernommen hat. Mitte Mai fiel mir auf dem Heimweg eine Gruppe von jungen Männern auf, die neben dem Laden auf dem Boden saßen und Alkohol konsumierten. Im Rhythmus der Musik schlugen sie mit ihren Köpfen gegen die Scheiben. Besonders einer tat sich mit hoher Aggressivität hervor. Er rannte wie getrieben umher und schrie und brüllte dabei laut. Er wirkte derart bedrohlich, dass ich es vorzog, einen Umweg zu machen und ihm aus dem Weg zu gehen. Die Polizei war nach Aussagen von Zeugen mehrfach vor Ort, zog aber stets wieder ab und ließ den Mann unbehelligt. Was sollte sie auch tun, schließlich hatte der Mann (noch) keine Straftat begangen. Nachts hat er dann seinen Frust an einem vor dem Laden geparkten Auto und einer großen Schaufensterscheibe ausgelassen. Seither ist diese provisorisch durch Holzplatten ersetzt und bildet seit Wochen gewissermaßen ein Denkmal des Vandalismus. Die Polizei hat den Täter noch in der Nacht geschnappt. Da bei ihm nichts zu holen ist, weiß die Inhaberin des Geschäfts nicht, wer für den Schaden aufkommt. Es wurde ja nichts gestohlen oder geraubt, es ging einfach um die Lust an der Zerstörung oder das Ausagieren einer diffusen Gewaltbereitschaft.

Die Wut geht ins Leere



Wo kommt die her? Wie kann man sich ihre Verbreitung erklären? Das, was man gemeinhin Vandalismus nennt – wahrscheinlich muss man die historischen Vandalen gegen das, was heute unter ihrem Namen firmiert, in Schutz nehmen –, ist eine Wut, die ihr Objekt eingebüßt hat. Blind geworden dreht sie sich im Kreis. Gegen wen oder was sollte sie sich richten? Herta Müller lässt in ihrem Roman »Reisende auf einem Bein« eine – wie die Autorin selbst – aus Rumänien nach Berlin emigrierte Frau sagen: »In dem anderen Land, sagte Irene, habe ich verstanden, was die Menschen so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand. Es hat sehr weh getan, täglich die Gründe zu sehen. (…) Und hier, sagte Irene. Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehen. Es tut weh, täglich die Gründe nicht zu sehen.«

Herrschaft hat sich entpersonalisiert und anonymisiert. Sie tarnt sich immer perfekter als Technik und tritt den Menschen gegenüber als sogenannter Sachzwang auf. Gegen wen oder was soll unsere akkumulierte Wut sich wenden? Globalisierung: Wer macht das, kann man das anfassen, hat sie einen Sitz, eine Zentrale? Ist Globalisierung gut, schlecht, ein unabweisbares Verhängnis oder von allem ein bisschen? Wir werden von unsinnlichen Abstraktionen und um die Erde zirkulierenden Geldströmen beherrscht. »Aber«, fragte der Regisseur Peter Stein vor Jahren in einem Interview, »was ist das, ein Geldstrom? Ich habe noch niemals eine Hand in einen Geldstrom gehalten.« Wen können wir zur Verantwortung ziehen? Wer ist schuld an unserem diffusen Unbehagen und unserer Misere? Wenn die klassische politische Gewalt aus der personell erfahrbaren Unterdrückung stammte, so entspringt der frei flottierende Hass der Entleerung und Anonymisierung. Eine Erscheinungsform dieses Hasses ist das, was man Vandalismus nennt.

Woher aber stammt die Entleerung? Ein berühmtes Diktum Max Horkheimers abändernd könnte man sagen: »Wer aber vom Vandalismus des Kapitals nicht sprechen will, sollte auch vom gemeinen Vandalismus schweigen.« Unternehmerisches und staatliches Handeln als Gewalt zu bezeichnen, rührt an ein herrschaftssicherndes Tabu. Der Zivilisationsprozess hat das Gewaltmonopol des Staates aufgerichtet: Seitdem definiert er jede Gewalt, die er nicht selber ausübt, als roh und illegitim. Gewalt ist stets nur das, was der Staat als Gewalt definiert. Weil er selbst sich als Inbegriff von Kultur begreift, möchte er es untersagen, dass man sein eigenes Handeln als Ausübung von Gewalt kennzeichnet. Die zentralisierte Gewalt will keine mehr sein. Der Staat untersagt dem einzelnen den Gebrauch des Unrechts, »nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak«, schrieb Sigmund Freud in seiner Schrift »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«. Die kapitalistische Durchsetzungsgeschichte, also das, was man euphemistisch Modernisierung nennt, war jedenfalls ein äußerst gewaltförmiger Prozess – und ist es bis auf den heutigen Tag.

Das Kapital kann nicht existieren, ohne fortwährend alles Vorgefundene zu zerstören und umzuwälzen. Die Kategorie des Genug, die die vorbürgerliche Welt durchaus kannte, wird durch eine neue Grenzenlosigkeit ersetzt. Der Tauschwert, in dem nun alles gemessen wird, ist seinem Wesen nach grenzenlos. Der Kapitalismus, der sich aus ihm entwickelt, ist ein System, das in ständiger Bewegung sein muss, ständige Überschreitung und das Niederreißen aller Begrenzungen gehören zu seinem Wesen. Keine Geldsumme ist so groß, dass sie nicht noch größer werden könnte. Rund zweihundert Jahre kapitalistischen Wachstums haben ausgereicht, den Planeten zu ruinieren. Die Resultate sind nicht mehr zu übersehen und treten langsam ins allgemeine Bewusstsein.

