Samstag, 10. Oktober 2020

Wie wir belogen, betrogen und demoralisiert werden - Dr. Wolfgang Schacht

 

http://www.dr-schacht.com/Wie_wir_belogen_betrogen_und_demoralisiert_werden.pdf    

Wie wir belogen, betrogen und demoralisiert werden

Dr. Wolfgang Schacht

Textauszüge

Pünktlich am 7. Oktober 2020, d.h. 71 Jahre nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) erscheint im „Heidekraut Journal“ der Gemeinde Wandlitz Nr. 93, Ausgabe 6/2020,

(http://heidekrautjournal.de/fileadmin/Heidekraut_Online/Ganze_Ausgaben/HeidekrautJournal_Oktober2020.pdf )

der Beitrag „Auf der Spur der Mauer“ mit dem Untertitel „28 Jahre, zwei Monate und 27 Tage“. Dem aufmerksamen Leser entgeht nicht die Tatsache, dass mit folgenden Schlagzeilen „Deutschland und der kalte Krieg“ „Mauerbau: 13. August 1961“ „Reaktionen auf den Mauerbau“ „Das Grenzsystem“ „Todesopfer an der Berliner Mauer“ „Grenzöffnung – 9. November 1989“ „Auf der Spur der Mauer“ „Wiedervereinigung“ die Geschichte Deutschlands im Zeitraum von 1945 bis 1990 bewusst entstellt und verfälscht, ja einfach völlig neu geschrieben wird.

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Warum haben sich die westdeutschen Bürgerinnen und Bürger nicht gegen die einseitige Währungsreform ihrer Besatzungsmächte (USA, Großbritannien und Frankreich) und gegen die Spaltung Deutschlands durch die Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) am 15. September 1949 zur Wehr gesetzt? Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) am 7. Oktober 1949 war doch nichts anderes, als die natürliche Reaktion des Sowjetischen Besatzungssektors auf eine bereits vollzogene Spaltung Deutschlands durch die Amerikaner und Briten! Oder ist den westdeutschen Historikern mit ihrer absurden Argumentation tatsächlich die Quadratur des Kreises gelungen?

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Sitzt der von den Nazis in die Köpfe der Menschen eingebrannte Hass gegen die „Bolschewiken“ (bzw. gegen die Russen) wirklich so tief? „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ warnte schon der große Berthold Brecht in seinem Theaterstück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“.

Warum wurden die westlichen Besatzungssektoren im Nachkriegsdeutschland zum Sammelbecken aller politischen Kräfte der ehemaligen Nazi-Diktatur? Weil diese Kräfte mit ihren großen faschistischen Führungserfahrungen im 3. Deutschen Reich vom amerikanischen Establishment dringend gebraucht wurden, um die Sowjetunion (heute Russland) und die sich bildende sozialistische Staatengemeinschaft zu vernichten. Der „Kalte Krieg“ war weder eine Erfindung der Sowjetunion noch – wie mancher meint – das Ergebnis der Spaltung Deutschlands durch die drei Westmächte. Nein!

Die Spaltung der Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager begann am 5. März 1946 mit der „berühmten Rede“ von Winston Churchill am Westminster College (Staat Missouri der USA). Dort sagte er, dass von Stettin im Baltikum bis Triest an der Adria der „Eiserne Vorhang“ zugezogen wird (Bild 6). Bild 6: Der „Eiserne Vorhang“ von 1946 bis 1990

Warum war die Gründung der DDR die einzige mögliche und einzig richtige politische Antwort auf die bewusste Spaltung Deutschlands? Weil in ihr der mehr als einhundertjährige Kampf der revolutionären Arbeiterbewegung und das Ringen der besten Vertreter des deutschen Volkes gegen

• feudale Willkür;
• kapitalistische Ausbeutung;
• imperialistische Eroberungskriege und gegen
• die wahren Quellen des Faschismus 4 letztendlich ihre Erfüllung fanden.

Weil für uns Bürgerinnen und Bürger die DDR nach dem schrecklichen Hitler – Faschismus unsere geistige und politische Heimat, unser wirkliches Vaterland wurde. Weil für uns die Freundschaft und enge Verbundenheit mit der Sowjetunion (jetzt Russland!), mit ihren Völkern und Menschen immer eine Herzenssache war, ist und bleibt. Weil wir viele Jahre erfolgreich mit den sowjetischen (russischen) Menschen gearbeitet, gelebt und gehandelt haben. Weil uns die kapitalistischen Werte (Geld, Profit, Karriere und Macht) wesensfremd waren. Weil der Mensch, seine Sorgen und Nöte immer im Mittelpunkt unserer Tätigkeit standen. Weil mit der DDR der Frieden in Europa zuverlässig gesichert wurde (Bild 7).

Über den „Mauerbau“, über die „Todesopfer an der Berliner Mauer“ und über die „Annexion der DDR durch die BRD“ zu philosophieren ersparen wir uns an dieser Stelle. In unserem Beitrag „Von der DDR in das Jammertal BRD“ finden Sie, verehrte Leserinnen und Leser, auch zu diesen Fragen konkrete Aussagen. Bild 7: Unsere Nationale Volksarmee sicherte 40 Jahre den Frieden in Europa

Die „sozialen, wirtschaftlichen und politischen Widersprüche zwischen Ost- und Westdeutschland“ (siehe Interview von Hans Modrow anlässlich des 30. Jahrestages der Annexion der DDR) werden auch künftig unüberwindbar (antagonistisch) bleiben, denn sie sind ein ausgezeichnetes Macht- und Unterdrückungsinstrument. Im globalen Kapitalismus gibt es keine Menschlichkeit. Wehe dem, der solche Illusionen hegt! Im Mittelpunkt seines gesamten Handelns steht allein der Profit. 8000 % sind in der Phase der Globalisierung IV schon keine Hürde mehr! In der nächsten Etappe droht uns der große Krieg! Eine gesetzmäßige Etappe des modernen Imperialismus!

Wir haben nicht den geringsten Zweifel, dass es uns mit einer neuen sozialistischen Partei, mit einer neuen sozialistischen Ideologie und mit einem neuen sozialistischen Programm, welches 5 die Masse der arbeitenden Menschen ergreift, gelingen wird, das menschenfeindliche und menschenverachtende kapitalistische Gesellschaftssystem zu stürzen.
Мы победим! İVenceremos! Wir werden siegen!


Dr. Wolfgang Schacht 07.10.2020

Freitag, 9. Oktober 2020

71. Jahrestag - DDR in der deutschen Geschichte - sascha313

 

Entnommen: https://sascha313.wordpress.com/2016/02/17/die-ddr-in-der-deutschen-geschichte/

Zu Ehren des 71. Jahrestages der DDR: Karl Eduard von Schnitzler

Karl Eduard von Schnitzler und Marta Rafael: Ein Rückblick – Die DDR in der deutschen Geschichte.

Veröffentlicht am 17. Februar 2016 von sascha313


Wenn man zurückblickt auf die deutsche Geschichte, so wird später vor allem ein Abschnitt unauslöschlich in Erinnerung bleiben – und zwar in äußerst positiver Hinsicht: die Geschichte der DDR! Wer könnte besser darüber referieren als der langjährige, brillante und scharfzüngige Fernsehkommentator der DDR, der Kommunist Karl-Eduard von Schnitzler. In diesem, einem seiner letzten Beiträge umreißt er vierzig unvergängliche und unvergessene Jahre deutscher Geschichte. Was für viele Spätergeborene unverständlich sein mag, nämlich daß man dieses vielgescholtene und vielgeschmähte Land lieben konnte, und daß dies auch noch ein Adliger tat, zeugt von seiner besonderen Bedeutung. Die DDR, so schrieb Schnitzler, war „das Beste, was in der Geschichte den Deutschen, den Völkern Europas und der Welt aus Deutschland widerfahren ist!“


Die DDR in der deutschen Geschichte

von Marta Rafael und Karl-Eduard von Schnitzler


Wir waren kürzlich aufgefordert, zwei Jubiläen zu begehen: Die Gründung der BRD und die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Jubiläum kommt von „jubilieren“ – oder umgekehrt. Worüber sollen wir jubilieren? Daß die DDR zugrunde ging? Darüber später. Die DDR ist so wenig „ehemalig“ wie das Kaiserreich oder die Weimarer Republik. Für sie gilt merkwürdigerweise kein „ehemalig“. Aber wir werden sehen. Sollten wir darüber jubeln, daß in der Adenauer-Regierung des ersten deutschen Nachkriegsstaates mehr Nazis saßen als in der ersten Hitler-Regierung vom Januar 1933? Daß die Konzerne, Monopole und Banken, die Hitler die Regierungsgewalt – nicht etwa die Macht! – in den Schoß gelegt hatten, weiterbestehen (offen oder getarnt) und neue Macht besitzen und ausüben – gleichgültig, ob die Kanzler Kohl oder Schröder heißen?

