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Zeit der Monster
Der Kapitalismus zerstört systematisch menschliche Bindungen, die das einzig wirksame Gegenmittel gegen Gewalt sind. Vandalismus und der Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft
Von Götz Eisenberg
Angst und Schrecken. Auch das zeitweilig auftretende Phänomen der Horrorclowns darf als Ausdruck des selbstverursachten, systemimmanenten Verfalls von Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gesehen werden
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er ist Mitinitiator des Gießener Georg-Büchner-Clubs. Eisenberg arbeitet an einer »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«, deren dritter Band unter dem Titel »Zwischen Anarchismus und Populismus« 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.
Seit Tagen liegt ein aus der Verankerung gerissenes Verkehrsschild vor unserer Haustür auf dem Gehweg. Niemand holt es ab oder stellt es wieder auf. Diese Gleichgültigkeit gehört zum Thema und ist die andere, wenn man so will, behördliche Seite des Vandalismus. Wer etwas gegen ihn unternehmen will, muss, wenn er schon gegen seine Ursachen nichts ausrichten kann oder will, wenigstens seine Folgen möglichst schnell beseitigen. Müll an Straßenrändern und in Parks, zerbrochene Bierflaschen auf Fahrbahnen und Gehwegen wirken wie ein Verstärker und signalisieren Resignation. Von den herumliegenden Insignien der Zerstörung geht die Botschaft aus: »Die Bürger haben ihr Territorium auf- und zum Plündern freigegeben, sie nehmen ihre eigenen Werte nicht ernst und verteidigen sie nicht.« Es gibt beim Zerfall einer Gesellschaft einen kritischen Punkt; ist er überschritten, sind die weiteren Zerfallsprozesse unumkehrbar und verstärken sich wechselseitig. Die Gesellschaft des losgelassenen Marktes hat die noch überlebenden Formen von Solidarität, die letzten Zwischenstufen, die das Individuum vom Markt trennten und es vor ihm schützten, erodieren lassen und das Leben ihrer Mitglieder als sinn- und ziellosen Kampf aller gegen alle organisiert. So ist es kein Wunder, dass die dem Zerfall nichts entgegenzusetzen haben. Sie haben keine »Werte«, sie konsumieren, das ist alles. Und Konsum ist seinem Wesen nach nihilistisch und kann keine stabile moralische Ordnung stiften. Christoph Hein hat bereits vor vielen Jahren geschrieben: »Ein Mensch, dem der Lebenssinn abhandenkommt, wird Selbstmord begehen. Eine menschliche Einrichtung, sei es eine Familie oder sei es ein Staat, die nur noch – und sei es bestens – funktioniert, aber die nichts darüber hinaus verbindet, die von keiner gemeinsamen Idee oder Vision oder ideellem Interesse getragen und verbunden ist, ist tot und wird verfallen.«
Offensichtlich reicht, was Sozialisation in der frühen Kindheit hervorgebracht hat, nur dann lebensgeschichtlich als einmal erworbene Hemmung aus, wenn die je aktuellen Bedingungen solche erworbenen Hemmungen verstärken oder wenigstens gleichsinnig stützen. Das tun diese aber seit längerem schon nicht mehr. Im Gegenteil: Die Funktionsimperative des »flexiblen Kapitalismus« (Richard Sennett) untergraben und schwächen sie. Diese wachsenden Verzahnungsmängel zwischen erworbenen Einstellungen einerseits, situativen Bedingungen des sozialen Feldes andererseits, bilden den Nährboden für Desorientierung und Verunsicherung und damit für kollektive psychische und politische Regressionsprozesse.
Der »gemeine Vandalismus«
Eine privilegierte Zielscheibe des »gemeinen Vandalismus« sind herrenlose Fahrräder, deren Speichen eingetreten und Felgen demoliert werden. Aus Blumenkübeln werden Pflanzen herausgerissen, Mülltonnen werden umgestoßen, Abfallbehälter aus der Verankerung gerissen und ihr Inhalt weiträumig in der Gegend verteilt. Eine namenlose Wut sucht sich ihre Objekte.