Vandalismus des Kapitals

Die Städte sind zum Objekt der Spekulation und zum Aufmarschgebiet der Waren geworden. Was im Weg ist, wird abgerissen und verschwindet. Kleine Geschäfte werden beseitigt, Menschen vertrieben und umgesiedelt. Ganze Landschaftsbilder ändern sich, Wälder werden gerodet, Bach- und Flussläufe verlegt, Autobahntrassen zerschneiden die Landschaft. Die Kassiererinnen in den Supermärkten werden demnächst durch Scanner ersetzt, die jeder Kunde selbst in die Hand nehmen soll. In absehbarer Zeit wird das Bargeld aus dem Verkehr gezogen. Die Digitalisierung fegt über das Land wie ein Wirbelsturm. Die eingespielte Ordnung der Dinge wird erschüttert und durcheinandergewirbelt, bis nichts Festes und Statisches mehr existiert und die Menschen es vor lauter ständigem Wandel nicht mehr aushalten. Das ist eine viel zu wenig diskutierte Quelle des rechten Populismus, der den Wunsch vieler Menschen zum Ausdruck bringt, es möge sich endlich einmal nichts mehr ändern und alles so bleiben, wie es ist. Der rechte Populismus bringt dieses diffuse Gefühl allerdings nur zum Ausdruck, nicht zu seinem Recht, wie Walter Benjamin bemerkte.

Der Vandalismus ist vor allem ein Symptom einer fortschreitenden Gesellschaftszerstörung. Auf seiner neoliberalen Entwicklungsstufe geht der Kapitalismus dazu über, im Namen von Flexibilität und Mobilität menschliche Bindungen systematisch und großflächig zu zerstören. Seit dem 2002 vom ehemaligen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer formulierten Credo, »sozial ist heute vor allem, was mehr Beschäftigung schafft«, gelten stabile Bindungen an Orte und Menschen als eine Art von Behinderung. Die Menschen sollen sich den wechselnden Winden des Arbeitsmarktes überlassen und sich an nichts und niemanden fest binden. Der von Wirtschaft und Gesellschaft so vehement geforderte flexible Mensch soll alle Bindungen aufgeben und Hemmungen ablegen, damit er zu allem fähig werde. So ist es denn auch.

Damit entsteht für das System der bürgerlichen Herrschaft ein neuartiges Problem. Man kann offensichtlich nicht beides zugleich haben: den hochflexiblen, wendigen, allseits anschlussfähigen Menschen und einen Fundus von in der Person fest verankerten handlungsleitenden Normen und Werten. Deswegen ist für die Zukunft damit zu rechnen, dass es vermehrt zu unkontrollierten Trieb- und Impulsdurchbrüchen kommt, die im Extremfall die Form der völlig ungerichteten Aggressionsentladung annehmen können. Die zerfallende bürgerlichen Ordnung wird vom Vandalismus und vom Amoklauf geprägt sein.

Innere und äußere Polizei



Bereits Ende der 1960er Jahre hatte Max Horkheimer erklärt, das Gewissen der Leute sei nicht mehr wirksam genug, um so etwas wie ökonomische und staatliche Ordnung und gesellschaftliche Integration zu sichern, und die Polizei sei noch nicht stark genug. Seine Vermutung: Wenn die innere Polizei des Gewissens das Verhalten der Menschen nicht mehr mit hinreichender Zuverlässigkeit steuert, wird die äußere Polizei vermehrt in Erscheinung treten. Mit einem Begriff von Norbert Elias: Wenn die innere »Selbstzwang-Apparatur« erodiert, wird erneut Fremdzwang an ihre Stelle treten.

Die relative Stabilität der bürgerlichen Ordnung resultierte aus der Verzahnung von Über-Ich und Staat. Jenes war verinnerlichter Staat, dieser externalisiertes, also nach außen projiziertes, Über-Ich. Man kann sich dieses Zusammenspiel vergegenwärtigen, wenn man sich an Heinrich Manns Roman »Der Untertan« erinnert. Der kleine Diederich Heßling geht durch seine Heimatstadt. »Ecke der Meisestraße hinwieder musste man an einem Polizisten vorüber, der, wen er wollte, ins Gefängnis abführen konnte! Diederichs Herz klopfte beweglich; wie gern hätte er einen weiten Bogen gemacht! Aber dann würde der Polizist sein schlechtes Gewissen erkannt und ihn aufgegriffen haben. Es war vielmehr geboten, zu beweisen, dass man sich rein und ohne Schuld fühlte – und mit zitternder Stimme fragte Diederich den Schutzmann nach der Uhr.« Die frühe Unterwerfung unter die väterliche Autorität wurde in der Folge auf den Lehrer, den Pfarrer, den Lehrherrn, den Offizier und die Repräsentanten des Staates übertragen. Sie alle profitierten von der familiären Vorunterwerfung. Dass das System der weltlichen Autorität auf die Wirksamkeit der Autorität innerhalb der Familie angewiesen ist, hatte schon Martin Luther erkannt: »Denn aus der Eltern Obrigkeit fließt und breitet sich aus alle andere. ... Alle, die man Herrn heißet, an der Eltern Statt sind und von ihnen Kraft und Macht zu regieren nehmen müssen.«