Die Deutsche und die Dresdner Bank, die Commerz- und Privatbank oder/und Krupp, Flick, Thyssen, AEG, Wintershall, Bosch, Portland, IG Farben, Norddeutscher Lloyd, Rheinmetall – sie alle und noch viele mehr und ihre Nachkommen haben Hitlers Krieg betrieben und an ihm verdient, haben die Hochrüstung in Gang gesetzt (schon vor Hitler!), den Krieg geführt, andere Völker ausgeplündert, Konzentrationslager installiert und an ihnen verdient wie am Holocoust – und nun haben sie ganze 5 Milliarden Mark im Angebot, die sie auch noch von der Steuer absetzen können, den Rest zur Summe von 10 Mrd. gibt der Staat, die Allgemeinheit, dazu – zu dem, was sie „Wiedergutmachung“ nennen. Sie sind wieder der Staat im Staate.

Über all das jubilieren?? Oder über die Staatsoberhäupter? Heuss, der im März 1933 im Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zustimmte – alle Gewalt für den Faschismus und gegen das Volk! Oder Heinrich Lübke, der für Himmler KZs baute! Oder Carstens, einst Verbindungsmann zwischen Ribbentrops Außenministerium und Goebbels Reichspropagandaministerium! Oder Weizsäcker, der in Hamburg das Gift Agent Orange entwickeln ließ, mit dem dann die amerikanischen Übermenschen in Vietnam Wälder und Kinder, Frauen, Männer, Alte und Junge, ja auch eigene Soldaten vergiften ließen! Alles Oberhäupter des Staates, den es nun zu bejubeln galt!? Oder 2.300 Namen von Bonner Staatsfunktionären – von Globke, Adenauers Schreibtischmörder an Juden, bis zu Kiesinger, v. Eckardt, Oberländer, Grebe und Fränkel oder 1.118 Namen von hohen Justizbeamten, Staatsanwälten und Blutrichtern, bei denen heutige Nachkommen gelernt haben, was „Recht“ ist (Völkerrecht und Strafrecht).

Bis zu den 520 Diplomaten, Botschaftern und Konsuln – eins im Dienste des Hitlerschen, nun des heutigen Auswärtigen Amts (warum sollten sie auch den Namen dieser Repressionsbehörde ändern)! 300 hohe und höchste Polizeischergen der Faschisten in der Bonner Polizei und im Amt für Verfassungsschutz (nun natürlich nach Berlin, ihrem alten Standort, zurückgekehrt)! 180 Admirale und Generale die Hitlers verbrecherischen Krieg führten, in die Bundeswehr überwechselten und dann ihren Nachwuchs ausbildeten! Allesamt mitverantwortlich für Hitler und Himmler, für Faschismus über Europa, für Kriege und Vernichtungslager. Kein Wunder, daß sie bei Antifaschismus ROT sehen und all ihren Haß aussondern. Über die jubilieren? Das ist ja wohl nicht das Deutschland geworden, das Bertolt Brecht sich gewünscht hat – 1947 mit seiner Kinderhymne…

Armut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
wie ein andres gutes Land.

Daß die Völker nicht erbleichen
wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern
lieben und beschirmen wir’s
Und das liebste mag’s uns scheinen
so wie andern Völkern ihrs.


Ein solches Deutschland ist nur auf einem Drittel deutschen Bodens etwas geworden – zwischen Oder und Elbe. Und dessen Ziel und Inhalt hat Johannes R. Becher 1949 besungen, und wir erhoben es vor 50 Jahren nach der Melodie von Hanns Eisler zur Nationalhymne.

Alte Not gilt es zu zwingen,
und wir zwingen sie vereint,
denn es muß uns doch gelingen,
daß die Sonne schön wie nie
über Deutschland scheint.

Glück und Frieden sei beschieden
Deutschland, unserm Vaterland!
Alle Welt sehnt sich nach Frieden!
Reicht den Völkern Eure Hand!

Wenn wir brüderlich uns einen
schlagen wir des Volkes Feind.
Laßt das Licht des Friedens scheinen,
daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint!


Dieses Motto – zur Staatsdoktrin erhoben – wird unsterblich sein in der deutschen Geschichte – unauslöschlich – wie jene unbesiegliche Inschrift, die Bertolt Brecht in seinen Svendborger Gedichten zu jener Parabel erhob:

Zur Zeit des Weltkriegs in einer Zelle des italienischen Gefängnisses San Carlo, voll von verhafteten Soldaten, Betrunkenen und Dieben, kratzte ein sozialistischer Soldat mit Kopierstift in die Wand:

HOCH LENIN! Ganz oben, in der halbdunklen Zelle, kaum sichtbar, aber mit ungeheuren Buchstaben geschrieben. Als die Wärter es sahen, schickten sie einen Maler mit einem Eimer Kalk, und mit einem langstieligen Pinsel übertünchte er die drohende Inschrift. Da er aber mit seinem Kalk nur die Schriftzüge nach fuhr, stand oben in der Zelle nun in Kalk: HOCH LENIN!

Erst ein zweiter Maler überstrich das Ganze mit breitem Pinsel, so daß es für Stunden weg war, aber gegen Morgen, als der Kalk trocknete, trat darunter die Inschrift wieder hervor: HOCH LENIN!

Da schickten die Wärter einen Maurer mit einem Messer gegen die Inschrift vor. Und er kratzte Buchstabe für Buchstabe aus, eine Stunde lang, und als er fertig war, stand oben in der Zelle, jetzt farblos, aber tief in die Mauer geritzt, die unbesiegliche Inschrift: HOCH LENIN!

Jetzt entfernt die Mauer! sagte der Soldat.


Mit der „Entfernung“ der Mauer ist es nicht getan – weder im italienischen San Carlo, noch in Berlin. Nicht nur der Name LENIN ist nicht aus der Geschichte zu entfernen, noch der Name des ersten deutschen Friedensstaates „DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK“. Wir wollten immer ein einheitliches antifaschistisches demokratisches Deutschland – wie Bertolt Brecht es beschrieben hat: Vor dem „die Völker nicht erbleichen“ und „nicht über und nicht unter anderen Völkern“, weil wir es „verbessern“ wollten. Das ist uns nicht gelungen. Heute steht das alte GROSSDEUTSCHLAND wieder, dem immer wieder der Schreckensschrei in Europa vorausging: die Deutschen kommen! Und es reicht wieder von Polen bis an die Grenzen Dänemarks, Hollands, Belgiens, Frankreichs, Österreichs und der Schweiz. Und da sind weder „Anmut“ noch „Verstand“ am Werk. Ist es nicht so: Erst mußte die Mauer weg – dann, zweitens – die Deutsche Demokratische Republik, damit – drittens – wieder eine deutsche Regierung Soldaten ins Ausland schicken und – zunächst in Jugoslawien – Krieg führen konnte? Alles unter tatkräftiger Hilfe deutscher Außenminister wie Genscher und Fischer, deutscher Innen- und Kriegsminister wie Kinkel und Scharping?

