Das Karfreitagsmassaker an der Grenze zum Gazastreifen und die deutsche Diskussion über zunehmenden Antisemitismus
Journalist und Autor
Arn Strohmeyer
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Arn Strohmeyer
Wer immer noch nicht glauben will, dass Israel ein brutales siedlerkolonialistisches System ist, dem müsste die israelische Reaktion auf die Demonstration der Palästinenser am „Tag des Bodens“ gegen die Enteignung ihres Landes („Marsch für die Rückkehr“) eines Besseren belehrt haben: 16 erschossene Palästinenser und hunderte (einige Berichte sprachen sogar von mehr als tausend) Verletzte. Wenn der Kolonialherr sein Kolonialsystem gefährdet sieht, weil die in Reservaten oder Bantustans Eingesperrten Freiheit und Menschenwürde fordern, dann schlägt er in furchtbarer Weise mit einem Massaker zurück. So war das immer im Kolonialismus. Der Karfreitag 2018 wird als ein neues Datum der Schande in den Annalen des Nahen Ostens vermerkt werden.
Wenn Israel zum Argument der „Selbstverteidigung“ greift, um den Mord zu rechtfertigen, dann ist das blanker Hohn. Denn Israel kontrolliert den Gazastreifen zu Lande, zu Wasser und aus der Luft (auch wenn dort keine Truppen stationiert sind) und damit ist es völkerrechtlich Besatzungsmacht. Und eine Besatzungsmacht hat kein Recht zur „Selbstverteidigung“. Aber die Eingesperrten und Besetzten haben ein Recht zum Widerstand, soweit er sich gegen den militärischen Unterdrücker und nicht gegen die Zivilbevölkerung richtet. Zudem ist die völlige Abriegelung des Gazastreifens und seiner zwei Millionen Bewohner völkerrechtlich gesehen eine Kollektivstrafe und damit völkerrechtlich illegal. Das Recht ist also eindeutig auf der Seite der palästinensischen Demonstranten, die sich keinerlei exzessive Gewalt haben zuschulden kommen lassen.
Interessant ist die deutsche Berichterstattung über das Massaker. Dort hieß es zunächst: Bei Unruhen an der Grenze des Gazastreifens zwischen Israelis und Palästinensern seien 17 „Menschen“ getötet und Hunderte (oder über tausend) verletzt worden. Da kann sich der unbefangene Zeitungsleser, Radiohörer oder Fernsehzuschauer sagen: Aha, da sind offenbar auch Israelis ums Leben gekommen. Was aber nicht der Fall war: Es waren ausschließlich Palästinenser betroffen. So wird sprachlich manipuliert, um Israels Rolle bei dem Massaker zu entlasten. Ein schönes Beispiel für „Lückenpresse“.
Das von israelischen Soldaten angerichtete Massaker war ein barbarischer Akt und offenbar auch geplant, denn Israel hatte jede Menge Scharfschützen an der Grenze aufgeboten. Dieses Verbrechen sollte auch in Deutschland sehr genau registriert werden und in die hysterisch geführte Debatte über einen angeblich zunehmenden Antisemitismus einbezogen werden, den vor allem muslimische Flüchtlinge oder Migranten ins Land gebracht haben sollen. Jede Form von wirklichem Antisemitismus ist zu bekämpfen, aber die gegenwärtig in Deutschland geführte Debatte findet mehr oder weniger im luftleeren Raum statt, weil es tabu ist, über die wirklichen Gründe des angeblichen „Antisemitismus“ zu sprechen – eben Israels brutale Besatzungspolitik über ein ganzes Volk, für die das Karfreitagsmassaker ein neuer eklatanter Beleg ist. Nur handelt es sich bei der Kritik an der Politik dieses Staates nicht um Antisemitismus, sondern um ein sehr berechtigtes humanes Anliegen. Denn immerhin müssen zwischen vier und fünf Millionen Palästinenser in den besetzten Gebieten bei ständigem Verlust ihres Landes und eingesperrt in Reservaten ohne politische und bürgerliche Rechte leben.
Kritik an diesen Zuständen hat nichts mit Antisemitismus zu tun, sondern mit berechtigter Kritik an der nicht hinnehmbaren Politik des zionistischen Staates. Hier liegt ein gutes Beispiel dafür vor, zu welch falschen Schlüssen eine Diskussion über Antisemitismus in Deutschland kommen muss, wenn sie nicht zwischen Judentum, Zionismus und Israel (und damit auch zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik) unterscheidet. Das Massaker an der Grenze zum Gazastreifen haben nicht „Juden“ ganz allgemein begangen, sondern israelische Soldaten. Trifft man die Unterscheidung zwischen den drei Kategorien Judentum, Zionismus und Israel nicht, dann wäre die völlig berechtigte Kritik an dem Karfreitagsmassaker „antisemitisch“, was ja völlig absurd wäre.
Die deutsche Diskussion über Antisemitismus wird sich so lange im luftleeren Raum abspielen und mit Scheinargumenten hantieren, so lange eine Feststellung wie die des israelischen Soziologen und Philosophen Moshe Zuckermann von der Universität Tel Aviv nicht zu Kenntnis genommen wird. Er schreibt: „Was man nicht begreift, ist, dass der Hauptförderer von Antisemitismus in der Welt – und es gibt Antisemitismus in der Welt, der überall bekämpft gehört – heute Israel ist.“
Es hilft also nichts, über zunehmenden Antisemitismus zu klagen (vor allem bei Muslimen) und zu fordern, dass muslimische Kinder in den Schulen besser über den Holocaust „aufgeklärt“ werden, Exkurse in NS-Vernichtungslager machen und Lehrer für diese Aufgabe Zusatzausbildung erhalten sollen, so lange Israel die brutale Politik gegenüber den Palästinensern betreibt, die es seit Jahrzehnten betreibt und ohne die es den Staat Israel gar nicht geben würde – siehe die Nakba von 1948, die im Grunde bis heute andauert. Dass sich Muslime, die selbst oder ihre Herkunftsstaaten unter den Folgen des Zionismus zu leiden haben, mit den Palästinensern solidarisieren, ist ihr gutes Recht und hat mit Antisemitismus gar nichts zu tun.
Das ganze hochgespielte Antisemitismus-Problem hat seinen Hauptgrund darin, dass die deutsche Politik, die Mainstream-Medien und ein Großteil der Bevölkerung die israelische Realität nicht zur Kenntnis nehmen und sich wegen einer nicht verarbeiteten Schuld ein Wunschbild von diesem Staat erhalten wollen, das mit der zionistischen Wirklichkeit nichts zu tun hat.
31.03.2018