Aus: Ausgabe vom 24.11.2015, Seite 3/
Schwerpunkt
»Die
schaffen das«
Moderne
Infrastruktur, beachtliches Wirtschaftswachstum: In China wurden
Hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreit. »Bescheidener
Wohlstand« für alle als Ziel. Ein Gespräch mit Egon Krenz
Interview:
Frank Schumann
Egon Krenz, ehemaliger Staatsratsvorsitzender
der DDR, kehrte dieser Tage von einer dreiwöchigen Reise aus China
zurück. Es war sein dritter Besuch in der Volksrepublik
China
baut Windpark in Argentinien
Argentinien
und China haben einem Medienbericht zufolge den Bau eines neuen
Windparks im Süden des lateinamerikanischen Landes mit Investitionen
von insgesamt 435 Millionen Dollar (407 Millionen Euro) vereinbart.
Binnen 18 Monaten sollen demnach in der Nähe der Stadt Gastre etwa
1.300 Kilometer südwestlich von Buenos Aires Windkraftanlagen mit
einer Leistung von insgesamt 200 Megawatt aufgestellt werden,
berichtete die Zeitung El Chubut am Samstag unter Berufung auf den
Gouverneur der Provinz Chubut, Martín Buzzi. Für die Finanzierung
sorgten chinesische Banken, hieß es. Der Windpark El Angelito würde
damit zum größten Argentiniens. Die Region Patagónica, zu der
Chubut gehört, ist von kräftigen und stetigen Winden geprägt. Sie
ist allerdings nur dünn besiedelt und liegt weitab der großen
Städte. Argentinien setzt bisher kaum auf die Nutzung erneuerbarer
Energiequellen. So beträgt die insgesamt installierte Windkraft 187
Megawatt. Das entspricht einem Anteil von 0,6 Prozent an der
Stromerzeugung. (dpa/jW)
Sie
waren gerade zu Besuch in China. Ist die Bezeichnung Dienstreise
zutreffend?
Wenn dies das Gegenteil einer Erholungs- und
Ausflugsreise meint: dann ja. Ich war Gast mehrerer
wissenschaftlicher Einrichtungen der Volksrepublik, die sich für
meine Sicht auf die Ursachen für das Ende der DDR interessierten. Es
war die Weiterführung eines Dialogs von 2011, als die Chinesische
Akademie für Gesellschaftswissenschaften eine Konferenz über die
Lehren aus der Zerschlagung der Sowjetunion für China
veranstaltete.
Sie waren 1989 zum ersten Mal dort. Hat sich
das Land seither sehr verändert, politisch, wirtschaftlich,
gesellschaftlich?
Das kann man wohl sagen. Bewundernswert,
was das Milliardenvolk erreicht hat. In den letzten Jahrzehnten wurde
ein neues, ein zweites China aufgebaut. Allein 2014 trug die
Volksrepublik einen Anteil von über zwölf Prozent zur globalen
Wirtschaftsleistung bei, investierte 140 Milliarden US-Dollar im
Ausland und importierte Waren und Güter im Wert von zwei Billionen
US-Dollar, wie ich erfuhr. Das Land ist heute zweite Wirtschaftsmacht
der Welt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die USA entthront
werden.
Woran machen Sie das fest?
Zwei
Beispiele: Ich besuchte das »Nationale Supercomputerzentrum« in
Changsha. Dort sah ich den vermutlich leistungsstärksten Rechner der
Welt, der in einer Sekunde über 1.372.000.000.000.000 Operationen
ausführt. Ich fuhr mit der Bahn: China hat sich in großen Teilen
des Landes eine moderne Infrastruktur geschaffen, die der
europäischen überlegen ist. Auf über 18.000 Kilometern verkehren
Hochgeschwindigkeitszüge mit bis zu 400 Stundenkilometern. Wer über
solche wissenschaftlich-technischen Kapazitäten und vor allem über
Menschen mit außergewöhnlicher Motivation verfügt, der liegt im
friedlichen Wettbewerb vorn.
Aber was ist der Preis für
diesen rasanten Fortschritt? Es heißt, dass die Gesellschaft
überaltert, die Umwelt extrem leidet, die Armut zunimmt …
Mir
ist das zu undifferenziert. Während meines Aufenthaltes im Lande
fand die 5. Plenartagung des XVIII. Parteitages der KP Chinas statt.
