Da gerinnt das Blut in den Adern: In der
ZDF-Serie „Reich und obdachlos“, in der Begüterte in der Kluft Obdachloser für
einige Tage Probleme der Armen kennenlernen sollten, „erkannte“ eine Hamburger
Galeristin empörend, ja, Obdachlose werden mißachtet, werden als der letzte
Dreck angesehen, nicht als Menschen. Man merkte es ihr an, ihr war nach Heulen
zumute. Sie fragte aber nicht, warum das so ist. Warum diese sich vertiefende
Kluft zwischen Arm und Reich? Keiner der teilnehmenden Millionäre dachte
darüber nach. Warum eigentlich nicht?
Unglaublich: Sie sehen mit eigenen Augen
das Elend, spüren aber auch den Reststolz der am Rande der Gesellschaft
lebenden. Machen also persönliche Erfahrungen – und doch bleibt ihr Denken in
der bloßen Anschauung stecken, im Symptom. (Auch im Falle des
Bundespräsidenten.) Warum? Wegsehen, weil man angeblich nichts bewirken könne,
Zufriedenheit, die einen zudeckt? Wo doch täglich aufs Neue Pleiten in der
Gesellschaft passieren. Taube Ohren? Taube Augen? Tote Seelen?
Fahre mit der S-Bahn, gehe in die
U-Bahnschächte, laufe durch die Straßen: Überall triffst du sie: Die Ärmsten
der Armen. Manchmal eine zu verkaufende Obdachlosenzeitung unterm Arm, manchmal
ein Musikinstrument spielend, oft knieend auf dem Bürgersteig und einen Hut
oder Teller vor sich. Und diese Augen!! Sie sprechen Bände. Sie schreien stumm:
Bitte, bitte…! Und das deutschlandweit, weltweit. Im „Schattenblick“ war per
Internet zu lesen: „250
000 Menschen gelten in Deutschland als wohnungslos - Tendenz steigend. Jeder
sechste Deutsche ist armutsgefährdet, könnte abrutschen und - wenn es ganz
schlimm kommt, auf der Straße landen. Das Risiko zu verarmen hat längst die
Mittelschicht erreicht. So weit die Fakten. Grund genug für Journalisten, das
Thema Obdachlosigkeit aufzugreifen und darüber zu berichten. Aber wie?“
Nun, das ZDF - und nicht nur dieses
Medium - hat es versucht – und ist erbarmungslos in den Augen wohl der meisten
Zuschauer abgerutscht, weil die Serie zu flach und oberflächlich daherkam. Ohne
Tiefe, ohne ein gesellschaftliches Resümee zu ziehen. Schade um die
Steuergelder!
Auch ich sehe oft einen, der bettelnd vor
dem Eingang des Supermarktes steht. Einen Menschen. Nahezu täglich, nun schon
Jahre, da man ihn sieht, bei Wind und Wetter. Nicht die Hände ausgestreckt.
Keinen Hut vor sich auf dem Erdboden. Ruhig und lächelnd steht er da wie eine
Statue. Jeden höflich „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ ansprechend. Blaue Augen, tränenlos. In
unseren Taschen finden wir etwas Kleingeld. Jedesmal. Er bedankt sich.
Wie gerne würde ich mehr über ihn
erfahren. Woher er kommt, wie er in diese entwürdigende Lage gekommen ist. Wie
schwer er es hatte. Ob er Angehörige hat. Und und und… Ist es Mitleid? Eher
Mitgefühl. Und was würde es ändern an seinem Zustand? Könnte man etwas über ihn
schreiben? Würde er das befürworten? Und wer soll das veröffentlichen? Das ist
doch keine Sensation, die sich gut verkaufen läßt.
