Dienstag, 13. März 2018

Interview mit Lafontaine




„Das Parlament repräsentiert nicht die Bürger“



VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 13. MÄRZ 2018

von Stefan Korinth/Oskar Lafontaine

Interview mit Oskar Lafontaine zu Armut, Flucht und Krieg.



Oskar Lafontaine, saarländischer Oppositionsführer und früherer Parteivorsitzender der Linken, spricht im Interview mit Rubikon über die Idee einer linken Sammlungsbewegung in Deutschland und über innerparteiliche Kontroversen in der Flüchtlingsdebatte. „Eine Linke darf sich nicht nur um die zehn Prozent der Flüchtlinge kümmern, die es bis hierher schaffen“, sagt Lafontaine. Mit ihm sprach Stefan Korinth.


Herr Lafontaine, seit einigen Monaten werben Sie und die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, für die Idee einer linken Sammlungsbewegung. Warum ist solch eine Bewegung aus Ihrer Sicht nötig?

In der Politik muss man klare Ziele haben. Die Linke muss dafür eintreten, dass wir bessere Renten, bessere Löhne und bessere soziale Leistungen haben. Diese Ziele werden seit Jahren verfehlt, weil sich die politischen Mehrheiten, die es in der Bevölkerung für diese Ziele gibt, im Bundestag nicht abbilden. Deshalb müssen sich diejenigen, die diese Verbesserungen der Lebensbedingungen der Mehrheit verfolgen, neu aufstellen.

Wie könnte so eine Sammlungsbewegung konkret funktionieren? Wie organisiert man sich, wer trägt Verantwortung, woraus bestünden die Aktionen?

Am ehesten kann man sich an der französischen Bewegung „La France insoumise“ (LFI) orientieren. Dort gibt es die Parti de Gauche, wie bei uns die Partei „Die Linke“. Neben dieser Partei gibt es eine Plattform, auf der sich die Mitglieder, die diese Sammlungsbewegung LFI unterstützen wollen, eintragen können.

Dafür war kein Mitgliedsbeitrag nötig. Es gab dort die Möglichkeit, wichtige Entscheidungen mitzutreffen – beispielsweise bei der Frage, ob man im zweiten Wahlgang Macron unterstützt. Da haben die Mitglieder über Internet diese Entscheidung getroffen und empfohlen, es den Anhängern freizustellen. LFI ist ein Beispiel, an dem man sich orientieren kann.

Aber eine neue Partei soll aus Ihrer Idee der Sammlungsbewegung nicht entstehen?

Zuerst muss man solch eine Bewegung initiieren. Wie sich diese dann organisiert, um auch im Parlament Politik zu machen, muss man abwarten.

Wenn von solchen Bewegungen in anderen europäischen Ländern die Rede war, dann oft in Zusammenhang mit Wahlen. Was könnten denn Aktivitäten solcher Bewegungen zwischen den Wahlen sein?

Es gibt da Beispiele in Europa, dass man örtliche Komitees bildet. Diese Komitees diskutieren Politik, sie setzen sich für die Ziele der Bewegung ein und sind über diese Plattform koordiniert.

Nun haben sich in Ihrer Partei bereits mehrere namhafte Leute wie Bodo Ramelow oder Katja Kipping gegen die Sammlungsidee positioniert. Die Linke würde dabei letztlich zerstört, warnte Ramelow. Katja Kipping sieht die Gefahr einer Spaltung. Was antworten Sie darauf?

Die Parteivorsitzende Kipping hat sich auch schon für eine Sammlungsbewegung ausgesprochen. Einige Tage später war sie anderer Meinung. Jetzt gibt es allerdings einen Brief der beiden Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger an die Mitglieder der Linken, in dem ähnliche Ziele formuliert werden. Aber mit dem Unterschied, dass der Ausdruck „Sammlungsbewegung“ vermieden wird. Und Bodo Ramelow hat bisher wohl zu wenig Zeit gefunden, sich über die Bewegungen und über die Veränderung der Parteienlandschaft in ganz Europa zu informieren.

Interessant ist, dass diese Idee jetzt auch innerhalb der SPD aufgegriffen wird. Es gibt die Ankündigung des Abgeordneten Marco Bülow aus Nordrhein Westfalen ebenfalls eine Sammlungsbewegung zunächst einmal in den sozialen Medien zu initiieren.