Der Sozialpsychologe Peter Brückner erinnert sich: »Der uniformierte Polizist auf der Straße, Repräsentant des wilhelminischen Obrigkeitsstaats, war für Jugend und Volk eine weitere, wirksame Quelle der Einschüchterung. Noch in meiner Jugend, 1929, ich war sieben Jahre alt, empfand ein deutscher Junge in der Regel Herzklopfen, wenn er einen Polizisten sah, jedenfalls ein leidlich erzogener. Ich war sehr erstaunt, als 1968 gebildete Deutsche, Studierende, erstmals Steine auf Polizisten warfen.«

Wenn man einer Dokumentation Glauben schenken darf, die unlängst unter dem Titel »Scheißjob Bulle?« von der ARD ausgestrahlt wurde, ist es gegenwärtig um den Respekt vor der Polizei schlecht bestellt. Das könnte man als Linker begrüßen, wenn dieser Mangel an Respekt von einem gewachsenen Bewusstsein der Freiheit und Solidarität begleitet wäre und von einer Rücknahme des Staates in einer befreiten Gesellschaft zeugte. Etwas qualitativ anderes und Besseres wäre dann an die Stelle von Staat und Polizei getreten. Wir haben es aber eher mit einer fortschreitenden Selbstzerstörung der bürgerlichen Ordnung zu tun, deren Institutionen sich zersetzen und gleichsam »abfaulen«. Das ist eine der sozialen Pathologien, die das Zeitalter der Monster im Sinne Gramscis hervortreiben. Sie leiten Wasser auf die Mühlen der Rechten, die von der Wiederkehr eines »starken Mannes« träumen.

Dialektik der Moral



Der Zerfallsprozess der bürgerlichen Ordnung setzt Formen von Aggression und Zerstörung frei, die dringend einer intellektuellen und moralischen Kontrolle bedürften, die aber nicht in Sicht ist. Die zeitgenössischen Vandalen sind ja keine Feinde dieser Gesellschaft, sondern jeder Gesellschaft. Sie negieren nicht nur jene Moral, die den Kitt der klassengespaltenen und repressiven Gesellschaft bildet, sondern jede Moral. Sie sind keine irregeleiteten politischen Widerstandskämpfer, sondern verkörpern das Modell absoluter Asozialität, wie sie die Gesellschaft des entfesselten Marktes hervorbringt. Der gemeine Vandale ist der kleine Bruder des funktionalen Psychopathen, der am anderen Ende des sozialen Spektrums, auf den Chefetagen der Finanzindustrie, den Ton angibt. Skrupel- und Rücksichtslosigkeit dominieren auch hier, wobei der Schaden, den die Finanzpsychopathen anrichten, um ein Vielfaches größer ist als jener, der auf das Konto des gewöhnlichen Vandalismus geht.

Dieser Gesellschaft wohnt eine immoralistische Enthemmungstendenz inne. Die wertzynische Motorik des Geldes zehrt peu à peu sämtliche sozial-moralischen Traditionsbestände auf. Darauf müssen wir mit der Entwicklung einer neuen Moral der Solidarität und gegenseitigen Hilfe antworten. Moral ist überall dort von Belang, wo der andere ins Spiel und es darauf ankommt, unser Verhältnis zu ihm in richtiger Perspektive zu sehen. Insofern bedarf auch eine emanzipatorische Bewegung und eine aus ihr hervorgehende freie Gesellschaft der Moral, einer Moral der Befreiung. Eine halbwegs stabile Gesellschaft benötigt eine für (fast) alle verbindliche Wertsphäre, ihre Hauptzwecke müssen von (fast) allen geteilt werden. Bröckelt der moralische Kitt und weicht der gemeinsame Geist aus ihren Institutionen, geht sie in Zerfall über und es muss alles von außen gestützt und mehr oder weniger gewaltsam zusammengehalten werden. Oskar Negt spricht im zweiten Band seiner Autobiographie, die soeben unter dem Titel »Erfahrungsspuren« erschienen ist, zu Beginn und gegen Ende gleich zweimal eine Warnung aus: »Wir dürfen nicht warten, bis das Gemeinwesen verrottet ist und die moralische Verkrüppelung ein gesellschaftliches Betriebsklima geschaffen hat, das die Mühe um Anstand und politische Urteilskraft immer beschwerlicher und vielfach aussichtslos werden lässt.«

Es gibt noch einen anderen, zeitgemäßen Ausweg aus dem Zerfall klassischer Formen bürgerlicher Herrschaft. Bei fortschreitender Desintegration – ich sehe im Augenblick nichts, was sie aufhalten könnte – blüht uns unter heutigen Bedingungen eher eine digitale Diktatur als eine Rückkehr zum faschistischen Modell, obwohl auch das nicht auszuschließen ist. Unübersehbar wächst in den sogenannten liberalen Demokratien das Interesse an der in China praktizierten Allianz von autoritärem Staat und künstlicher Intelligenz. Demnächst sollen dort 600 Millionen Kameras mit Gesichtserkennung das Verhalten der 1,4 Milliarden Einwohner überwachen und die Spielräume für Abweichungen aller Art zum Verschwinden bringen.