Ein ganz spezieller Reiz scheint für junge Männer von senkrecht aus dem Boden ragenden Gegenständen auszugehen. Stangen, Pfähle, Pfosten, Stämme, kleine Bäume werden gern herausgerissen oder umgeknickt. Man muss kein orthodoxer Freudianer sein, um zu vermuten, dass diese sie an ein Körperteil erinnern, das ihnen mit seinem energischen Eigenleben so heftig zu schaffen macht. Umfang und Größe des eigenen Genitals geben dem jungen Mann schwer zu denken und erweisen sich als eine Quelle ständigen Selbstzweifels. So muss er alles, was außerhalb seiner steil in die Höhe ragt, nach Möglichkeit umhauen, flachlegen und kleinmachen. Die Dinge sind menschlich, sagt Sartre, sie stehen für etwas anderes, sie symbolisieren etwas. Hängt ein Café Blumenkästen an das Geländer einer Brücke, kann man sicher sein, dass diese innerhalb weniger Tage zerstört sein werden. Manchmal ist es gerade das Intakte und halbwegs Funktionierende, das die Zerstörungslust entfesselt: »Warum, zum Teufel, gibt es Dinge, die schön sind und funktionieren? Bei mir funktioniert doch auch nichts!« Hass und Selbsthass sind manchmal wie zu einem Zopf verflochten. Je prekärer das männliche Selbstwertgefühl, desto größer ist die Verlockung, sich seiner Männlichkeit durch grobes und zerstörerisches Verhalten zu vergewissern.
Unlängst wurde ich Zeuge, wie sich ein vandalischer Akt anbahnte. Jeden Tag gehe ich mehrfach an einem Blumengeschäft vorüber. Es befindet sich eingangs eines Parks und ist eines der wenigen, wenn nicht das einzige Geschäft, das noch übrig ist aus der Zeit, als ich Ende der 1960er Jahre nach Gießen kam. Die Inhaberin ist eine angenehme Frau, die dort Anfang der 70er Jahre eine Lehre gemacht und dann irgendwann den Laden von ihrem Chef übernommen hat. Mitte Mai fiel mir auf dem Heimweg eine Gruppe von jungen Männern auf, die neben dem Laden auf dem Boden saßen und Alkohol konsumierten. Im Rhythmus der Musik schlugen sie mit ihren Köpfen gegen die Scheiben. Besonders einer tat sich mit hoher Aggressivität hervor. Er rannte wie getrieben umher und schrie und brüllte dabei laut. Er wirkte derart bedrohlich, dass ich es vorzog, einen Umweg zu machen und ihm aus dem Weg zu gehen. Die Polizei war nach Aussagen von Zeugen mehrfach vor Ort, zog aber stets wieder ab und ließ den Mann unbehelligt. Was sollte sie auch tun, schließlich hatte der Mann (noch) keine Straftat begangen. Nachts hat er dann seinen Frust an einem vor dem Laden geparkten Auto und einer großen Schaufensterscheibe ausgelassen. Seither ist diese provisorisch durch Holzplatten ersetzt und bildet seit Wochen gewissermaßen ein Denkmal des Vandalismus. Die Polizei hat den Täter noch in der Nacht geschnappt. Da bei ihm nichts zu holen ist, weiß die Inhaberin des Geschäfts nicht, wer für den Schaden aufkommt. Es wurde ja nichts gestohlen oder geraubt, es ging einfach um die Lust an der Zerstörung oder das Ausagieren einer diffusen Gewaltbereitschaft.
Die Wut geht ins Leere
Wo kommt die her? Wie kann man sich ihre Verbreitung erklären? Das, was man gemeinhin Vandalismus nennt – wahrscheinlich muss man die historischen Vandalen gegen das, was heute unter ihrem Namen firmiert, in Schutz nehmen –, ist eine Wut, die ihr Objekt eingebüßt hat. Blind geworden dreht sie sich im Kreis. Gegen wen oder was sollte sie sich richten? Herta Müller lässt in ihrem Roman »Reisende auf einem Bein« eine – wie die Autorin selbst – aus Rumänien nach Berlin emigrierte Frau sagen: »In dem anderen Land, sagte Irene, habe ich verstanden, was die Menschen so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand. Es hat sehr weh getan, täglich die Gründe zu sehen. (…) Und hier, sagte Irene. Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehen. Es tut weh, täglich die Gründe nicht zu sehen.«
Herrschaft hat sich entpersonalisiert und anonymisiert. Sie tarnt sich immer perfekter als Technik und tritt den Menschen gegenüber als sogenannter Sachzwang auf. Gegen wen oder was soll unsere akkumulierte Wut sich wenden? Globalisierung: Wer macht das, kann man das anfassen, hat sie einen Sitz, eine Zentrale? Ist Globalisierung gut, schlecht, ein unabweisbares Verhängnis oder von allem ein bisschen? Wir werden von unsinnlichen Abstraktionen und um die Erde zirkulierenden Geldströmen beherrscht. »Aber«, fragte der Regisseur Peter Stein vor Jahren in einem Interview, »was ist das, ein Geldstrom? Ich habe noch niemals eine Hand in einen Geldstrom gehalten.« Wen können wir zur Verantwortung ziehen? Wer ist schuld an unserem diffusen Unbehagen und unserer Misere? Wenn die klassische politische Gewalt aus der personell erfahrbaren Unterdrückung stammte, so entspringt der frei flottierende Hass der Entleerung und Anonymisierung. Eine Erscheinungsform dieses Hasses ist das, was man Vandalismus nennt.