Denn wir hatten – mit sowjetischer Hilfe – einen Staat geschaffen, der das Potsdamer Abkommen verwirklichte und aus den Ruinen des Hitlerreiches und der Banken und Monopole und deren Krieg einen Staat, der allen Völkern die Hand reichte und dafür angetreten war, daß nie mehr eine Mutter ihren Sohn beweint! Den ersten Staat auf deutschem Boden, der FRIEDEN zum Regierungsprogramm erhoben hat! Solange er existierte, durfte keine deutsche Regierung es wagen, das Wort KRIEG auch nur in den Mund zu nehmen – oder gar im Fernsehen! So lange es die Deutsche Demokratische Republik gab, gab es keinen Krieg von deutschem Boden aus! Das alles weist dieser Deutschen Demokratischen Republik einen hervorragenden, nicht auszulöschenden Platz in der deutschen Geschichte zu!

„Die Deutsche Demokratische Republik war das Beste, was in der Geschichte den Deutschen, den Völkern Europas und der Welt aus Deutschland widerfahren ist!“ Mit diesem Satz begann ich 1993 mein Buch „Provokation“. Und man ließ sich provozieren! Von A bis Z, von ARD über BILD; SPIEGEL und STERN bis ZDF heulten sie auf, weil ich in Erinnerung zu rufen gewagt hatte, daß der erste Staatspräsident dieses verruchten Staates, Wilhelm Pieck, den Satz geprägt hatte, den Walter Ulbricht aufgriff und Erich Honecker zur innen- und außenpolitischen Maxime erhoben hatte: VON DEUTSCHEM BODEN DARF NIE WIEDER KRIEG AUSGEHEN! Eine „Aufarbeitung der Geschichte“ – wenn es denn offiziell so etwas gäbe – bräuchte die DDR nicht zu scheuen. Aber sie war nur ein deutscher Teilstaat.

Was Europa, Afrika und Vorderasien im Ablauf der Geschichte immer wieder zu fürchten hatten, ihnen Zerstörung, Leichenfelder und Unterdrückung gebracht hatte – es war in der Neuzeit stets von einem einheitlichen Deutschland ausgegangen, von einem REICH: Dem Kaiserreich und dem Großdeutschen Reich. Deshalb könnte eine „Aufarbeitung der Geschichte“ nicht auf die Deutsche Demokratische Republik beschränkt bleiben und nicht auf die Zeit von 1949 bis 1989 (und schon gar nicht auf „Mauer“ und „Stasi“): Sie muß im Spiegelsaal von Versailles beginnen und bei Bismarck.

Ein „Erstes Reich“, das Hitler wieder heraufbeschwören wollte, hatte tausend Jahre gewährt. Es war in Wahrheit ein Flickenteppich gewesen. Duodezfürsten, Herzöge und vorgeblich blaublütige Landadelige: Jeder hatte sein Ländle, seine Residenz, seine Hofräte und Minister, seine Bankiers und Soldaten, die er den Kaisern und Königen verkaufte – gegen Geld, als Söldner für deren Raubzüge. Sie alle machten das „Reich“ arm, lebten von Leibeigenschaft und Fron und wollten mit Grenzen und Zöllen die deutsche Kleinstaaterei verewigen.

Die Bildung des deutschen Nationalstaates, des „Zweiten Reiches“, war historisch längst herangereift. Und die Schaffung nationaler Einheit sei dem „eisernen Kanzler aus dem Sachsenwald“ als Verdienst unbenommen. Unfreiwillig diente Bismarck dem gesellschaftlichen Fortschritt. Aber er schuf die deutsche Einheit mit Blut und Eisen. Um Preußens Vorherrschaft in Deutschland zu sichern, boxte er zunächst Österreich aus dem deutschen Nationalverband hinaus (heute sind es – vorerst – nur unverbesserliche Neonazis, die von Wien, München und anderen Städten aus öffentlich die „Vollendung der deutschen Einheit“ durch Beitritt Österreichs zur Bundesrepublik fordern – Haider und Stoiber marschieren im Geiste mit). Dann mußte Fürst Bismarck noch Bayerns König bestechen, damit dieser dem Hohenzollern-Kaiser Wilhelm I. zustimmte. Dänemark und Frankreich mußten besiegt werden. Und mit seinen „Sozialistengesetzen“ bescherte Bismarck Zehntausenden von Sozialdemokraten gesellschaftlichen Verruf („Landesverräter“), Berufsverbote, sozialen Abstieg, Polizeiverfolgung, Justizwillkür und Haft. Mit besonderem Haß wurden Arbeiterführer wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht verfolgt.

Die Herren der Ruhr entfesselten mit ihren Ludendorffs, Hindenburgs und Hohenzollerns ihren ersten Anlauf zur Teilhabe an der Weltherrschaft. Denn sie waren zu spät gekommen, andere hatten längst ihren Nationalstaat, die Welt war aufgeteilt. Woher also nehmen, wenn nicht stehlen? Stehlen aber bedeutete Krieg. Die sozialdemokratischen Führer stimmten den Kriegskrediten zu (damals hießen sie noch nicht Schröder, Scharping oder Verheugen, sondern Ebert, Scheidemann und Noske). Einzig Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg stimmten dagegen. Sie wurden ins Gefängnis geworfen. Und als die Deutsche Revolution den Krieg beendet und Ludendorff und den Kaiser ins Exil getrieben hatte, wurden Karl und Rosa von führenden Sozialdemokraten dem reaktionären Freicorps zur Abschlachtung freigegeben. Wer hat da wohl Geschichte aufzuarbeiten?

Die Weimarer Republik – fernab von Berlin und dem Ruhrgebiet, weit weg von störenden Arbeitern – in Weimar gegründet (analog zur „alten“ BRD im Universitätsstädtchen Bonn) – die Weimarer Republik diente von 1919 bis 1933 der ideologischen, ökonomischen und militärischen Restauration des gerade geschlagenen deutschen Militarismus und war im Grund nichts anderes als der Übergang vom Kaiserreich zu Hitlers Großdeutschland, dem „Dritten Reich“. Sie war arbeiterfeindlich im allgemeinen, kommunistenfeindlich im besonderen. Die Arbeiterklasse, ihre Parteien und linke Intellektuelle verschenkten ihre wachsende Stärke, indem sie sich gegenseitig zerfleischten – nicht ohne Einfluß der Totalitarismus-Doktrin, Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen auf allen Seiten: Sozialdemokraten gleich „Sozialfaschisten“, Kommunisten gleich „rotlackierte Nazis“ (schon damals gab es diese Schumacher-Formulierung), „rot gleich braun“ etc.

Trotz starker linker Parlamentsfraktionen blieben Reichstagsmehrheit, Staatsapparat mit Justiz, Polizei, Reichswehr, Bildungswesen und Medienmehrheit allem „Linken“ gegenüber feindselig. Die private Aneignung der Produktionsmittel wurde nicht angetastet, Eigentums- und Machtverhältnisse nicht in Frage gestellt: eine funktionierende bürgerliche „Demokratie“. Als das dann nicht mehr so recht funktionierte, wurde ein Hitler gesucht, in München gefunden, in Düsseldorf aufgebaut (hätte kein Hitler zur Verfügung gestanden, hätte man einen anderen gesucht und gefunden). Viele enttäuschte, suchende, irregeführte Deutsche wurden mit der Macht der Wirtschafts- und Medienpolitik gegen ihr eigenes Interesse manipuliert. Hitler legte man die Regierungsgewalt in den Schoß.