Die Überwachungskameras im öffentlichen Raum treten an die Stelle des »Dorfauges«, das in traditionellen Gemeinschaften konformes Verhalten erzwang und das Verhalten überwachte. Für einen historischen Augenblick trat im klassischen bürgerlichen Zeitalter die innere Selbstbeobachtung des Gewissens an die Stelle des »Dorfauges«, bevor sie nun neuen Formen der »Außenleitung« (David Riesman) weicht. Selbst in seinen schlimmsten Alpträumen hätte sich Orwell so etwas wie das sich unter unseren Augen entwickelnde digitale Panoptikum nicht vorstellen können. Konformes Verhalten wird mehr oder weniger automatisch erzeugt, jenseits davon wird man sogleich zu einem Fall für die Polizei oder die Psychiatrie. Moral und Innenlenkung werden also tendenziell überflüssig. Noch schützen uns gewisse Residuen bürgerlicher Freiheits- und Persönlichkeitsrechte, aber die werden sich im Zuge der Digitalisierung schnell abschleifen. Das Individuum, jene Errungenschaft des bürgerlichen Zeitalters, das äußeren Fremdzwang durch verinnerlichten Selbstzwang ersetzte, wird aus dem Verkehr gezogen oder zieht sich selbst aus dem Verkehr. Die Leute verwanzen sich ihre Wohnung schon heute ohne äußeren Zwang und aus freien Stücken. So steht zu befürchten, dass sich das in China praktizierte »soziale Kreditsystem« auf dem ganzen Globus breitmachen wird. Die zu Usern mutierten Menschen veröffentlichen ja bereits jetzt ihre »Profile« in den sozialen Netzwerken und tragen in Form ihrer Smartphones freiwillig eine elektronische Fußfessel. Wie und aus welchen Gründen sollten sie einer digitalen Diktatur Widerstand entgegensetzen?

Bindungen als Gegenmittel



Die wirtschaftlichen Mächte, hatte ich gesagt, sind seit geraumer Zeit damit beschäftigt, durch eine sich totalisierende Warenproduktion und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche menschliche Bindungen bewusst zu zerstören, um die Menschen in flexible und allseits anschlussfähige Wesen zu verwandeln. Aus der Gewaltforschung wissen wir aber, dass Bindungen das einzig wirksame Antidot gegen die Gewalt sind. Stadtteile, in denen die Einwohner sich der Gemeinde wenig verbunden fühlen, weisen einen starken Vandalismus und eine hohe Kriminalitätsrate auf. Das Gefühl, mit dem Ganzen der Gesellschaft und der Stadt nicht verbunden zu sein und keine Einflussmöglichkeiten zu besitzen, begünstigt die Gewalt in all ihren Spielarten. Ohnmächtig und blind schlagen die Herausgefallenen auf die gesellschaftliche Fassade und andere Menschen ein, die sie für ihre Malaise verantwortlich machen. Positiv formuliert: Mit was ich mich stabil verbunden fühle, das kann ich zwar kritisieren und verändern wollen, aber ich werde es nicht blindwütig zerstören. Schulen, in denen ein Klima der Kooperation und des Vertrauens existiert und sich die Schülerinnen und Schüler mit Lehrern und Schule verbunden fühlen, weisen eine deutlich geringere Rate an Gewalttaten und Vandalismus auf als solche, in denen ein Klima der Fremdheit und Indifferenz herrscht.

Die Gesellschaften des entfesselten Marktes werden mehr und mehr zum Schauplatz eines »molekularen Bürgerkriegs« (Hans Magnus Enzensberger). Wer gegen ihn etwas unternehmen möchte, muss auf die Errichtung eines Wirtschaftssystems dringen, das industriell abrüstet und dessen wichtigste Angelegenheiten nicht Elektroautos, Smartphones und Algorithmen sind, sondern lebendige Beziehungen und menschliches Glück.





US-Finanzelite fordert Krieg - Ernst Wolff



Trump und die US-Medien: Kriegsvorbereitungen im Telenovela-Stil


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 25. JUNI 2019


von Ernst Wolff – https://kenfm.de

Am Freitag machte folgende Meldung weltweit Schlagzeilen: „US-Präsident stoppt Iran-Angriff zehn Minuten vor dem Start.“ Übereinstimmend berichteten die Mainstream-Medien, Donald Trump habe einen Vergeltungsschlag der USA auf den Iran in letzter Minute verhindert, weil er den Tod von 150 Iranern nicht mit seinem Gewissen habe vereinbaren können.

Wer auch immer Donald Trumps Iran-Politik und seine Auseinandersetzung mit den US-Mainstream-Medien in der jüngeren Vergangenheit verfolgt hat, rieb sich verwundert die Augen: Wurde der Mann, der den Iran-Konflikt seit Monaten systematisch verschärft, die schlimmsten Kriegshetzer in sein Kabinett berufen und wegen der Sanktionen gegen den Iran bereits Tausende von Toten zu verantworten hat, allen Ernstes plötzlich von seinem Gewissen geplagt…?

Und wieso stellten die Mainstream-Medien wie die Washington Post, die New York Times oder der TV-Sender CNN, die seit zweieinhalb Jahren keine Gelegenheit auslassen, sich als erbitterte Gegner Trumps zu inszenieren, den Präsidenten plötzlich in trauter Einigkeit als ein von humanitären Regungen geplagtes Individuum dar?

Die Fragen beantworten sich von selbst, wenn man bedenkt, dass alle Beteiligten denselben Herren dienen und einen Krieg wollen, sich aber gleichzeitig darüber im Klaren sind, dass es zuvor noch ein riesiges Hindernis zu überwinden gibt – die Ablehnung eines Krieges durch die US-Bevölkerung.