Woher aber stammt die Entleerung? Ein berühmtes Diktum Max Horkheimers abändernd könnte man sagen: »Wer aber vom Vandalismus des Kapitals nicht sprechen will, sollte auch vom gemeinen Vandalismus schweigen.« Unternehmerisches und staatliches Handeln als Gewalt zu bezeichnen, rührt an ein herrschaftssicherndes Tabu. Der Zivilisationsprozess hat das Gewaltmonopol des Staates aufgerichtet: Seitdem definiert er jede Gewalt, die er nicht selber ausübt, als roh und illegitim. Gewalt ist stets nur das, was der Staat als Gewalt definiert. Weil er selbst sich als Inbegriff von Kultur begreift, möchte er es untersagen, dass man sein eigenes Handeln als Ausübung von Gewalt kennzeichnet. Die zentralisierte Gewalt will keine mehr sein. Der Staat untersagt dem einzelnen den Gebrauch des Unrechts, »nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak«, schrieb Sigmund Freud in seiner Schrift »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«. Die kapitalistische Durchsetzungsgeschichte, also das, was man euphemistisch Modernisierung nennt, war jedenfalls ein äußerst gewaltförmiger Prozess – und ist es bis auf den heutigen Tag.
Das Kapital kann nicht existieren, ohne fortwährend alles Vorgefundene zu zerstören und umzuwälzen. Die Kategorie des Genug, die die vorbürgerliche Welt durchaus kannte, wird durch eine neue Grenzenlosigkeit ersetzt. Der Tauschwert, in dem nun alles gemessen wird, ist seinem Wesen nach grenzenlos. Der Kapitalismus, der sich aus ihm entwickelt, ist ein System, das in ständiger Bewegung sein muss, ständige Überschreitung und das Niederreißen aller Begrenzungen gehören zu seinem Wesen. Keine Geldsumme ist so groß, dass sie nicht noch größer werden könnte. Rund zweihundert Jahre kapitalistischen Wachstums haben ausgereicht, den Planeten zu ruinieren. Die Resultate sind nicht mehr zu übersehen und treten langsam ins allgemeine Bewusstsein.
Vandalismus des Kapitals
Die Städte sind zum Objekt der Spekulation und zum Aufmarschgebiet der Waren geworden. Was im Weg ist, wird abgerissen und verschwindet. Kleine Geschäfte werden beseitigt, Menschen vertrieben und umgesiedelt. Ganze Landschaftsbilder ändern sich, Wälder werden gerodet, Bach- und Flussläufe verlegt, Autobahntrassen zerschneiden die Landschaft. Die Kassiererinnen in den Supermärkten werden demnächst durch Scanner ersetzt, die jeder Kunde selbst in die Hand nehmen soll. In absehbarer Zeit wird das Bargeld aus dem Verkehr gezogen. Die Digitalisierung fegt über das Land wie ein Wirbelsturm. Die eingespielte Ordnung der Dinge wird erschüttert und durcheinandergewirbelt, bis nichts Festes und Statisches mehr existiert und die Menschen es vor lauter ständigem Wandel nicht mehr aushalten. Das ist eine viel zu wenig diskutierte Quelle des rechten Populismus, der den Wunsch vieler Menschen zum Ausdruck bringt, es möge sich endlich einmal nichts mehr ändern und alles so bleiben, wie es ist. Der rechte Populismus bringt dieses diffuse Gefühl allerdings nur zum Ausdruck, nicht zu seinem Recht, wie Walter Benjamin bemerkte.