Da steht er also, was mir vorkommt, er
stünde er auf einem Bahnhof und dürfte und könnte nicht in einen Zug steigen,
der ihn mitnähme in ein menschenwürdiges Dasein. Und die an ihm
Vorübereilenden: Da er öfter dort steht, ist er kein unbekannter. Sicher,
einige reichen ihm Almosen. Und gehen befriedigt weiter, etwas Gutes getan zu
haben. Warum nicht? Andere senken verschämt die Köpfe, sausen schnell vorbei an
einem für sie unfaßbaren Häuflein Unglück. Ihm ein paar Cent geben? Ist das die
Lösung? Vor Jahren fragte ich mal einen Obdachlosen: Gibst du mir auch etwas,
wenn ich arbeitslos bin? Aber ja, antwortete er und wir lachten beide und ich
steckte ihm einen Almosen zu.
Wegschauen! Verächtlich dreinschauend!
Flink vorübergehen! Feigheit? Sich als etwas Besseres fühlend, trotz der
glitzekleinen „Erfahrungen“ wie der Frau in der ZDF-Serie? Ist das zur
Gewohnheit geworden? Hat sich Kälte eingefressen in unser noch wohlbehütetes
Dasein? Die Macht der Selbstzufriedenheit! Wie stark muß die Mauer um einen
sein, wenn man außerhalb seines Ichs, außerhalb seiner „Geschäfte“ nichts mehr
sieht, nichts mehr wahrnehmen will? Ist es nicht an der Zeit, diese sehr
schwerwiegenden inneren Widerstände einzureißen? Schauen wir etwas genauer hin:
Wer macht es denn den Leuten schwer, mehr Kopfarbeit zu leisten?
Ist es die Gewöhnung an die nahezu
täglichen Abstürze, an die andauernden Misere? Nicht nur. Keinem kann man es
verübeln, jeder hat seine eigene Sicht. Die Wahrheit ist auch: Aber nicht jeder
sieht etwas!! Etwa dies zur Auswahl: Arbeitslosigkeit, geheuchelte
Bewerbungsschreiben, , wackelnde und stürzende Minister- und Präsidentensessel,
Vertuschungen, Lügen über die Geschichte, Reduzierungen auf Unwesentliches,
Lieblosigkeiten, geheuchelte Liebe, Verdummungsprozesse per Medien, Betrug der
Massen, Fluglärm der Wirtschaftlichkeit wegen, „Reparaturkolonnen“ statt
„Demokratie“, Schönheitsoperationen, um sich besser verkaufen zu können,
Bettler, hungrige Augen, Gewalt, Messerstecher, Autoanzünder, Mieter, die wegen
steigender Mieten hinausgeekelt werden, Mütter, die bei kriegerischen
Auslandseinsätzen ihre Söhne verlieren, Finanzpleiten, die das ganze System der
Gesellschaft ins Wanken bringen. Menschen, die von Pleite zu Pleite torkeln und
das Vertrauen in die Politik mehr und mehr verlieren!!! Ein Sumpf, der täglich
neue Blüten produziert!
Die flunkernden Medien, die Politik - alle
machen sie einen großen Bogen um tiefere gesellschaftliche Ursachen. Nicht, daß
das Wort Profitmaximierung nicht fiele, das vor Jahren noch stets
totgeschwiegene Wort „Kapitalismus“. In allen Tolk-Shows hört man es, hin und
wieder. Und dann? Wie weiter? Keine Lösung angedacht? Sind die Deutschen zu
feige, an der Macht zu rütteln? In der DDR ging das doch so einfach, aber aus ganz
anderen Gründen. Und nun? Keiner glaubt doch mehr an ein Land des Aufblühens.
Niemand. Eine Alternative muß her, so unverzüglich wie möglich! Da ist aber die
Sperre im Kopf: Die wird nichts angedacht. Komplexes Denken, dies hat Gesine
Lötzsch (die Partei Die Linke) mal in einer TV-Gesprächsrunde auf den Punkt
gebracht. Man verstand sie erst gar nicht… Wo sind wir gelandet? Wohin fährt
der Zeitenzug?