Ganz offensichtlich haben sowohl die Medien als auch Trump aus den Fehlern seines Vorgängers gelernt: Barack Obama machte keinen Hehl daraus, wöchentlich Todeslisten für angebliche Staatsfeinde der USA zu unterzeichnen und sogar Kinder und Jugendliche als Opfer in Kauf zu nehmen. Bei der Ermordung Bin Ladens ließ er sich sogar zusammen mit Außenministerin Clinton als Live-Zuschauer der Hinrichtung vor dem Fernseher fotografieren.

Da das in der amerikanischen Öffentlichkeit nicht gut ankam, schlagen Trump und die Mainstream-Medien nun ganz offensichtlich einen anderen Weg ein und bauen dabei auf die Erfahrung eines Mannes, der sich als ehemaliger TV-Star im Showgeschäft bestens auskennt: Sie inszenieren Trump im Stil einer billigen Telenovela als einen von seinem Gewissen geplagten Menschenfreund.

Dabei enthüllen US-Politik und Mainstream-Medien auf eindrucksvolle Weise, wie sehr sie trotz aller medialen Schaukämpfe an einem Strang ziehen, wenn es darum geht, die amerikanische Bevölkerung im Interesse der Finanzelite zu manipulieren.

So haben beide die Vorfälle in der Straße von Hormus benutzt, um eine wahre Hasskampagne gegen den Iran und seine politische Führung zu entfesseln. Als die US-Armee unter ihrem Oberbefehlshaber Trump auch noch den Abschuss einer US-Drohne provozierte, um den ideologischen Feldzug gegen den Iran zu verschärfen, zögerten die US-Medien keine Sekunde und stellten den Iran umgehend als Aggressor dar. Trump wiederum kündigte in markigen Worten Vergeltung an und ließ die Welt glauben, ein begrenzter Angriff auf einzelne Ziele im Iran stünde unmittelbar bevor.

Dass es nicht dazu gekommen ist, hat sogar einige alternative Medien dazu veranlasst, Trump für seine „Zurückhaltung“ zu loben. Es scheint sie nicht zu stören, dass sie sich dabei in Gesellschaft der schlimmsten Kriegstreiber der Welt wie Fox News oder des Ex-FBI-Chefs Brennan befinden, der sofort bekannt gab, er „begrüße Trumps Entscheidung, auf einen unverhältnismäßigen Schlag zu verzichten, der zu etwa 150 Todesopfern geführt hätte.“

Trumps angeblicher Rückzieher hat die Kriegsgefahr keinesfalls verringert. Es handelt sich dabei auch nicht um Anfall von Menschlichkeit, sondern um ein sorgfältig inszeniertes Schauspiel, mit dem der politisch weitgehend ahnungslosen Mehrheit der US-Bevölkerung suggeriert werden soll, ihre Regierung handle nach ethischen Maßstäben und sei bemüht, unschuldige Opfer zu vermeiden.

Wie die statt des Luftangriffs von Trump angeordnete Cyber-Attacke und die dazu erlassene Verschärfung der brutalen Sanktionen gegen den Iran zeigen, arbeitet das Weiße Haus nach wie vor mit aller Macht daran, den Konflikt auf die Spitze zu treiben, um einen Krieg herbeizuführen, den die Finanzelite fordert und auf den vor allem die US-Rüstungskonzerne und die Fracking-Industrie ungeduldig warten.

Welches Ausmaß dieser Krieg aller Voraussicht nach annehmen wird, hat Donald Trump in einem gestern ausgestrahlten Interview mit dem TV-Sender NBC mit folgenden Worten angedeutet: „Wenn es dazu kommt, wird es eine Vernichtung geben, wie man sie noch nie gesehen hat.“





Samstag, 22. Juni 2019

LÜGEN, BETRÜGEN, STEHLEN - von Rainer Rupp,



Der Kaiser ist nackt. Von „Falschen Flaggen“ und anderen Lügen


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 22. JUNI 2019

von Rainer Rupp – https://kenfm.de

Der stellvertretende Vorsitzende der Vereinigten Generalstäbe der vier Waffengattungen der US-Streitkräfte, General Paul J. Selva, hat am Dienstag im Pentagon vor Journalisten erklärt, dass die Anwendung militärischer Gewalt gegen den Iran zuvor einen Konsens der Weltgemeinschaft erfordern würde. Allerdings würden die USA sich das Recht herausnehmen, auch im Alleingang Iran anzugreifen, falls Teheran durch seine Aktionen für den Tod von auch nur einem US-Soldaten oder zivilen US-Bürger verantwortlich ist. Damit wiederholte der zweithöchste US-Offizier die zuvor von US-Außenminister Mike Pompeo, gemachte „letzte Warnung“ an die Adresse Teherans.

In dem unberechenbar explosiven, mittelöstlichen Chaos ist der zweite Teil dieser Aussage natürlich eine unverhohlene Einladung an alle jene Akteure mit einem starken Interesse an einem US-Angriff gegen Iran, einen Angriff unter „Falscher Flagge“ durchzuführen. Und davon gibt es einige.

Da wären zuerst einmal die zionistischen Kriegstreiber in Israel. In den Jahren 2006-2007 konnten sie nur mit Mühe von Washington davon abgehalten werden, die iranischen wissenschaftlichen Zentren der Atomforschung zu zerstören. Damals hatte Washington noch im Irak alle Hände voll zu tun und wollte die Eröffnung einer zweiten, noch größeren Front gegen Iran unbedingt vermeiden. Die Israelis haben große Erfahrung in der Anwendung von „falschen Flaggen“ und sind auch rücksichtslos genug, um sie mit US-Amerikanern als Opfer einzusetzen (siehe dazu auch den Angriff auf das US-Spionageschiff „Liberty“).