Hierzulande wurde vor allem darüber berichtet, dass China die
Einkindpolitik aufgegeben habe. Nicht unwichtig, gewiss. Wichtiger
jedoch war der Fünfjahresplan bis 2020, was in Deutschland aber kaum
eine Rolle spielte. Die chinesische Führung beschloss, das
Entwicklungstempo der Volkswirtschaft auf 6,5 Prozent festzulegen.
Angesichts der weltwirtschaftlichen Entwicklung ein beachtliches
Wachstum. Dennoch nörgelten manche Kommentatoren in Europa. Sie
behaupteten, Chinas Wirtschaft stottere, sie lahme, stecke in der
Krise. Und ignorierten, dass es sich dabei um eine gewolltes,
begründetes, also geplantes Ziel handelt. Aber was heißt
Reduzierung? Das sind Zuwachsraten, von denen der Rest der Welt
träumt – und mit denen die Umweltbedingungen erheblich verbessert
und der Lebensstandard erhöht werden kann. Bis 2020 soll für alle
Chinesen ein »bescheidener Wohlstand« erreicht werden, wie es
heißt.
Wie realistisch sind solche Prognosen? Ist das
nicht reine Propaganda?
Ich bin davon überzeugt, dass die
Chinesen dies schaffen werden. China hatte schon 2013 als erstes Land
alle sieben Entwicklungsziele der Millenniumsdeklaration der UNO
erreicht: die Halbierung der Zahl der Hunger leidenden Menschen, die
Gewährleistung allgemeiner Elementarbildung, die Beseitigung von
Geschlechterdiskriminierung in der Grund- und Mittelschule, die
Reduzierung der Sterblichkeit von Kindern im Alter von unter fünf
Jahren, die Bekämpfung von Seuchen wie Tuberkulose und Malaria, eine
geregelte Trinkwasserversorgung und die Bereitstellung von
grundlegenden Einrichtungen für Hygiene und Umweltschutz. China
erzielte bei der Herstellung der Vollbeschäftigung große
Fortschritte. Als die Volksrepublik 1949 gegründet wurde, war China
eines der ärmsten Länder der Erde. Damals lag die Lebenserwartung
bei etwa 35 Jahren. Heute liegt sie bei über 70 Jahren.
Die
oft gestellte Frage in linken Kreisen lautet: Ist das noch
Sozialismus, was die Chinesen machen?
Diese Frage habe
auch ich mit Jugendlichen und älteren Kommunisten in Peking und
Shanghai, mit Studenten und Wissenschaftlern an der Universität
Hunan, mit Lehrern an der Parteihochschule und mit Akademikern
diskutiert. Ich teile den chinesischen Standpunkt, dass Sozialismus
ohne eine starke Wirtschaft nicht möglich ist. Die Niederlage des
europäischen Sozialismus beweist das. China hat daraus Schlüsse
gezogen. Es betrachtet sich als sozialistisches Land mit chinesischer
Prägung. Die Chinesen sagen aber nicht: Wir haben schon den
Sozialismus. Sondern: Wir wollen ihn aufbauen! Sie sehen ihr Land in
der Anfangsphase des Sozialismus.
Aktuell werden zwei wichtige
Ziele anvisiert: zum hundertjährigen Bestehen der KP Chinas im Jahr
2021 eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand zu schaffen und zum
hundertjährigen Bestehen der VR China 2049 ein wohlhabendes,
mächtiges, demokratisches, zivilisiertes und harmonisches modernes
sozialistisches Land zu sein.
Selbst wenn historische
Vergleiche hinken können, sehe ich in der Langfristigkeit der
angesteuerten Ziele Parallelen zur These Walter Ulbrichts, dass der
Sozialismus eine relativ selbständige Gesellschaftsformation sei.
Ich glaube, dass es in Deutschland und besonders auch bei den Linken
zu wenige konkrete, sachbezogene Kenntnisse über die tatsächlichen
Verhältnisse in China gibt.
Gestatten Sie mir meine
Zweifel, ob es möglich sein wird, den kapitalistischen Geist wieder
in die Flasche zu bannen, wenn er erst einmal herausgelassen
wurde.