Bleiben wir beim Symbol des Bahnhofs. Der
Zug fährt ein. Alle wollen und müssen mitkommen. Die Egoisten, die Ereiferer,
die Arroganten, die Narzisten, die Herrschenden, die Volksverdummer. Sie haben
nur ein Ziel: Nichts zu verpassen. Weder den noch existierenden Arbeitsplatz
noch den Anschluß an die Gesellschaft. Mithalten ist die Devise. Sich verkaufen
müssen. Die Furcht vor Verlusten treibt sie voran, der Konkurrenzkampf. Ganz
oben sein. Auf Biegen und Brechen. Zurückschauen auf den zurückbleibenden
Obdachlosen? Warum? Jeder muß zusehen, dass er über die Runden kommt. „Das
Bewußtsein der Vielen fuhr immer im letzten Wagen des Zeitenzuges“, schreibt
Maximilian Scheer in seinem Buch „Paris-New York“.
Einst kam ich mit einer „feinen“ Dame aus
dem künstlerischen Bereich über die Arbeitslosigkeit ins Gespräch. Sie schwörte
unverdrossen auf die Kultur ihres Abendlandes. Und die am Straßenrand
hockenden, die Ausgestoßenen, was ist mit denen, fragte ich sie. „Die
interessieren mich nicht“, war ihre furchtbare arrogante Antwort. Und ein
Geistlicher äußerte im persönlichen Gespräch auf die Frage nach Kriegen und den
Leuten, die ganz unten stehen, das sei Gottes Fügung…
Wie weit muß eine Gesellschaft noch
sinken, um so viel Ignoranz den Bedürftigen gegenüber für ewig zu akzeptieren? Welch eine
Gefühlskälte spielt da mit? Sicher, nicht jedem Außenstehenden kann man Almosen
zustecken, aber haben sie nicht mindestens unsere Achtung verdient, wie sie sich durchs Leben durchboxen zu
müssen? Und nochmals: Wohin führt unser Zeitenzug?
Was sagt zum Beispiel der französische
Philosoph Lucien Sève in seinem Artikel „Der Mensch im
Kapitalismus“ (siehe „Das Blättchen“, 14. Jahrgang | Nummer 26 | 26. Dezember 2011) zu diesem sehr menschlichen Problem? „Wir stehen an der
tragischen Schwelle zu einer Welt, in der der Mensch nichts mehr wert ist.(2)
Das drückt sich im „Schicksal“ derer aus, die arbeitslos, obdachlos, heimatlos
oder perspektivlos sind. Aimé Césaire hat in diesem Zusammenhang von der
„Fabrikation von Wegwerfmenschen“ gesprochen. Dabei werden diejenigen fett, die
alles zu Geld machen – unvorstellbar hohe Gehälter, goldener Handschlag – ,
aber es läuft auch bei ihnen auf dasselbe hinaus: den Verfall aller
Wertmaßstäbe. Der einzige „Wert“, der sich zum Maß aller anderen macht, ist nur
noch selbstbezüglich und ohne jeden eigenen Wert. Der Finanzsektor hört nicht
auf, sich mit virtuellen Nullen aufzublähen, die milliardenweise verschwinden,
sobald die Blase platzt. Zurück bleibt die harte Wirklichkeit für die
Produzenten des Realen. Ist diese Auflösung der Werte weniger schlimm als das
Abschmelzen der Pole? Unsere Menschlichkeit selbst steht auf dem Spiel – ist
uns das in vollen Ausmaß bewusst?“
Der Mensch im Kapitalismus. Na schön,
sagen viele Zeitgenossen. Wir leben, und ändern können wir ohnehin nichts.
Daniil Granin stellte in seiner interessanten Reisereportage „Garten der Steine“ u.a. fest, daß der Kapitalismus auf der
Straße recht unsichtbar ist und nicht so leicht zu entlarven, womit er recht
hat. Aber die Bettelnden – sind sie nicht ein augenfälliges Beispiel für die
seelische und physische Armut dieser Gesellschaft, die überdies immerfort von
der Einhaltung der Menschenrecht faselt?