Das „Dritte Reich“ begann mit der Köpenicker Blutwoche und der Reichstagsbrandstiftung. Dann brannten – nicht ohne politische, diplomatische und finanzielle Beihilfe westlicher „Demokratien“ zur Stützung des antikommunistischen, antisowjetischen Hitlerregimes – Bücher, Häuser, Dörfer, Städte, Menschen in West- und Osteuropa. „Blitzkriege“ und „Blitzsiege“ zunächst. Aber man setzte auf das Kriegsziel, das Hitler schon 1924 seinem Sekretär Rudolf Heß diktiert und in seinem einzigen Buch festgeschrieben hatte, sein Ziel, das er 1931 und 1932 im Düsseldorfer Industrieclub den Herren Deutschlands, auf seinem Obersalzberg, in Bad Godesberg, auf dem Petersberg und dann in München den wohlgesonnenen Herren der westlichen Welt vorgetragen hatte: die verhaßte Sowjetunion auszulöschen – aus Angst, das böse Beispiel könne Schule machen.

Vor Leningrad und Moskau, schließlich endgültig an der Wolga, wurde Hitlers Europa-Armee zum Stehen gebracht. Die Schlacht im Kursker Bogen leitete ihre Vernichtung ein. Auf den Seelower Höhen ging der zweite Anlauf deutscher Imperialisten zur Weltherrschaft im europäischen, vor allem sowjetischen und deutschen Blutmeer unter – in Rauch, Schutt und Schande. Die Sowjetunion vor allem hat den Krieg gewonnen. Den Kalten Krieg und den Frieden hat sie verloren. Was hat mit diesem Geschichtsablauf die Deutsche Demokratische Republik zu tun?

Die aus Ruinen auferstandene Alternative verendete. Aber ihre Wurzeln reichen – einmal abgesehen von Spartakus-Aufstand und Bauernkriegen, von der Revolution 1848 und der Pariser Commune – tiefer als bis Karlshorst, wo die Wehrmacht des deutschen Imperialismus kapitulieren mußte, tiefer auch als bis nach Nürnberg, wo Kriegsverbrecher aller Funktionen in mehreren Prozessen vor Gericht gestellt werden mußten und zum kleineren Teil freigesprochen wurden (etwa Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, Finanzier Hitlers und des Krieges; oder Fritsche, Goebbels Sprachrohr und Endsieg-Einpeitscher), während man einige Prokuristen der Nazipartei Politiker und Militärs hinrichtete oder zu Freiheitsstrafen verurteilte, die nach Druck aus Washington, London und auch aus Bonn (Adenauer verwandte sich persönlich für die Verbrecher) nach kurzer Zeit freigelassen wurden, so mein Vetter Baron Kurt von Schröder, Bankier in Köln, der schon in den zwanziger Jahren Gelder der Ruhrindustrie sammelte und Hitler finanzierte und in dessen Wohnung in Köln-Lindental am 4. Januar 1933 die Begegnung Hitler – v.Papen inszeniert wurde, aus der die erste Nazi-Regierung am 30. Januar 1933 hervorging; oder mein Vetter Georg von Schnitzler, Vorstandsmitglied des IG-Farben-Konzerns, er war in Nürnberg angeklagt wegen seiner Mitschuld an der Produktion von Zyklon B und seiner profaschistischen Funktion als Verkaufsdirektor des Konzerns; beide zu Kavaliersstrafen verurteilt, beide nach kurzer Zeit entlassen – in allen Ehren und als mehrfache Millionäre verstorben.

Bevor in Schröders Kölner Villa die Modalitäten der Machtübernahme an Hitler ausgehandelt wurden, hatte der Kölner Bankier – wie er unter Eid im Nürnberger Prozeß aussagte – sich „mit einer Anzahl von Herren der Wirtschaft“ besprochen: „Die allgemeinen Bestrebungen der Männer der Wirtschaft gingen dahin, einen starken Führer in Deutschland an die Macht kommen zu sehen, der eine Regierung bilden würde, die lange Zeit an der Macht bleiben würde… Ein gemeinsames Interesse der Wirtschaft bestand in der Angst vor dem Bolschewismus… Ein weiteres gemeinsames Interesse war der Wunsch, Hitlers wirtschaftliches Programm in die Tat umzusetzen.“

Natürlich konnte ein Reichskanzler Hitler keinen Schritt außerhalb des Rahmens der staatsmonopolistischen „Ordnung“ tun. Die Gesamtheit seiner anachronistischen Ideologie, Politik und Militärdoktrin entsprach dem Imperialismus in seiner abenteuerlichsten, aggressivsten und brutalsten Erscheinungsform: dem Faschismus. Es hat immer zwei Deutschland gegeben. Das Deutschland der Fürsten und Feudalherren, und das Deutschland Thomas Münzers, der Bauern und Leibeigenen – und nichts von einer „Einheit der Nation“, sondern Knechtschaft und Mord. Das Deutschland der Kapitalisten und ihrer Bismarcks und Hohenzollern – und das Deutschland der Arbeiter, der Sozialdemokraten, der Marx und Engels, Wilhelm Liebknechts und August Bebels – und nichts von „nationaler Gemeinsamkeit“, sondern Polizisten und Richter, Sozialistengesetze und Verleumdung als „vaterlandslose Gesellen“.

Das Deutschland der Krupps und ihrer Hindenburgs und Ludendorffs – und das Deutschland des Spartakus und Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und Clara Zetkins, und nichts von „nationaler Einheit“, sondern Staatsterror und Konterrevolution, Fememord und blutige Reaktion. Das Deutschland schließlich des Monopolkapitals und seines Hitler – und das Deutschland Ernst Thälmanns und Thomas Manns, der deutschen Kommunisten und Humanisten, und statt „Einheit der Nation“ Verfolgung, Gefängnis, Nächte klirrender Scheiben und langer Messer, Konzentrationslager, Illegalität, Emigration, Krieg nach innen und außen. Erst in der Deutschen Demokratischen Republik sollte diese ewige Spaltung der Nation überwunden, sollte die Einheit hergestellt werden zwischen Volk und Macht, Geist und Macht. Das ist uns nur zu Beginn und nie zur Gänze gelungen.

Das bedauern heute auch manche, die vor 10 Jahren die DDR mit ihren Anfängen und Erfolgen abschaffen wollten – mit Kerzen und Gebeten, im Schutz der Kirche und vermittels Montags-Demonstrationen. „Das haben wir nicht gewollt!“, meinen 10 Jahre später manche. Nun ist die Blockade des öffentlichen Bewußtseins ein wenig gelockert, schlimme Erfahrungen werden zum Alltagserlebnis, böse kapitalistische Beispiele beginnen zu schrecken, und gute sozialistische Erfahrungen kehren langsam ins noch etwas gelähmte Gedächtnis zurück, Verklemmungen lockern sich und die Denkfähigkeit beginnt sich – trotz des Medienimperialismus – allmählich wieder zu regen: Das haben wir nicht gewollt!

Man hätte es wissen können. Aber Warner waren „Sudeler“, die Führung verharrte in Bewegungslosigkeit und der Medienimperialismus verpestete die Luft und Atmosphäre. Man wollte an nichts mehr glauben, und da waren Denk-Hindernisse: West-Bananen, West-Milch, West-Kartoffeln, West Autos, West-Mark und West-Reisen-„Traumreisen“. Und alles mußte teuer bezahlt werden, ZU teuer!

Es sind nicht „die Mühen der Ebene“, von denen Bürgerrechtler ein- und überholt, gläubige CDU-Wähler getäuscht, Genossen „überrascht“ und in Zweifel gestürzt und nicht wenige – NICHT ALLE! – zu Korkenzieher-Drehungen ihrer Hälse verleitet wurden.