Auch die mit mittelalterlicher Brutalität herrschenden wahabitisch-sunnitischen Saudis haben nicht weniger Interesse als die Zionisten an einem US-Krieg gegen den schiitischen Iran, in dem die sektiererischen, saudischen Feudalherren ihren religiösen Erz- und Erbfeind sehen. An der für eine falsche Flagge notwendigen Skrupellosigkeit mangelt es ihnen nicht. Eine ihrer Spezialitäten ist die öffentliche Enthauptung von angeblichen „Hexen“, jugendlichen „Gotteslästerern“ und Oppositionellen, oder die Ermordung eines unliebsamen oppositionellen Journalisten im saudischen Konsulat in Istanbul, dessen Körper anschließend zerstückelt wurde, um die Leichenteile leichter verschwinden zu lassen. Dieser immens reiche menschliche Abschaum ist eng liiert mit Donald Trump, der ihnen gerne für Milliarden Dollar US-Waffen verkauft. Aus dem gleichen Grund werden die Saudis von Kanzlerin Merkel hofiert, die sie zu Deutschlands „strategischen Partner“ erhoben hat.

Als weitere Kandidaten für die Durchführung einer Falschen Flagge gegen US-Soldaten oder Bürger kommen die kleinen, separatistischen Grüppchen ethnischer Minderheiten in den Grenzregionen des Iran in Frage. Sie operieren hauptsächlich in den Gebieten der arabisch-sprachigen Minderheit im Südwesten des Landes, oder im Osten im Grenzgebiet zu Pakistan oder auch noch vereinzelt in den kurdisch Gebieten im Grenzgebiet zu Irak. Ihre separatistischen Ziele verfolgen sie mit extrem brutalen und blutigen Angriffen gegen Vertreter des iranischen Staats. Dabei werden sie glaubhaften Berichten zufolge von israelischen und US-amerikanischen Diensten finanziell und waffentechnisch unterstützt.

Diese Gruppen aus ethnischen Minderheiten können sich besonders leicht über die iranischen Grenzen nach Irak, nach Pakistan oder in die arabischen Golfstaaten bewegen. Deshalb würden sie sich besonders gut für einen Angriff unter falscher Flagge auf Amerikaner in diesen Nachbarländern eignen, wo die vielen, dort stationierten US-Soldaten leichte Beute wären.

Bei den Mitgliedern dieser ethnischen Gruppen handelt es sich um real existierende iranische Bürger mit einem iranischen Lebenslauf und mit iranischem Pass. Das könnte gegebenenfalls für die Beweisführung gegen Iran von großem Nutzen sein. Die Meldung könnte z.B. lauten: „Der bei einem tödlichen Attentat auf US-Soldaten in Katar erschossene Terrorist trug einen iranischen Pass bei sich. Erste Recherchen ergaben, dass er in seinem iranischen Heimatort XY dafür bekannt war, für den iranischen Geheimdienst zu arbeiten.“ Und schon hätten laut der von Pompeo genannten Bedingungen die USA ihren der Grund für einen unilateralen US-Krieg gegen Iran.

Aber es gibt noch einen weiteren, undurchsichtigen Kandidaten mit der nötigen Skrupellosigkeit für falsche Flagge Angriffe gegen amerikanische Soldaten oder Bürger, nämlich die berüchtigte exil-iranische Terrororganisation der sogenannten „Volksmujaheddin“. Diese links-sektiererischen Terroristen haben in der Vergangenheit vom Ausland aus immer wieder blutige Anschläge im Iran durchgeführt. Weil die Volksmujaheddin auch bei Anschlägen im Westen etliche US-Bürger getötet hatten, standen sie lange Zeit auf der Terrorliste des US-Außenministeriums. Im irakischen Krieg gegen Iran haben sie auf Seiten Saddam Husseins gekämpft, der ihnen später als Gruppe in Irak Asyl gewährt. Nach der US-Eroberung des Irak hatten die US-Besatzer die etwa 3000 Personen zählende Kampfgruppe der Volksmujaheddin samt ihren Frauen und Kindern in einem isolierten Lager in Irak interniert.

Es war John Bolton, der Oberfalke und aktuelle Chef-Sicherheitsberater von Präsident Trump, der das nützliche Potential der Terror-Volksmudschaheddin für die US-Pläne gegen Iran erkannte. In Washington hat er sich dann dafür eingesetzt, dass die terroristische Vergangenheit der Gruppe im Jahr 2012 durch einen Beschluss von Außenministerin Hillary Clinton im institutionellen Gedächtnisloch entsorgt wurde. Seither werden die Gewaltextremisten als Freiheitskämpfer hofiert. Bolton hat sie bei einer ihrer Versammlungen mit einer Lobrede persönlich geadelt. Seit etlichen Jahren können sie nun in den USA und anderswo jede Menge Geld und Spenden für ihr Ziel einsammeln, nämlich die Führung in Teheran zu eliminieren. Dass sie dabei Unterstützung von der CIA bekommen ist selbstverständlich.