Als ich von dieser Idee der Sammlungsbewegung hörte, kam mir die Friedensbewegung der 1980er Jahre in den Kopf, in der ja auch verschiedene soziale Milieus und Parteien vereint waren. Oder die außerparlamentarische Opposition. Wie neu ist denn Ihre Idee eigentlich? Was unterscheidet sie von früheren ähnlichen Bewegungen?

Sammlungsbewegungen gab es immer wieder und der Verweis auf die Friedens- oder Ökologiebewegung ist sicherlich angebracht. Es geht ja immer um die Frage, welche Ziele erreicht werden sollen. Und im Gegensatz zu den beiden genannten Bewegungen wäre das Hauptziel der neuen Bewegung die Wiederherstellung des Sozialstaates. Diesem Ziel dienten auch die Hartz-IV-Proteste, die vor gut zehn Jahren stattfanden. Die wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen und der schleichende Sozialabbau in Deutschland müssen gestoppt werden.

Es gab ja auch in den letzten Jahren linke Bewegungen wie Occupy, die Anti-TTIP-Kampagne, Friedensmahnwachen oder „Stopp Air Base Ramstein“. All diese Bewegungen wurden vom Medien-Mainstream entweder ignoriert oder scharf angegriffen. Wären Sie, wäre diese neue Sammlungsbewegung auf den massiven medialen Gegenwind vorbereitet?

Die Linke hat in den Machtstrukturen des Kapitalismus immer medialen Gegenwind, in Deutschland, Europa und überall auf der Welt. Das kennt die Linke. Insofern ist jeder, der sich für so eine Bewegung einsetzt, darauf vorbereitet.

Könnte so eine Bewegung denn auch ohne klassische Medien oder sogar gegen sie funktionieren? Also nur mit Unterstützung aus den sozialen und alternativen Medien?

Es gibt ja die Beispiele aus England und Frankreich: Die Momentum-Bewegung hat viele Mitglieder zur britischen Labour Party geführt. Und Jean-Luc Mélenchon hat bei den französischen Präsidentschaftswahlen knapp 20 Prozent der Stimmen gewonnen. Man kann also auch bei starkem medialem Gegenwind Erfolg haben.

Besteht in Ihren Augen die Gefahr, dass auch neoliberale oder nationalistische Akteure die Idee einer außerparlamentarischen Bewegung für sich entdecken und erfolgreich umsetzen könnten?

Pegida und die AfD gibt es ja schon. Aber die Linke muss sich mit der Frage beschäftigen, wie sie wieder erfolgreich sein und das Erstarken der Rechten verhindern kann. Deshalb brauchen wir diese Sammlungsbewegung.

Sie haben einen Artikel in der Sächsischen Zeitung veröffentlicht, in dem sie von einer Haltung innerhalb der Linken sprechen, die Sie „No-Border-No-Nation-Neoliberalismus“ nennen. Können Sie diese kurz erklären?

Das ist eine Diskussion, die in der gesamten Linken weltweit geführt wird. Vor allem aber in Europa. Auf der einen Seite wird ein Kosmopolitismus vertreten, der vor allem in den wohlhabenden Schichten weitverbreitet ist.

Die Bessergestellten haben kaum Ängste vor den sozialen Folgen der Globalisierung und dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Sie reisen gerne und können dieser No-Border-No-Nation-Philosophie viel abgewinnen.

Aber gerade diejenigen, die die Linke vertreten muss — also die mit geringen Einkommen und die, die auf einen starken Sozialstaat angewiesen sind — können mit dieser Philosophie wenig anfangen, weil sie die Leidtragenden der neoliberalen Globalisierung sind.

Der Konflikt um die Essener Tafel, der vor einigen Tagen bekannt wurde, spielt sich ja genau in diesem Spannungsfeld ab.

Ja, die Ärmsten streiten sich um abgelaufene Lebensmittel. In den Schlangen stehen nicht die kosmopolitischen, weltoffenen Schichten, die Leute mit höherem Einkommen. Die Existenz von Tafeln ist ein Ausweis des Versagens deutscher Politik. Sie sind das Ergebnis des zu niedrigen Hartz-IV-Satzes, zu niedriger Renten und zu niedriger Löhne. Insofern war es wichtig, dass Sahra Wagenknecht sofort die Kritik von Merkel, Barley und anderer als pure Heuchelei zurückgewiesen und als Ablenkungsmanöver vom eigenen Versagen entlarvt hat.