Luxusrestaurationen von Innenstädten, häßlichste „Sky Lines“ der „Citys“, bunte Schaufenster, neue Kirchendächer, Golfplätze, trinkgelderwartende Hände für simpelste Dienstleistungen, Opel-Wimpel statt roter Fahnen oder Hammer und Zirkel, sattes Warenangebot und leere Portemonnais, keine Arbeit, aber BILD-Zeitung, Super-Illu, Kurier und ähnliches (mit zu hartem Papier für angemessenen Gebrauch), eine Inflation von Nachrichten, aber keine ernsthaften Informationen (jede langweilige Aktuelle Kamera hatte mehr Informationswert), Einheitsfernsehen auf niedrigstem Niveau, statt einer vorgeblichen „Vielfalt“ die Einfalt, Talkshow-Gelaber mit immer denselben „Experten“, die Moderatoren wechseln – im Gegensatz zu den Themen, Fragen und „Experten“, dazu Preis-Quiz für Klippschüler mit Preisen für Nicht-Wissen, Reisen, Gardinen, Rasierapparaten und Toaströstern. Dazu Verrohung, Brutalisierung, Anleitung zum Diebstahl und Kinderschändung, Vergewaltigung und Mord. Und dazu Arbeitslosenhilfe und Obdachlosenheime. Krankheit kann man sich nicht leisten – so wenig wie die für die Gesundheit notwendige Medikamente. Familien werden zerstört, Alter wird zur Bürde, zur untragbaren Last. Die Frau wird um ihre Würde gebracht und um ihr Selbstbestimmungsrecht, Jugend um ihre Zukunft, Kinder um Krippen, Hort und Garten. Dafür Bürokratismus wie noch nie, Ämter, Beamte, Banker, Versicherungs- und Miethaie. Zwischenmenschliche Beziehungen, Wärme im Umgang mit Mitmenschen – alles weg, denn alles muß sich rechnen!

Schon 1871 – nach der Gründung des Zweiten Reiches, hatte Georg Herwegh geschrieben:

„Ein Amboß unter einem Hammer
geeinigt wird Altdeutschland stehen
Dem Rausche folgt eine Katzenjammer
daß Euch die Augen übergehen.“

Es ist nackter, brutaler, hundsgemeiner Kapitalismus, der die „Ossis“ ausnimmt, wo es nur geht, sie zu unerwünschten Personen in Deutschland macht, zu Deutschen zweiter und dritter Klasse. „Das haben wir nicht gewollt“!?

Wir Kommunisten schon gar nicht. Aber wir haben wohl den Kapitalismus, den Feind!, zu leicht genommen – und uns für zu stark gehalten. Vor lauter kapitalistischen Fehlleistungen, Mißwirtschaft und Systemgebrechen des Feindes, der sich 40 und mehr Jahre als solcher verhielt, übersahen wir eigene Versäumnisse, Fehler und Fehlentwicklungen, ließen uns zu Überreaktionen verleiten und mißachteten das Kräfteverhältnis – zu Lande, zu Wasser und im Äther. Eigentlich hätten wir an die Spitze der Bürgerrechtsbewegungen gehört – wenigstens anfangs, solange viele ihrer Mitläufer eine attraktivere DDR wollten – also ehe sie vom Verfassungsschutz und Langzeitagenten mit Bundesfahnen geschmückt als DDR-Volk abdankten und ein Volk mit dieser BRD sein wollten.

Angekommenen, aber enttäuschte Bürgerrechtler tragen nun gebündelten Weltschmerz, und der führt – trotz gewaltiger, von Gefühlen überlasteter Rhetorik – rückwärts und mündet im fassungslosen „Das haben wir nicht gewollt“ (oder auch im blinden, gedächtnislosen Haß).

Aber mich erfüllen auch einige Haltungen in den eigenen Reihen gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik mit Sorge. Gregor Gysis Aufruf zum 7. Oktober: „Nun müssen AUCH ANDERE MAUERN FALLEN“. Oder Lothar Biskys „Kurzformel“, man wolle sich „am 7. Oktober freundlich-kritisch erinnern“. Nur „freundlich“, aber „kritisch“? Und nur „erinnern“?

Die ewige Fragestellung WAS HABEN WIR FALSCH GEMACHT? stellt Proportionen auf den Kopf und verleitet zum Verzicht auf die unverzichtbare Differenzierung. WAS HABEN WIR RICHTIG GEMACHT? – so wird ein Schuh draus! War etwa die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik falsch – kein „Wendepunkt in der Geschichte Europas“? NIE WIEDER KRIEG VON DEUTSCHEM BODEN!: Das war ja wohl etwas Neues, Erstmaliges in der deutschen und europäischen Geschichte! Von Wilhelm Pieck über Walter Ulbricht bis zu Erich Honecker war es unsere STAATSDOKTRIN! Erich Honeckers Verurteilung der Atomwaffen als TEUFELSZEUG entsprach ja wohl dem Menschheitstraum des ewigen Friedens. Was war – bitteschön – erst: Die endgültige Beseitigung der Grenzprobleme mit Polen, der Schlußstrich unter eine Jahrhunderte alte, verhängnisvolle Fehlentwicklung mit unseren Verträgen mit Polen und den Namen Otto Grotewohl und Joszef Cyrankiewicz – und mit der Tschechoslowakei – oder Herrn Brandts später, heuchlerischer Kniefall in Warschau – wenn auch fernsehwirksam?

War die Demokratische Bodenreform – seit den Bauernkriegen und der Revolution von 1848 Forderung deutscher Demokraten und sogar eines Papstes – ein Fehler? Sie war ein revolutionärer Akt, ihre Beseitigung demnach konterrevolutionär. Nahmen wir mit der Bodenreform nicht zugleich übelsten deutschen Kriegsherren ihre Macht? Und gaben Landarbeitern, Knechten und Umsiedlern Land und Boden? Die revolutionäre Bildungsreform ohne Rücksicht auf die Herkunft und Geldbeutel der Eltern: Ein Fehler? Die Gesundheitsreform – kostenlos und mit Polikliniken – ist das heute vielleicht kein schöner Traum? Wir haben durch Volksentscheide und freie Wahlen Naziaktivisten und Monopolherren ihre zusammengeraubten Betriebe auf revolutionäre Weise genommen und dem Volk und seinem Staat zugeführt: Wer will das falsch nennen – außer natürlich den Betroffenen und ihren Nachkommen, die heute Konterrevolution betreiben und Volkseigentum als ihr „Eigentum“ zurückfordern und das DDR-Volk bestehlen?

Daß wir Nazilehrer und -professoren von Schulen und Universitäten entfernten und einer nützlichen Friedensarbeit im Uranbergbau zuführten – war das vielleicht falsch? Vornehmlich Arbeiter zu Neulehrern und Juristen auszubilden (und manche mögen zunächst Blume mit „h“ geschrieben oder nur eine Handvoll Paragraphen gekannt haben: aber sie sprachen Recht und lehrten Richtiges, fürs Leben Unverzichtbares – und wahre Geschichte!) Kein einziger Blutrichter an unseren Gerichten und kein Staatsanwalt à la Freisler. Wie richtig und unverzichtbar das war, sehen wir heute: Am Beispiel Irmgard Jendretzky und an den Rachefeldzügen der Bundes-Justiz an Repräsentanten und Hoheitsträgern des sozialistischen Staates, der Mitglied der UNO war und von 130 Staaten unserer Erde als souveräner Rechtsstaat anerkannt. Da waren die Reformen der Länder, Städte und Gemeinden – mit ihrer Übersichtlichkeit (übrigens nach dem Beispiel der französischen Revolution). Oder die Herstellung der vollen Gleichberechtigung der Frauen und Mädchen, die Festschreibung der „Rechte der jungen Generation“ alles Fehler?