Der Vandalismus ist vor allem ein Symptom einer fortschreitenden Gesellschaftszerstörung. Auf seiner neoliberalen Entwicklungsstufe geht der Kapitalismus dazu über, im Namen von Flexibilität und Mobilität menschliche Bindungen systematisch und großflächig zu zerstören. Seit dem 2002 vom ehemaligen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer formulierten Credo, »sozial ist heute vor allem, was mehr Beschäftigung schafft«, gelten stabile Bindungen an Orte und Menschen als eine Art von Behinderung. Die Menschen sollen sich den wechselnden Winden des Arbeitsmarktes überlassen und sich an nichts und niemanden fest binden. Der von Wirtschaft und Gesellschaft so vehement geforderte flexible Mensch soll alle Bindungen aufgeben und Hemmungen ablegen, damit er zu allem fähig werde. So ist es denn auch.
Damit entsteht für das System der bürgerlichen Herrschaft ein neuartiges Problem. Man kann offensichtlich nicht beides zugleich haben: den hochflexiblen, wendigen, allseits anschlussfähigen Menschen und einen Fundus von in der Person fest verankerten handlungsleitenden Normen und Werten. Deswegen ist für die Zukunft damit zu rechnen, dass es vermehrt zu unkontrollierten Trieb- und Impulsdurchbrüchen kommt, die im Extremfall die Form der völlig ungerichteten Aggressionsentladung annehmen können. Die zerfallende bürgerlichen Ordnung wird vom Vandalismus und vom Amoklauf geprägt sein.
Innere und äußere Polizei
Bereits Ende der 1960er Jahre hatte Max Horkheimer erklärt, das Gewissen der Leute sei nicht mehr wirksam genug, um so etwas wie ökonomische und staatliche Ordnung und gesellschaftliche Integration zu sichern, und die Polizei sei noch nicht stark genug. Seine Vermutung: Wenn die innere Polizei des Gewissens das Verhalten der Menschen nicht mehr mit hinreichender Zuverlässigkeit steuert, wird die äußere Polizei vermehrt in Erscheinung treten. Mit einem Begriff von Norbert Elias: Wenn die innere »Selbstzwang-Apparatur« erodiert, wird erneut Fremdzwang an ihre Stelle treten.
Die relative Stabilität der bürgerlichen Ordnung resultierte aus der Verzahnung von Über-Ich und Staat. Jenes war verinnerlichter Staat, dieser externalisiertes, also nach außen projiziertes, Über-Ich. Man kann sich dieses Zusammenspiel vergegenwärtigen, wenn man sich an Heinrich Manns Roman »Der Untertan« erinnert. Der kleine Diederich Heßling geht durch seine Heimatstadt. »Ecke der Meisestraße hinwieder musste man an einem Polizisten vorüber, der, wen er wollte, ins Gefängnis abführen konnte! Diederichs Herz klopfte beweglich; wie gern hätte er einen weiten Bogen gemacht! Aber dann würde der Polizist sein schlechtes Gewissen erkannt und ihn aufgegriffen haben. Es war vielmehr geboten, zu beweisen, dass man sich rein und ohne Schuld fühlte – und mit zitternder Stimme fragte Diederich den Schutzmann nach der Uhr.« Die frühe Unterwerfung unter die väterliche Autorität wurde in der Folge auf den Lehrer, den Pfarrer, den Lehrherrn, den Offizier und die Repräsentanten des Staates übertragen. Sie alle profitierten von der familiären Vorunterwerfung. Dass das System der weltlichen Autorität auf die Wirksamkeit der Autorität innerhalb der Familie angewiesen ist, hatte schon Martin Luther erkannt: »Denn aus der Eltern Obrigkeit fließt und breitet sich aus alle andere. ... Alle, die man Herrn heißet, an der Eltern Statt sind und von ihnen Kraft und Macht zu regieren nehmen müssen.«
Der Sozialpsychologe Peter Brückner erinnert sich: »Der uniformierte Polizist auf der Straße, Repräsentant des wilhelminischen Obrigkeitsstaats, war für Jugend und Volk eine weitere, wirksame Quelle der Einschüchterung. Noch in meiner Jugend, 1929, ich war sieben Jahre alt, empfand ein deutscher Junge in der Regel Herzklopfen, wenn er einen Polizisten sah, jedenfalls ein leidlich erzogener. Ich war sehr erstaunt, als 1968 gebildete Deutsche, Studierende, erstmals Steine auf Polizisten warfen.«
Wenn man einer Dokumentation Glauben schenken darf, die unlängst unter dem Titel »Scheißjob Bulle?« von der ARD ausgestrahlt wurde, ist es gegenwärtig um den Respekt vor der Polizei schlecht bestellt. Das könnte man als Linker begrüßen, wenn dieser Mangel an Respekt von einem gewachsenen Bewusstsein der Freiheit und Solidarität begleitet wäre und von einer Rücknahme des Staates in einer befreiten Gesellschaft zeugte. Etwas qualitativ anderes und Besseres wäre dann an die Stelle von Staat und Polizei getreten. Wir haben es aber eher mit einer fortschreitenden Selbstzerstörung der bürgerlichen Ordnung zu tun, deren Institutionen sich zersetzen und gleichsam »abfaulen«. Das ist eine der sozialen Pathologien, die das Zeitalter der Monster im Sinne Gramscis hervortreiben. Sie leiten Wasser auf die Mühlen der Rechten, die von der Wiederkehr eines »starken Mannes« träumen.