Das kann man sogar in der braven Wikipedia nachlesen (1). “Dort wird auch der der Ex-CIA-Beamte Ray McGovern (2) zitiert, der 2006 im ARD-Magazin „Monitor“ auf die Frage, warum die CIA nun mit den Volksmujaheddin zusammenarbeite, folgendes sagte:

„Im Rahmen von verdeckten Operationen soll das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten durch die CIA verstärkt die Volksmujaheddin zur Destabilisierung des Irans unterstützen, indem diese nachrichtendienstliche Hilfe für gezielte Terroranschläge im Iran anbietet oder Mitglieder ausbildet. Die „üblichen Geheimdiensttätigkeiten. Sensoren anbringen, um das iranische Atomprogramm zu überwachen. Angriffsziele für die Luftwaffe markieren. Vielleicht auch geheime Lager einrichten und die Truppenstationierung überwachen. Und ein bisschen Sabotage. […] Die Volksmujaheddin sind bereit, Dinge zu tun, für die wir uns schämen müssten, und über die wir am liebsten schweigen. Doch genau für solche Aufgaben benutzen wir sie“ .

Für den von den Washingtoner Falken erhofften falsche-Flagge Angriff gegen amerikanische Bürger oder Soldaten gibt es also viele Kandidaten. Wahrscheinlich hat die CIA noch weitere Optionen in petto, um den Krieg gegen Iran unilateral vom Zaun zu brechen. Denn für „einen Konsens der Weltgemeinschaft“ als Voraussetzung für die „Anwendung militärischer Gewalt“ gegen den Iran, wie das eingangs vom US-Luftwaffengeneral Paul J. Selva gefordert wurde, sieht es derzeit schlecht aus. Der Grund dafür liegt darin, dass ersten kaum noch ein Land Washington Glauben schenkt und dass, zweitens, Washington nicht mehr wie früher über die nötige ökonomische, politische, militärische und moralische Macht verfügt, um sich bei seinen Vasallen bedingungslos durchzusetzen.

In ihrer nicht sehr langen Geschichte haben die USA über 200 Kriege geführt, die meisten davon waren Angriffskriege. Seit der Ächtung von Angriffskriegen beim Nürnberger Tribunal und in der nachfolgenden Charta der UNO haben die USA stets mit irgendwelchen Behauptungen über die Schuld des jeweiligen Opfers ihre Angriffskriege gerechtfertigt. Niemand in der westlichen Vasallen wagte es, die US-Behauptungen nicht als Beweis zu akzeptieren, sonst hätten sie sich verdächtig gemacht, mit der Sowjetunion zu paktieren. Gewohnheitsgemäß glaubt Washington auch diesmal, dass es keiner Beweise bedurfte, um den Iranern die Schuld an den Angriffen auf zwei Tanker im Golf von Oman zuzuweisen. Eine feste Behauptung aus dem Weißen Haus, dem Sitz des großen Kaisers und Herrschers über die „freie Welt“ musste genügen.

Umso erfreulicher war es in den letzten Tagen zu erleben, wie immer mehr Staaten aus dem US-Vasallenkreis entdeckt haben, dass der amerikanische Kaiser ohne Kleider dasteht. Immer mehr Regierungen haben Beweise für die Behauptungen der Chef-Kriegstreiber in Washington gefordert. Die Erklärungen aus Washington, dass es sich um Erkenntnisse der US- Geheimdienste handele, dass den Diensten die Beweise vorlägen, diese aber nicht veröffentlicht werden dürften, weil die Arbeitsweisen der Dienste geheim bleiben müssten, ließen plötzlich den Kaiser nackt aussehen.

Nur die kaisertreuen Ritter aus dem perfiden Albion ließen sich nicht beirren. Ohne zu zögern haben sich die Briten sofort hinter ihre Komplizen in Washington gestellt. Eine Hand wäscht die andere, schließlich hatten sich die Amerikaner ebenso schnell hinter Londons absurde Skripal-Lügengeschichte gestellt. Aber ansonsten dominierte weltweit der Zweifel an Washingtons Darstellung der Angriffe auf die beiden Tanker im Golf von Oman.

Vor allem in Japan, ein Hauptabnehmer von iranischem Öl, herrscht Skepsis. Die Tageszeitung “Japan Today” berichtete (1) am 16. Juni unter dem Titel „Japan verlangt von den USA mehr Beweise dafür, dass der Iran Tanker angegriffen hat“:

„Die Erklärung der USA hat uns nicht geholfen, über Spekulationen hinauszugehen“, sagte ein hoher Regierungsbeamter. … Eine Quelle in der Nähe von Premierminister Shinzo Abe sagte: „Diese [angeblichen Beweisstücke des Außenministers Mike Pompeo] sind kein eindeutiger Beweis dafür, dass es sich um den Iran handelt. … Auch wenn es die Vereinigten Staaten sind, die die Behauptung aufstellen, können wir nicht einfach sagen, dass wir es glauben“, sagte er.

Zuvor hatte US-Außenminister Pompeo in einer Pressekonferenz am Donnerstag den 13. Juni erklärt, die Einschätzung der USA für die Schuld des Iran basiere „auf geheimdienstlichen Erkenntnissen über die bei den Angriffen verwendeten Waffen, über das zur Durchführung der Operation erforderliche Fachwissen, wegen der Ähnlichkeit zu jüngsten, iranischen Angriffen auf die Schifffahrt, zusammen mit der Tatsache, dass keine andere, von Iran unterstützte Gruppe in der Region tätig ist, die über die Ressourcen und Fähigkeiten verfügt, um mit einem solch hohen Maß an technischer Raffinesse zu operieren“.

Unter Zugrundelegung dieser Aussage versetzten die Japaner Pompeo einen kräftigen Tritt ans Schienbein. „Japan Today“ zitiert dazu eine Quelle im japanischen Außenministerium: „Wenn lediglich die technische Expertise, die für die Durchführung des Angriffs der Grund für die Schlussfolgerung ist, dass Iran der Angreifer war, dann käme dies genauso gut für die Vereinigten Staaten und Israel in Frage„. Auch für die Japaner steht der Kaiser in Washington nackt da.