Auf den NachDenkDeiten gab es einen Artikel, in dem mehrere SPD-Politiker, darunter etwa Karl Lauterbach, zitiert wurden, die Fremdenfeindlichkeit unter den Armen kritisierten. Auf den eigentlichen Skandal, dass Tafeln in Deutschland überhaupt notwendig sind, sind diese SPD-Leute hingegen nicht eingegangen.

Ja, das eigentliche Problem wird gar nicht mehr gesehen. Schon lange ist bekannt, dass an allen Tafeln Rationalisierungen und Einschränkungen beschlossen worden sind, weil die vorhandenen Lebensmittel nicht ausreichten. Umso befremdlicher diese Reaktionen. Man glaubte, mit dem Hinweis auf Fremdenfeindlichkeit vom eigenen Versagen ablenken zu können.

Man mag die Entscheidung der Essener Tafel kritisieren. Aber angesichts der Tatsache, dass 75 Prozent der Tafel-Nutzer Flüchtlinge sind und nur noch 25 Prozent Einheimische, ist der Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit albern und sagt viel aus über diejenigen, die diesen Vorwurf erheben.

Es gibt aber auch in der Linken dazu unterschiedliche Positionen. Da gab es ja auch Kritik an Ihnen. Es wird Ihnen oft vorgeworfen, dass Sie bei Flüchtlingsfragen AfD-nahe Positionen vertreten. So wie ich Sie in anderen Interviews verstanden habe, sind Sie aber weder für eine Einschränkung des Asylrechts noch für eine Obergrenze für Kriegsflüchtlinge. Ist das korrekt?

Das Asylrecht für Verfolgte muss garantiert werden, da gibt es keine Obergrenze. Und es gibt selbstverständlich die Verpflichtung, Kriegsflüchtlingen zu helfen. Beide Verpflichtungen gelten nicht nur für Deutschland, sondern für alle Staaten, die dazu in der Lage sind.

Die eigentliche Diskussion dreht sich um die, die in Deutschland ein besseres Leben suchen, die sogenannten Arbeitsmigranten. Wir müssen die unfairen Handelsverträge mit armen Ländern kündigen und diesen Menschen durch Investitionen in ihren Heimatländern die Möglichkeit geben, sich ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen.

Dass in dieser Diskussion immer wieder der Vorwurf auftaucht, diese oder jene Meinung sei „AfD-nah“ ist dumm, weil ich noch nie gehört habe, dass die AfD sich für ein konsequentes Asylrecht, Schutz für Kriegsflüchtlinge und Milliarden-Hilfen in den Flüchtlingslagern und den Hungerbieten eingesetzt hat.

Sie sprachen ja schon in einem Phoenix-Interview über Flüchtlingshilfe vor Ort in den Lagern. Aber wenn Menschen sich bereits in Flüchtlingslagern befinden, ist doch das Kind schon in den Brunnen gefallen. An welchem früheren Punkt kann man denn aus Berlin, oder aus dem Westen generell, ansetzen bei Fluchtursachen?

Waffenexporte müssen gestoppt werden und Deutschland darf sich an Kriegen um Rohstoffe und Absatzmärkte, die die Menschen in die Flucht treiben, niemals beteiligen. Aber in den Lagern des Vorderen Orients halten sich ja Kriegsflüchtlinge auf.

Und 90 Prozent der Flüchtlinge schaffen es nicht, in die Industriestaaten zu kommen. Die Linke kann sich nicht nur um die 10 Prozent kümmern, die es schaffen, in die Industriestaaten zu kommen.

Die Bundesregierung hat ja mit zu verantworten, dass die Tagesrationen für diese 90 Prozent Flüchtlinge in den Lagern von einem Dollar pro Tag auf 50 Cent gekürzt wurden. Hier sehen Sie, dass es dringend notwendig wäre, weitaus mehr in diesen Lagern zu helfen. Gegen diese Rücksichtslosigkeit war der Widerstand viel zu gering.

Für Sie war einer der Hauptgründe des ernüchternden linken Bundestagswahlergebnisses — 9,2 Prozent —, dass Teile des Arbeitermilieus die Linke als Vertreter dieses „No-Border-No-Nation-Neoliberalismus“ sehen. Aber wie weit reicht diese Analyse linker Flüchtlingspolitik allein tatsächlich dafür aus, das Wahlergebnis zu erklären?