Wir haben die Einheit der Arbeiterklasse geschaffen! Mit Zwang? Jawohl! Es war der Zwang der Geschichte, aus dem größten Versäumnis dieses Jahrhunderts Konsequenzen zu ziehen und den Schwur von Buchenwald zu erfüllen: Aus der Spaltung der Arbeiterklasse deren Einheit! Die Einheitsgewerkschaft hatte im Parlament eine eigene Fraktion, Sitz und Stimme – wie es sich für eine VOLKSKAMMER geziemt. Wir haben auf der Grundlage von Volksentscheiden den Demokratischen Block der Parteien geschaffen und durch freie Wahlen eine Verfassung, die fortschrittlicher war als jede andere Verfassung in Europa – angelehnt an die Weimarer Verfassung (weil wir doch immer ein einheitliches, antifaschistisches, demokratisches Deutschland wollten). Und wir haben antifaschistische Traditionen geschaffen und gepflegt und in ihrem Sinne unsere Jugend erzogen; wir haben sie vertieft, vermittelt und gegen Geschichtsfälscher geschützt! Wir haben antifaschistische Helden geehrt und als Vorbilder gepflegt. Wir hatten keine Arbeitslosen und keine Wohnungslosen. Welches Menschenrecht, das grundsätzliche – haben wir nicht verwirklicht?

Bis heute gibt es auf der Welt keinen wissenschaftlich, staatlich und ökonomisch entwickelten Sozialismus, aber wir haben die richtige Richtung eingeschlagen und die Grundlagen des Sozialismus gelegt. Wissenschaft ohne Meinungsstreit, ohne Experimente, Niederlagen und Fortschritte gibt es nicht. Marx und Engels waren Marxisten, weil sie ihr Wissen und die Ergebnisse ihrer Forschungen zeitlebens zu bessern und politisch umzusetzen suchten und in diesem Prozeß Neues fanden. Bei uns in der DDR wurde gestritten: Im Betrieb (wo heute keiner mehr den Mund aufzureißen wagt), in der Schule (wo die Lehrer oft einen schweren Stand hatten), in der Redaktion (wo es oft lange dauerte, bis dieser oder jener Kommentar zustande kam – jedenfalls bis Achim Herrmann Sekretär wurde), in den Ausschüssen der Volkskammer (bis man sich geeinigt, oft zusammengerauft hatte und dann das Erreichte gemeinsam im Plenum vertrat – da war kein Bundestags-Showkampf), am Stammtisch wurde gestritten und gemeckert (wo war da die „ständige Stasi-Überwachung“? Ich erinnere an den Ost-Witz: Die DDR hatte 32 Millionen Einwohner, 16 Millionen Täter und 16 Millionen Opfer…), kämpferisch gestritten wurde im Politbüro wenigstens zu Ulbrichts Zeiten, unter Honecker wurde dann allerdings meist abgenickt, gestritten wurde bei BFC Dynamo (wo nicht Erich Mielke das letzte Wort zum Sonnabend hatte, sondern der Trainer).

Wir hatten in den Betrieben gewählte Konfliktkommissionen, die viele Delikte, die vor ein Gericht gehört hätten, innerbetrieblich lösten. Das „Gesetzbuch der Arbeit“ (heute für die Werktätigen wie ein Märchenbuch zu lesen) wurde vom 9. FDGB-Kongreß beraten und beschlossen, ehe der Entwurf der Volkskammer zur Beschlußfassung zugeleitet wurde, es gab natürlich die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, „immer saß“, so der DGB-Vorsitzende Otto Brenner, „bei Tarifverhandlungen der westlichen Tarif„partner“ als unsichtbarer Dritter die Deutsche Demokratische Republik mit am Tisch, es gab den gewählten, sehr gewichtigen Elternbeirat. Es gab – nun haben wir längst nicht alles, aber genug gehört zum „Demokratie-Defizit der DDR“ – es gab die Diktatur des Proletariats: Sie bedeutete die höchstentwickelte Demokratie für die Werktätigen und – schlag‘ nach bei Marx – ein „unumgängliches Stadium beim Übergang von der kapitalistischen ‚Demokratie‘ zur sozialistischen Gesellschaft.“

In der DDR ging es – wenn wir an die COMECON-Liste denken, die NATO-Staaten vorschrieb, was alles nicht in die DDR geliefert werden durfte, wenn wir an den Kalten Krieg denken und die nachlassenden und verteuerten Öllieferungen aus der Sowjetunion – in der DDR ging es bescheiden, aber gerecht zu. Eine klaffende Schere zwischen Arm und Reich gab es nicht. Es gab auch keine unberechtigten Privilegien.

Was hat der Medienimperialismus aus diesem sozialen Rechtsstaat gemacht, der der formalen bürgerlichen ‚Demokratie‘ eine zeitgeschichtliche Epoche voraus war: Den UNRECHTS-STAAT! Diese vierzigjährige permanente Verleumdung spukt sogar in den Köpfen einiger Genossen bei uns herum, und sie glauben, sich beim Klassenfeind „entschuldigen“ zu müssen. Aber auch in die Reihen westdeutscher Genossen ist sie eingedrungen. Ich habe es selbst in Betriebsratsversammlungen in Hamburg, bei Diskussionen an Universitäten wie Münster, Trier und Göttingen und, bis zu meiner Erkrankung, in Dutzenden Versammlungen der PDS, der DKP und von linken Buchhandlungen organisiert, erlebt, wie Genossen – Opfer ihrer Medien und aus Unkenntnis – die DDR und die SED beschuldigten, sie „verraten“ zu haben, den „Zusammenbruch des Sozialismus verschuldet“ zu haben; und nun wolle man nichts mehr wissen von den „geschulten Genossen aus Berlin und Leipzig, Rostock und Karl-Marx-Stadt“.

Natürlich haben Arbeiter, haben Werktätige im Westen andere Erfahrungen im Klassenkampf als wir. Im Westen haben sie den Klassenkampf empfindlich am eigenen Leibe zu spüren bekommen: Im Betrieb, mit der Polizei, dem Verfassungsschutz, der Bonner Gesetzgebung, der Justiz, der Desinformation durch die Medien (da können wir allerdings ein Lied mitsingen, und ich konnte mit meinem „Kanal“ nur sehr begrenzt hilfreich sein; auch gab es gewisse Gebote der Nichteinmischung unseres staatlichen Fernsehens – das rechne ich übrigens zu den schweren Fehlern). Dazu kam die Hetze gewisser SPD- und DGB-Funktionäre.

Wir – Grenze an Grenze mit dem aggressiven Klassenfeind und einer Frontstadt Westberlin mittendrin – mußten den Kampf mit staatlichen Mitteln führen (und haben dabei gewiß oft überreagiert). Wir spürten den Kampf kaum am eigenen Leibe (außer unsere Grenzer und die Genossen der Staatssicherheit). Unsere Antwort war: Produktionsleistungen – Wehrbereitschaft – Solidarität. Und immer im Feuer überlegener hemmungsloser Feindpropaganda (die von manchen unterschätzt wurde), einer psychologischen Kriegführung, die mit ständiger Einmischung, ständigen Lügen und Verleumdungen jede Schwäche der DDR ausnutzte, jeden Fehler (und wer macht auf Neuland keine Fehler?), jede notwendige Maßnahme, die wir oft genug genügend begründeten.

Der Philosoph Hans Mayer, den wir törichterweise aus Leipzig weggeekelt haben, schreibt in einem Buch: „Man darf kein Ding, auch keinen Staat, von seinem Ende her beurteilen und bewerten, sondern zu nächst einmal von seinem Anfang.“

Wenn wir so an die Deutsche Demokratische Republik herangehen, dann bleiben von einem Meter des Zollstocks 95 Zentimeter Erfolge, Leistungen, Fortschritte von historischem Ausmaß. Und ganze fünf Zentimeter, was wir hätten anders machen sollen oder falsch gemacht haben (und da sind noch nicht einmal die jeweiligen Umstände dabei, die uns dieses oder jenes erlaubt oder nicht erlaubt haben). Deshalb bin ich bei der Fehlersuche für die Beachtung der Proportionen. Und dann muß noch das Differenzieren hinzukommen, die Beachtung historischer und aktueller Zwänge. Unsere Verbündeten waren keine reichen Amerikaner, sondern kriegsgebeutelte Russen, die mitten in ihrem Aufbruch vom Bastschuh zum Lederstiefel überfallen worden waren. Und was hatten sie Anfang der zwanziger Jahre in Angriff genommen: Ein Armenhaus mußte alphabetisiert werden, elektrifiziert und industrialisiert, die Landwirtschaft kollektiviert, das schier endlos weite Land zum Staat geeint, zur einzigen sicheren Bastion ausgebaut werden gegen den Weltimperialismus und seinen deutschen Faschismus. Und das alles nach Bürgerkrieg, Interventionskriegen, Konterrevolution, Aggression im fernen Osten, Hitlerkrieg!