In der Stadt Hangzhou hatte ich Gelegenheit, mit
Unternehmern zu diskutieren. Darunter war auch ein Mitglied einer der
acht existierenden demokratischen Parteien. Sie sagten, dass der
Staat ihnen den Rahmen vorgibt. Die Wirtschaft ist dem Erreichen der
sozialistischen Ziele verpflichtet. Gleichwohl ist der chinesischen
Staats- und Parteiführung bewusst, dass noch große Unterschiede
zwischen Arm und Reich und auch zwischen den entwickelten Regionen im
Osten und den weniger entwickelten im Innern des Landes bestehen. Es
gehört zu den Hauptaufgaben, den Abstand zwischen Arm und Reich zu
verringern. Der Wohlstand des Volkes sei das Ziel allen Handelns von
Partei und Staat. Die Kommunistische Partei führt einen konsequenten
Kampf gegen Korruption. Ohne Ansehen der Person – bis ins Politbüro
hinein.
Mag ja sein … Aber trösten wir uns damit, dass
für die Konservativen hier in Europa China bereits kommunistisch
ist, schließlich seien die Menschenrechte eingeschränkt.
Nach
meinem Verständnis hat es noch nirgendwo auf der Welt einen Staat
gegeben, in dem der Kommunismus geherrscht hat. Im Kampf um die
Menschenrechte hat China Fortschritte gemacht. Vor allem beim ersten
Menschenrecht, dem Recht auf Leben. In den letzten Jahren wurden etwa
600 Millionen Menschen aus der Armut befreit. Das ist beispiellos in
der Weltgeschichte. Der hochmütige Blick mancher deutscher Politiker
auf China ist völlig fehl am Platze.
Spielte in Ihren
Gesprächen auch deutsche Politik eine Rolle? Gibt es noch
irgendwelche Bezüge zur DDR?
Die DDR ist Geschichte. Man
behandelt sie korrekt. So, wie sie tatsächlich war, und nicht, wie
ihre Gegner sie sehen und verdammen. Die Gegenwart ist die
Bundesrepublik Deutschland, mit der man gute Beziehungen auf der
Grundlage der friedlichen Koexistenz haben möchte. In den Medien
wurde ausführlich über den Besuch von Angela Merkel berichtet. Die
Bundeskanzlerin war zum achten Mal in China, öfter als all ihre
europäischen Amtskollegen zusammen. Das wird in China aufmerksam
registriert und auch geschätzt. Auch bei diesem zweitägigen Besuch
Ende Oktober wurden wieder milliardenschwere Verträge unterzeichnet.
Man kann also durchaus von einer gegenseitigen Abhängigkeit
sprechen. Ich finde diese Beziehungen zeitgemäß.
Wie
beurteilen die Chinesen die gegenwärtige Lage in der Welt?
Ich
war im Lande, als die USA mit einem Zerstörer in chinesische
Territorialgewässer eindrangen. Chinesische Militärs bezeichneten
das Vorgehen der USA als provokant. Sie warnten, dass »selbst ein
unwesentlicher Zwischenfall einen Krieg auslösen könnte«. Die USA
versuchen, den wachsenden Einfluss Chinas in der Welt mit allen
Mitteln einzudämmen.
Die chinesische Seite antwortet mit
ihrer Strategie der Stärkung des Landes und der internationalen
Kooperation. Eine wichtige Rolle in Chinas Außenpolitik spielen die
BRICS-Staaten, also neben China Brasilien, Russland, Indien und
Südafrika – das sind insgesamt immerhin 30 Prozent des
Weltterritoriums und 42 Prozent der Weltbevölkerung.
Die
Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation versteht China als ein
strategisches Bündnis. Vor einigen Tagen fand in Peking eine
Konferenz zum Thema »Seidenstraße und gemeinsamer Aufbau« statt.
Ich traf einige Konferenzteilnehmer. Sie diskutierten, was zu tun
ist, um die alte Seidenstraße, die schon vor 2.100 Jahren eine große
Rolle spielte, zu reanimieren. Das war ein Netz von Handelswegen auf
dem Lande zwischen China und Europa. Nun sollen Asien und Europa
erneut verbunden werden, auf technisch hohem Niveau. Das und vieles
mehr sind bedeutende Schritte hin zu dem Ziel, eine multipolare
Weltordnung zu schaffen, die nicht dem Diktat der USA unterliegt.