Dialektik der Moral
Der Zerfallsprozess der bürgerlichen Ordnung setzt Formen von Aggression und Zerstörung frei, die dringend einer intellektuellen und moralischen Kontrolle bedürften, die aber nicht in Sicht ist. Die zeitgenössischen Vandalen sind ja keine Feinde dieser Gesellschaft, sondern jeder Gesellschaft. Sie negieren nicht nur jene Moral, die den Kitt der klassengespaltenen und repressiven Gesellschaft bildet, sondern jede Moral. Sie sind keine irregeleiteten politischen Widerstandskämpfer, sondern verkörpern das Modell absoluter Asozialität, wie sie die Gesellschaft des entfesselten Marktes hervorbringt. Der gemeine Vandale ist der kleine Bruder des funktionalen Psychopathen, der am anderen Ende des sozialen Spektrums, auf den Chefetagen der Finanzindustrie, den Ton angibt. Skrupel- und Rücksichtslosigkeit dominieren auch hier, wobei der Schaden, den die Finanzpsychopathen anrichten, um ein Vielfaches größer ist als jener, der auf das Konto des gewöhnlichen Vandalismus geht.
Dieser Gesellschaft wohnt eine immoralistische Enthemmungstendenz inne. Die wertzynische Motorik des Geldes zehrt peu à peu sämtliche sozial-moralischen Traditionsbestände auf. Darauf müssen wir mit der Entwicklung einer neuen Moral der Solidarität und gegenseitigen Hilfe antworten. Moral ist überall dort von Belang, wo der andere ins Spiel und es darauf ankommt, unser Verhältnis zu ihm in richtiger Perspektive zu sehen. Insofern bedarf auch eine emanzipatorische Bewegung und eine aus ihr hervorgehende freie Gesellschaft der Moral, einer Moral der Befreiung. Eine halbwegs stabile Gesellschaft benötigt eine für (fast) alle verbindliche Wertsphäre, ihre Hauptzwecke müssen von (fast) allen geteilt werden. Bröckelt der moralische Kitt und weicht der gemeinsame Geist aus ihren Institutionen, geht sie in Zerfall über und es muss alles von außen gestützt und mehr oder weniger gewaltsam zusammengehalten werden. Oskar Negt spricht im zweiten Band seiner Autobiographie, die soeben unter dem Titel »Erfahrungsspuren« erschienen ist, zu Beginn und gegen Ende gleich zweimal eine Warnung aus: »Wir dürfen nicht warten, bis das Gemeinwesen verrottet ist und die moralische Verkrüppelung ein gesellschaftliches Betriebsklima geschaffen hat, das die Mühe um Anstand und politische Urteilskraft immer beschwerlicher und vielfach aussichtslos werden lässt.«
Es gibt noch einen anderen, zeitgemäßen Ausweg aus dem Zerfall klassischer Formen bürgerlicher Herrschaft. Bei fortschreitender Desintegration – ich sehe im Augenblick nichts, was sie aufhalten könnte – blüht uns unter heutigen Bedingungen eher eine digitale Diktatur als eine Rückkehr zum faschistischen Modell, obwohl auch das nicht auszuschließen ist. Unübersehbar wächst in den sogenannten liberalen Demokratien das Interesse an der in China praktizierten Allianz von autoritärem Staat und künstlicher Intelligenz. Demnächst sollen dort 600 Millionen Kameras mit Gesichtserkennung das Verhalten der 1,4 Milliarden Einwohner überwachen und die Spielräume für Abweichungen aller Art zum Verschwinden bringen.