Mit ihren Schwächen und Fehlern müssen sich unsere Genossen im Osten selbst auseinandersetzen. Und sie haben ja damit begonnen. Uns verbietet enge Freundschaft, Befreiung, die Millionen das Leben kostete, Witwen und Waisen, trotzdem freundschaftliche Hilfe – uns verbietet die unauslöschliche deutsch-sowjetische Freundschaft jede Kritik an der Sowjetunion Lenins und Stalins.

Aber ist die DDR an ihren Fehlern und Schwächen zugrunde gegangen?

Würde sie – die Frage muß erlaubt sein – in einem untadeligen, chemisch reinen sozialistischen Zustand heute noch existieren? Hat die Konterrevolution nicht erst in Polen, Ungarn, Budapest und dann erst in Rumänien, Bulgarien, der Tschechoslowakei und ganz zuletzt erst in der DDR gesiegt? Diese Frage erfordert ein erheblich ehrlicheres, gründlicheres wissenschaftliches Herangehen an das Problem, als es die heutigen „Historiker“, „Experten“, „Wissenschaftler“, Klugscheißer bis hinunter zu den Weisen aus dem Abendland der Journalistik sich erfrechen.

Nicht weil wir Schwächen gehabt und Fehler gemacht haben, wurden wir in den weltweiten Klassenkampf einbezogen (und haben ihn zunächst einmal mitverloren), sondern weil wir das Schlimmste verkörperten, was sich der deutsche Imperialismus vorstellen kann: Auf deutschem Boden ein sozialistischer Staat, die Deutsche Demokratische Republik! Daß wir da waren, daß wir existierten – das war zuviel! Sie mußte weg! Mit allen Mitteln der Politik, der Außenpolitik, des Wirtschaftskrieges, des verdeckten Krieges, des Medienterrors und – anders als in der CSSR, in Polen, in der Sowjetunion und den anderen – mit derselben Sprache und breitgefächerten Verwandtschaften, mit Beziehungen hinüber und herüber.

Trotzdem gibt es keine „ehemalige DDR“. Trotz alledem! (Man sagt ja auch nicht „ehemalige Weimarer Republik“ und nicht „ehemaliges Kaiserreich“ oder gar „ehemaliges Großdeutschland“.) Das hätten sie gern!

Als wir schon verlassen und verraten waren, kamen sie über uns: Bundestagsabgeordnete aller Parteien fielen über die „Brüder und Schwestern“ her. Sie wußten nicht, wo Riebnitz oder Reichenbach lagen, aber sie kamen mit Mercedes und BMW, mit Apfelsinen und Bananen (die sie uns jahrzehntelang vorenthalten hatten – und die unsere Kinder nicht gekannt hätten, wenn es nicht Alexander Schalck-Golodkowski gegeben hätte), sie kamen mit Westmark und dem Versprechen blühender Landschaften und daß es keinem schlechter gehen werde. Und so inszenierten sie – die Herren aus Bonn – in der immer noch souveränen DDR ihre „ersten freien Wahlen“ und fanden eine willige Volkskammer und gefügige Runde Tische. Und musterten Häuser, die sie besetzten und Bauten, die sie abrissen, um Banken, Versicherungen, Einkaufscenter – und Arbeitsämter zu bauen. Und brachten Bürger der Deutschen Demokratischen Republik – was sage ich: Bürger des „Beitrittsgebietes“ um ihr Eigentum, viele um wohlverdiente und erarbeitete Rente, um ihre Würde und ihren Stolz auf das, was sie in 40 schweren Jahren erarbeitet hatten – trotz alledem! Und das sollte gefeiert werden, das sollte ein „Tag der Einheit“ sein? Das soll man „freundlich und kritisch betrachten“? Wohlgemerkt: Ich wünsche mir nicht die Deutsche Demokratische Republik zurück.

Die Geschichte ist weitergegangen. Und sie wird weitergehen. Wir haben dafür zu sorgen, daß sie nicht so weitergeht, wie sie zur Zeit in Bewegung ist. Brutaler, räuberischer, unmenschlicher Kapitalismus kann nicht die letzte Antwort der Geschichte sein! Die Antwort kann nur SOZIALISMUS lauten. Der fällt nicht vom Himmel. Er will erkämpft sein, und das ist ein langer Prozeß. Aber wann wollen wir damit anfangen – wenn nicht jetzt!

Verzagen?

„Man muß sich möglichst nüchtern, klar und anschaulich Rechenschaft darüber ablegen, was wir eigentlich ‚zu Ende geführt‘ haben und was wir nicht zu Ende geführt haben. Der Kopf wird dann frisch bleiben, es wird weder Übelkeit noch Illusionen noch Verzagtheit geben.“ Der das im Februar 1922 geschrieben hat, hieß Wladimir Iljitsch Lenin. Und erfuhr in seinem Brief fort: „Als rettungslos verloren müßte man diejenigen Kommunisten bezeichnen, die sich einbilden wollen, daß man ohne Fehler, ohne Rückzüge, ohne vielmaliges Neubeginnen des nicht zu Ende Geführten und des falsch Gemachten solch ein weltgeschichtliches ‚Unternehmen‘ wie die Vollendung des Fundaments der sozialistischen Wirtschaft zu Ende führen könnte. Diejenigen Kommunisten aber, die weder in Illusionen noch in Verzagtheit verfallen, die sich die Kraft und die Geschmeidigkeit des Organismus bewahren, um beim Herangehen an die überaus schwierige Aufgabe ‚von Anfang zu beginnen‘, sind nicht verloren!“

Auf DDR-Deutsch: Auf deutschem Boden wird der siegreiche Sozialismus unauslöschbare, unbesiegliche Züge der Deutschen Demokratischen Republik tragen – trotz alledem! (Starker, lang anhaltender Beifall)

Marta Rafael, Karl-Eduard von Schnitzler,
Eichwalde


aus: Offensiv (Hrsg.): Auferstanden aus Ruinen, Über das revolutionäre Erbe der DDR, Hannover Januar 2000. http://www.offen-siv.net/Lesenswertes/auferst.pdf


Donnerstag, 8. Oktober 2020

Selbstbetrug - Werner Seppmann, jw

 Entnommen: https://www.jungewelt.de/artikel/387854.tr%C3%BCbe-gedanken-beruhigender-selbstbetrug.html


TRÜBE GEDANKEN

Beruhigender Selbstbetrug

Angesichts alltäglicher Bedrohungserfahrungen lassen sich viele Menschen immer absurdere und realitätsfernere »Welterklärungen« einleuchten: Irrationalismus als Überlebensprinzip

Von Werner Seppmann

Ungewissheit und Perspektivlosigkeit sind zur Epochensignatur geworden. Verunsichert sind vor allem jene, die etwas zu verlieren haben. Zwar haben haben sie es irgendwie »geschafft«, haben sich beruflich etablieren und in ihren Kleinbürgerverhältnissen einrichten können. Aber gerade dieser »mittlere Mann« (Ernst Bloch) ist besorgt, den erreichten Status nicht mehr lange halten zu können. Auch in ehemals gesicherten Gesellschaftsbereichen »sind die Druckwellen zu spüren, die von den Rändern herrühren. Fast jeder hat in seinem Freundes- und Bekanntenkreis Menschen mit prekären Jobs oder Personen, die soziale Rückschritte erleiden mussten«.¹