Ich sehe ihn noch vor mir: Den Bettler vor
der schwedischen Kirche in Karlskrona, als wir einst für viele Jahre in
Schweden wohnten. Da steht eine Holzfigur, genannt der „Gubben Rosenbom“. Durch
den Roman „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson“ von Selma Lagerlöf
weltberühmt geworden, jetzt der meistfotografierte Alte in Schweden und das
Erkennungsmerkmal von Karlskrona. Was mich aber sehr bewegte, das ist der
Spruch auf einer kleinen Tafel: „Demütig ich bitte sehr, die Stimme ist nicht
gut, gib mir ein Taler her, doch lüpf dafür den Hut.“ Wie würdevoll!
Ich hoffe, später einmal, da werden
die – aus welchen Gründen auch immer -
,rücksichtslos aus der Lebensbahn Geworfenen ihren Bettelplatz mit einem
Arbeitsplatz vertauschen können. Dann erst zieht auch unser einstiger Mann vor
dem Supermarkt seinen Hut vor denen, die die Welt verändert haben. (Jeder Kapitalanbeter und Nutznießer lacht sich dabei kaputt...)
Zunächst aber bitte Hut ab vor den Armen.
Ja, sind wir denn ganz von Sinnen, nur das Geld und dessen Allmacht zu
akzeptieren? Man sagt zurecht: die auffälligste Fehlentwicklung unserer
Zivilisation ist die Vermarktung alles Menschlichen. Wohin führt uns also der
Zeitenzug, da heute uralte kulturelle Werte der Kälte des Kokurrenzkampfes
geopfert werden – und zwar weltweit? Und die meisten Medien spielen da ohne
Zögern mit.
Da schreibt die Moskauerin Ljubow
Pribytkowa im Internet über die Medien, die ja nach bürgerlichem Verständnis
wachen müssten über den Zustand der Gesellschaft: „Sie produzieren gefälschte `Erinnerungen`,
schreiben unbequemen Politikern fiktive Reden zu, starten provokatorische
Verhöre, verbreiten schmutzige Anekdoten usw.… Politische Ereignisse und gesellschaftliche
Tatsachen werden gerade so interpretiert, wie es der Bourgeoisie von Vorteil
ist. Vom kritischen oder sozialistischen Realismus in der Kunst, von der
Wahrhaftigkeit der politischen Propaganda können wir jetzt nur träumen.
Rundfunk und Fernsehen überfluten in breiten Strömen die Welt mit Lüge,
Irreführung und Verleumdung. Da werden Tatsachen unterstellt, Begriffe
verzerrt, falsche Videos produziert. Die Demagogie wurde zu einem
Hauptinstrument der Bearbeitung des Bewußtseins der Massen. Nur mit Mühe kann
man im Internet ein Programm mit objektiven Interpretationen über die
Ereignisse in der Welt finden.“
Der Zeitenzug! Er rast wohin? Eines steht
fest: Die Oberflächlichkeit, die menschliche Kälte, die Diktatoren des
Geldes – sie fahren in den vordersten
Waggons. Die Nachdenklichkeit, das Bewußtsein vom schlimmen Zustand unserer
Welt, sie werden auf den letzten Waggon verbannt. Da sollte man doch
schnellstens die Lokomotivführer wechseln und ihnen die Weichen stellen zur
Fahrt in eine humanistischere Welt. Nicht die Ausgestoßenen, die auf dem
Bahnsteig zurückbleibenden, sind die Ärmsten, nicht sie…
Vielmehr hochgradig jene, die mit
politischer Blindheit Geschlagenen, die Finanzkraken dieser Welt, die
personifizierte Gier – noch sitzen sie
bequem in der ersten Klasse, verteufeln jegliche Alternativen und träumen vom
„Kohlemachen“, vom nächsten Extraprofit, die Welt in den Abgrund schleudernd…
Und ahnen nicht einmal, wie gefährlich, wie verbrecherisch und überflüssig sie
in einer nur finanzbeherrschten globalisierten Welt geworden sind…
"Die Unwissenheit läßt die Völker nicht nur in Schlaffheit
versinken, sondern erstickt in ihnen selbst das Gefühl der
Menschlichkeit."
(Helvétius)
Veröffentlicht u.a. in der Zeitschrift "RotFuchs" (Dez. 2012)