Die Überwachungskameras im öffentlichen Raum treten an die Stelle des »Dorfauges«, das in traditionellen Gemeinschaften konformes Verhalten erzwang und das Verhalten überwachte. Für einen historischen Augenblick trat im klassischen bürgerlichen Zeitalter die innere Selbstbeobachtung des Gewissens an die Stelle des »Dorfauges«, bevor sie nun neuen Formen der »Außenleitung« (David Riesman) weicht. Selbst in seinen schlimmsten Alpträumen hätte sich Orwell so etwas wie das sich unter unseren Augen entwickelnde digitale Panoptikum nicht vorstellen können. Konformes Verhalten wird mehr oder weniger automatisch erzeugt, jenseits davon wird man sogleich zu einem Fall für die Polizei oder die Psychiatrie. Moral und Innenlenkung werden also tendenziell überflüssig. Noch schützen uns gewisse Residuen bürgerlicher Freiheits- und Persönlichkeitsrechte, aber die werden sich im Zuge der Digitalisierung schnell abschleifen. Das Individuum, jene Errungenschaft des bürgerlichen Zeitalters, das äußeren Fremdzwang durch verinnerlichten Selbstzwang ersetzte, wird aus dem Verkehr gezogen oder zieht sich selbst aus dem Verkehr. Die Leute verwanzen sich ihre Wohnung schon heute ohne äußeren Zwang und aus freien Stücken. So steht zu befürchten, dass sich das in China praktizierte »soziale Kreditsystem« auf dem ganzen Globus breitmachen wird. Die zu Usern mutierten Menschen veröffentlichen ja bereits jetzt ihre »Profile« in den sozialen Netzwerken und tragen in Form ihrer Smartphones freiwillig eine elektronische Fußfessel. Wie und aus welchen Gründen sollten sie einer digitalen Diktatur Widerstand entgegensetzen?
Bindungen als Gegenmittel
Die wirtschaftlichen Mächte, hatte ich gesagt, sind seit geraumer Zeit damit beschäftigt, durch eine sich totalisierende Warenproduktion und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche menschliche Bindungen bewusst zu zerstören, um die Menschen in flexible und allseits anschlussfähige Wesen zu verwandeln. Aus der Gewaltforschung wissen wir aber, dass Bindungen das einzig wirksame Antidot gegen die Gewalt sind. Stadtteile, in denen die Einwohner sich der Gemeinde wenig verbunden fühlen, weisen einen starken Vandalismus und eine hohe Kriminalitätsrate auf. Das Gefühl, mit dem Ganzen der Gesellschaft und der Stadt nicht verbunden zu sein und keine Einflussmöglichkeiten zu besitzen, begünstigt die Gewalt in all ihren Spielarten. Ohnmächtig und blind schlagen die Herausgefallenen auf die gesellschaftliche Fassade und andere Menschen ein, die sie für ihre Malaise verantwortlich machen. Positiv formuliert: Mit was ich mich stabil verbunden fühle, das kann ich zwar kritisieren und verändern wollen, aber ich werde es nicht blindwütig zerstören. Schulen, in denen ein Klima der Kooperation und des Vertrauens existiert und sich die Schülerinnen und Schüler mit Lehrern und Schule verbunden fühlen, weisen eine deutlich geringere Rate an Gewalttaten und Vandalismus auf als solche, in denen ein Klima der Fremdheit und Indifferenz herrscht.
Die Gesellschaften des entfesselten Marktes werden mehr und mehr zum Schauplatz eines »molekularen Bürgerkriegs« (Hans Magnus Enzensberger). Wer gegen ihn etwas unternehmen möchte, muss auf die Errichtung eines Wirtschaftssystems dringen, das industriell abrüstet und dessen wichtigste Angelegenheiten nicht Elektroautos, Smartphones und Algorithmen sind, sondern lebendige Beziehungen und menschliches Glück.
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