In der EU geht man mit den Amerikanern etwas behutsamer um. Aber auch dort überwiegt die Skepsis. So weigerte sich eine EU-Sprecherin, dem Iran zu diesem Zeitpunkt die Schuld zu geben und erklärte lediglich: „Wir sammeln mehr Informationen und bewerten die Situation.“ In Berlin ist erfreulicherweise das Auswärtige Amt nicht unbesehen auf den gefakten US-Zug aufgesprungen und Minister Maas ließ verlauten, dass das US-Video kein hinreichender Beweis sei.

Der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn sagte, dass mehr „glaubwürdige Beweise“ benötigt würden, um Trumps Behauptung zu stützen. Ohne glaubwürdige Beweise für die Tankerangriffe würde die Rhetorik der US-Regierung die Kriegsgefahr nur erhöhen. Die britische Schatten-Außenministerin Emily Thornberry sagte, dass „unabhängige Beweise“ darüber erstellt werden sollten, wer für die Angriffe verantwortlich war. Chris Williamson, Mitglied des britischen Parlaments für die britische Labour Party, war weniger diplomatisch und sagte: „Egal ob versucht wird, Venezuelas demokratische Regierung stürzen oder den Regimewechsel im Iran durchzuführen, die USA verursachen globale Instabilität, um ihre imperialen Interessen zu fördern. Wir müssen die Lügen der Trump-Administration, um öffentliche Unterstützung für ihre katastrophalen Pläne zu erhalten, zurückweisen“.

Der Leiter der Nahost-Analyseabteilung der „Eurasia Group“, eine internationale Risiko-Beratungsfirma, Ayham Kamel, vermutet eher die Saudis hinter den Angriffen. Auf Grund ihrer zunehmenden Misserfolge in dem von ihnen in den Jemen hineingetragen Krieges gegen die Houthi, die inzwischen vermehrt gegen saudische Ölanlagen und Flughäfen zurückschlagen, seien die Feudalherren in Riad zunehmend nervös geworden. Sie gehen davon aus, dass die Houthis von Iran Unterstützung bekommen. „Die Saudis sind alarmiert“, sagte Kamel, weshalb „sie versuchen, den Druck zu erhöhen, um die USA zum Angriff (gegen Iran) zu verleiten.“

Andere Experten haben auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die Angriffe am Donnerstag den 13. Juni im Golf von Oman sowie vor über einem Monat die Angriffe auf vier Tankschiffe im Persischen Golf sogenannte „Falsche Flagge“ -Operationen waren, die womöglich von Irans Erzfeind Israel durchgeführt wurden. Wieder andere spekulieren, dass die Angriffe von Falken in der Trump-Administration als Vorwand für die Einleitung von Militäroperationen gegen den Iran durchgeführt worden sein könnten.

„Die US-amerikanische Erfolgsbilanz, Beweise zur Rechtfertigung eines Krieges vorzulegen, ist nicht gut“, sagte William Church, ein ehemaliger Ermittler des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. „Die USA haben im Vorfeld des Vietnamkrieges gelogen [indem sie 1964 einen nordvietnamesischen Angriff auf ein Schiff der US-Marine im Golf von Tonkin erfunden hatten], und auch vor dem Irakkrieg über Massenvernichtungswaffen hat Washington gelogen. Wenn diese Angriffe auf Tankschiffe vor der Küste von Iran stattfinden, müssen wir – zusätzlich zu möglichen Beweisen – uns fragen, was die Motive dafür sind.“

Tatsächlich dürfte die Frage nach dem Motiv den Schlüssel zur Aufklärung für die Angriffe auf die Tanker liefern. Dazu gehört auch die Frage, weshalb Teheran ausgerechnet in der aktuell extrem angespannten Situation, in der Washington gierig nach Kriegsgründen sucht, den Amerikanern diese Gründe auf dem Tablett servieren sollte? Oder warum Iran ausgerechnet die Tankschiffe von zwei seiner besten Öl-Kunden, nämlich Japan und Norwegen angeblich im Golf von Oman angreifen sollte?

Und bei der Frage, wer nachweißlich das längste Lügenregister hat, stellen die USA alle anderen Länder in den Schatten. Außenminister Pompeo ist als ex-CIA Direktor sogar besonders stolz auf seine Lügen, Täuschungen und Betrügereien im Umgang mit anderen Staaten und Menschen.

„Wir haben gelogen, wir haben betrogen, wir haben gestohlen“, erklärte der US-Außenminister in freudig aufgeräumter Stimmung am 15. April dieses Jahres, als er Ehrengast der University „College Station“ in Texas war, um an einer Diskussionsrunde mit den Studenten dieser Universität teilzunehmen, die als Rekrutierungsschmiede für den Auslandsgeheimdienst CIA gilt. Dabei erlaubte er auch einen Blick auf die hässliche Fratze hinter der großartigen „demokratischen“ Fassade der USA, des „Leuchtturms der Freiheit und der Menschenrechte“. (Siehe KenFM-Tagesdosis vom 10.5.2019 – US-Diplomatie – Lügen, Betrügen und Stehlen).

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Volksmudschahedin
https://taz.de/!341596/
https://japantoday.com/category/national/japan-demands-more-u.s.-proof-that-iran-attacked-tankers
Bildquelle: lev radin / Shutterstock