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»Es geht um ein Modell jenseits der Ausbeutung«
Gespräch mit Achille Mbembe. Der Umgang mit den »Überflüssigen« der heutigen Welt ist eine historische Frage. Der Kapitalismus kann sie nicht beantworten
Interview: Arnold Schölzel, Peter Merg
Textauszug
(…)
Denn das ist der innerste Antrieb des Kapitalismus: Jedes und jeden in eine Sache umzuwandeln – in Geld oder in eine Ware. Aus meiner Sicht ist es daher notwendig, dass antikapitalistische Kämpfe dieser Logik von Verdinglichung entkommen. Unser Überleben auf der Erde hängt davon ab, ob es uns gelingt, jene Dinge zu bestimmen, die nicht ge- und verkauft werden können, die vielmehr nur gemeinsam angeeignet und genutzt werden dürfen. Aus dieser Perspektive betrachte ich die Dialektik von Menschlichem und Nichtmenschlichem.
Die Zeit, in der der Mensch als herausragendes Geschöpf betrachtet wurde, ist zu Ende. In diesem Denken gibt es eine apokalyptische Konsequenz, die wir anfangen zu erkennen – in den Kriegen, die geführt werden, in den Gewaltakten, die verübt werden. Wir leben nun am Beginn einer Epoche, in der Entscheidungen nicht von Menschen, sondern von Maschinen gefällt werden, in der unsere Verantwortung teilweise an Maschinen delegiert wird. Künstliche Intelligenz und Automatisierung machen mit der gedachten zentralen Stellung des Menschen Schluss.
A. S.: Das klingt so pessimistisch wie klassische Kulturkritik. Sie haben geschrieben, dass die Welt »schwarz« wird, weil Millionen, wenn nicht Milliarden von Menschen das »Recht auf Rechte« genommen wird – analog zu den Zeiten der Sklaverei. Sehen Sie einen Ausweg aus dieser Situation?
Nicht unter den gegenwärtigen kapitalistischen Verteilungsverhältnissen. Was ich meine: Wenn die Logik der kapitalistischen Akkumulation fortgesetzt wird, kann dieses Szenarium nicht vermieden werden. Solange die Produktion dessen, was für die menschliche Existenz grundlegend ist, von den elementaren Bedürfnissen der Menschen getrennt ist, werden wir Ungleichheiten haben, wie es sie in der Geschichte der modernen Menschheit noch nicht gegeben hat. Wenn dies mit der Errichtung neuer Grenzen gekoppelt wird, mit der Einschränkung der Mobilität von Menschen, wenn die Welt geteilt wird zwischen jenen, die ohne Einschränkungen reisen können, und jenen, die das nur unter Restriktionen können, und die dazu bestimmt sind, das nie grundlegend ändern zu können, wenn das so eintritt, werden wir mehr und mehr Klassen von Menschen haben, die »überflüssig« sind.
Und die Frage für Regierungen wird sein: Was tun wir mit Menschen, die wir nicht benötigen? Die für unser Glück und unseren Wohlstand nicht wichtig sind? Die eine Gefahr für uns sind? Das ist eine historische Frage.
Denn das Problem ist: Wie halte ich sie in Schach? Wie behandele ich sie, wenn ich sie nicht mehr länger ausbeuten kann, aber für Profit und Akkumulation Ausbeutung benötige? Was also machen wir mit Menschen, die nicht »unsere« sind, die nicht zu uns, unserer Gemeinschaft gehören? Gibt es ein Modell dafür, wie wir sie behandeln und regieren?
Ja, das gibt es, es ist das Gaza-Modell. Wir sperren sie in ein Gefängnis ein, in ein Lager, in viele Lager. Ich sehe nicht, wie man dieser Logik entkommen kann.
Was wir machen können, ist zunächst ein Umdenken, eine Umgestaltung der Form von Universalismus. Ist es wahr, dass wir nichts Gemeinsames haben, dass wir einander nichts schuldig sind? Oder ist es so, dass wir deswegen, weil wir alle Menschen sind, einander grundsätzlich etwas schuldig sind? Wir treten in eine Epoche ein, in der es nicht mehr nur darum geht, solche Fragen zu stellen, sondern in der wir gezwungen sind, Antworten zu geben. Es geht darum, ob menschliches Leben auf der Erde dauerhaft erhalten werden kann – nicht allein wegen ökologischer Katastrophen, sondern auch wegen bestimmter Regierungsformen – ich meine die liberale Demokratie. Sie ist nicht länger in der Lage, der Frage adäquat zu begegnen, wir benötigen ein politisches Modell jenseits von ihr. Sie hat sich selbst ausgehöhlt und entwickelt autoritäre Formen. Dieses System, das uns nach dem Zweiten Weltkrieg Freiheiten gebracht hat, stößt an seine Grenzen.
A. S.: Wäre das, was Sie fordern, Sozialismus? Rosa Luxemburg sprach von der Alternative zwischen Sozialismus oder Barbarei.
Wir müssen uns solche Denkerinnen wie Rosa Luxemburg und andere daraufhin ansehen, ob wir bei ihnen ein Modell für menschliches Leben jenseits von Ausbeutung finden. Wir müssen zu diesen Traditionen zurückgehen und sie im aktuellen Kontext überprüfen. Das ist heute die Aufgabe.
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