Man muss zur Kenntnis nehmen, in welchem Umfang Arbeitslose, Arbeiter und Gewerkschaftsmitglieder für die AfD gestimmt haben. Eine Emnid-Umfrage kommt zu dem Ergebnis, dass von den Wählern der Linken 4 Prozent das Thema Flüchtlinge als relevant angegeben haben. Aber von denen, die sich vorstellen konnten, die Linke zu wählen, sie aber nicht gewählt haben, waren es über 20 Prozent.

Im Übrigen sagten und sagen auch in den sozialen Medien viele Wählerinnen und Wähler: Wir würden ja DIE LINKE wählen. Wir lehnen aber die Forderungen der Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger, Bleiberecht und 1050 Euro für alle, ab.

Auch in vielen anderen politischen Feldern — etwa in Fragen von Krieg und Frieden, Armut und Reichtum, Löhnen und Renten — ist eine Bevölkerungsmehrheit mit den politischen Positionen der Linken sehr einverstanden. Trotzdem kommt die Partei bei Wahlen selten über 10, 12 Prozent hinaus. Was funktioniert denn aus Ihrer Sicht an diesem System nicht, dass die Mehrheiten sich in Parlamenten nicht widerspiegeln?

Da gibt es sicherlich viele Gründe. Auf jeden Fall spielt die Haltung zur Migration eine Rolle bei der Wahlentscheidung vieler Bürgerinnen und Bürger. Dazu kommt die Wut über den Sozialabbau und die Erkenntnis, dass DIE LINKE daran bisher kaum etwas ändern konnte. Auch deshalb ist es notwendig, dass sich die politische Linke neu aufstellt.

Könnte es auch sein, dass die Linke zu zahm geworden ist im Parlament? Sogar der Papst spricht ja davon, dass „diese Wirtschaft tötet“. Von der Linken hört man das selten in dieser Klarheit.

Die Partei „Die Linke“ ist die einzige kapitalismuskritische Partei im Bundestag. Sie kritisiert diese zerstörerische Wirtschaftsordnung immer wieder. Sie ist ja auch die einzige Partei, die gegen die Waffenexporte und die Kriege um Rohstoffe und Absatzmärkte stimmt, auf die der Papst mit seiner Bemerkung ebenfalls zielte. Da fehlt es nicht an Klarheit. Dennoch ist die Unterstützung für DIE LINKE noch gering.

Zum Abschluss hätte ich von Ihnen noch gern eine Einschätzung zu den aktuellen Entwicklungen bei der SPD. Könnte man es so zusammenfassen: Die SPD begeht immer die gleichen politischen Fehler, aber lernt nicht daraus?

Ja, das ist das Verblüffende. Ich kann noch halbwegs verstehen, dass man aus welchen Gründen auch immer Diskussionsbeiträge ignoriert, die den eigenen Überzeugungen entgegenstehen. Dass man jetzt aber schon seit zwei Jahrzehnten Wahlergebnisse ignoriert, das kann ich nicht nachvollziehen. Die Wählerinnen und Wähler sagen der SPD bei jeder Wahl: „Eure Politik ist falsch!“ Aber die SPD-Führung ist völlig uneinsichtig.

Also wären enttäuschte frühere SPD-Wähler, die aber bislang auch nicht die Linke wählen, das Potenzial, das Sie mit der Sammlungsbewegung ansprechen wollen?

Ja, das hat ja auch der anfängliche Hype um Martin Schulz gezeigt, als die Hoffnung aufkam, die SPD würde wieder zu sozialdemokratischer Politik, zu einer Politik der sozialen Gerechtigkeit zurückkehren. Damals wuchs die Zustimmung in Umfragen auf 33 Prozent. Das heißt, das Potenzial ist da, aber es wird bis heute nicht abgerufen.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

Stefan Korinth



Stefan Korinth, Jahrgang 1983, ist freiberuflicher Journalist. Er lebt und arbeitet als Autor und Redakteur in Hannover. Dort studierte er Politikwissenschaften und Soziologie. Für seine Abschlussarbeit forschte er in der Ukraine. Seine journalistischen Arbeitsschwerpunkte sind politische und historische Themen sowie der Ukraine-Konfli


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