Besonders irritierend wirkt, dass Erfahrungen aus der Vergangenheit keinen Orientierungswert mehr besitzen. Es ist zwar nach wie vor richtig, dass ohne eine gute Ausbildung die beruflichen Chancen gering sind, aber viele erfahren trotz Qualifikationen und einschlägigen Zertifikaten lebensgeschichtliche Unwägbarkeiten, die in den letzten Dekaden merklich zugenommen haben und einen Schatten über alle Aspekte der Lebensgestaltung werfen. Man hat die permanente Leistungssteigerung als Motivationsprinzip zwar verinnerlicht, aber »Leistung garantiert noch keinen Erfolg«.²

Die Besorgten haben den Eindruck, des erkämpften Status nicht wirklich sicher sein zu können, denn auf der erreichten Sprosse der sozialen Stufenleiter ist es eng und die Drängelei der Nachfolgenden immer heftiger geworden. Nicht nur die Statistiken zeigen es, sondern auch die Alltagserfahrungen lassen befürchten, dass eine Konsolidierung der gesellschaftlichen Position weniger wahrscheinlich ist als ein Abstieg. Eine verunsichernde und letztlich auch psychisch destabilisierende Wirkung hat der zu diesen Erfahrungen vermittelte Eindruck einer weitgehenden Unkontrollierbarkeit des weiteren Lebensweges. Durch die Coronapandemie ist die Situation noch drückender geworden. Die Ansteckungswelle erscheint zwar als kollektives Schicksal, provoziert aber Sorgen (vorrangig um den Arbeitsplatz), mit denen jeder selbst fertigwerden muss.

Es verstärken sich Befürchtungen, die schon lange existieren, nun aber in neuer Intensität eine Rolle spielen, weil konkret geworden ist, was sich seit den ersten ökonomischen Krisensymptomen im vergangenen Jahr abgezeichnet hat und mit beschwörenden Formeln über eine baldige wirtschaftliche »Wiederbelebung« zu relativieren versucht wurde. Die mit den damaligen Prognosen geweckten Hoffnungen haben sich mit der Corona­ausbreitung endgültig erledigt. Aber das kommt für den herrschenden Block nicht ganz ungelegen: Die »konjunkturellen Probleme« können nun umstandslos mit »systementlastender« Wirkung auf die Pandemie abgeschoben werden.

Indizien für den Doppelcharakter der Krise, also die Verschränkung konjunktureller »Schwächetendenzen« mit seuchenbedingten Störungen der Wirtschaftskreisläufe, sind die Bereitstellung beträchtlicher Finanzmittel für die ökonomischen Akteure, aber auch die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes, um die Beschäftigten zu beruhigen. Diese »Nothilfe« ist jedoch kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, der wenig zur Dämpfung der allgemeinen Verunsicherung beizutragen vermag, weil mit einem schnellen »Aufschwung« des Wirtschaftslebens kaum gerechnet werden kann.

Es gehört zum üblichen Verhalten von Krisenopfern, dass sie sich meistens still und angepasst verhalten.³ Das gilt für viele, aber nicht für alle. Eine kleinere Gruppe ist intensiv bemüht, sich psychisch durch die Übernahme als geeignet erscheinender »Erklärungsmuster« zu »beruhigen«. Meist sind es Surrogate mit einer geringen Halbwertzeit: Lässt ihre psychische Beruhigungs- und intellektuelle Betäubungswirkung nach, kann sich eine Spirale der Radikalisierung in Gang setzen.

In seiner Haupttendenz handelt es sich bei diesen Verarbeitungsvorgängen um den Versuch, belastende Unsicherheitsgefühle durch ideologische Konstruktionen, die Halt versprechen, zu kompensieren. Deshalb entwickelt sich in Krisenzeiten verstärkt ein »Bedürfnis nach Weltanschauung« (Georg Lukàcs), eine Suche nach »Gewissheit« und »Überschaubarkeit«. Welche inhaltlichen Konsequenzen dieses Bestreben hat, hängt von der weltanschaulichen »Großwetterlage« und den ideologischen Hegmonialverhältnissen ab.

Dass sich gegenwärtig ein besonders intensives Bedürfnis nach schablonenhaften Erklärungen bemerkbar macht, mag auch mit den Orientierungsverlusten zusammenhängen, die durch eine Flut von »Informationen« verursacht werden, die oberflächlich und beliebig sind. Dadurch kann die Sehnsucht nach »plausiblen Erklärungen« und einer verbindlichen Autorität noch zusätzlich stimuliert worden sein. Aber in der Regel wird infolge des informationellen »Ausgeliefertseins« auch die Bereitschaft erhöht, noch intensiver in den Weltanschauungssumpf einzutauchen. Das Netz ist zwar voll von kritischem und verlässlichem Wissen, jedoch verschlungen sind die Wege, die zu ihm führen. Bei einer ziellosen Suche landet man leicht auf Ab- und Irrwegen.

Stunde der Exekutive

Die Coronazeit ist die »Stunde der Exekutive«, in der nicht nur administratives Formierungsbegehren, sondern auch eine verbreitete Unterwerfungsbereitschaft deutlich wird. Entrüstung über Übergriffe von »Ordnungskräften« und über die oft gravierende Widersprüchlichkeit der »Maßnahmen« gab es nur selten. Auch dann nicht, wenn in einigen Regionen Lesende im Stadtpark mit einer empfindlichen Geldstrafe belegt werden konnten; strenggenommen für das Buchlesen auf der Parkbank, denn die nicht lesenden Parkbesucher blieben unbehelligt! Für eine Studie über autoritäre Charakterstrukturen (die sich nach Meinung einiger Sozialpsychologen verflüchtigt haben) dürfte die Gegenwart mit ihrer herrschenden Unterwerfungsatmosphäre aufschlussreiches Material liefern.

Es existiert in der Bevölkerung ein weitgehendes Einvernehmen mit den staatlichen Maßnahmen. Mehr als 60 Prozent finden sie der Problemlage angemessen und weitere 20 Prozent treten sogar für eine härtere Gangart ein. Während die intellektuellen Mietköpfe und professionellen Sonntagredner von einem »neuen Gemeinschaftsgefühl« schwätzen, ist im Alltag der Ton rauher geworden und bricht sich ein Bestreben nach Distanz Bahn: »Maske aufsetzen!«

Nur von einer Minderheit werden die offiziellen Maßnahmen mit oft autoritativer Tendenz hinterfragt. Aus dieser Gruppe der Skeptiker mit sehr unterschiedlichen Positionen und politischen Präferenzen rekrutieren sich auch die Teilnehmer an den Coronademonstrationen: »In Berlin waren nicht nur Vertreter der extremen Ränder auf der Straße, Verschwörungsideologen und Diktatur-Rufer, sondern auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft.«⁴ Irrationalistische Einstellungen und demokratische Geltungsansprüche präsentieren sich dabei in vielfältiger Gestalt, aber im medialen Rampenlicht standen die rechten Kritiker der Coronamaßnahmen, die dazu herhalten mussten, jegliche Kritik am politischen Umgang mit der Seuche zu diskreditieren.

Dass die politische Rechte in den coronabedingten Irritationen eine Chance sieht, um ihr »eigenes Süppchen« zu kochen, dürfte nicht überraschen. Zumindest oberflächlich konnte sie auch den (wohl unzutreffenden) Eindruck erwecken, unter den Demonstranten einen maßgeblichen Block zu stellen. Das dürfte ihr durch den Einsatz ihrer symbolischen Hilfsmittel (im einfachsten Fall mit der Reichskriegsflagge vor dem Reichstag) auch unproblematisch gelungen sein, hat aber möglicherweise das Bild verzerrt.

Denn auch wenn rechte Demagogen und Aktivisten bei den Demonstrationen besonders »sichtbar« waren, haben sie nicht automatisch eine hegemoniale Bedeutung gehabt. Von den gegenwärtigen Verunsicherungen scheinen sie politisch (noch) nicht in einem relevanten Umfang profitieren zu können, obwohl Menschen in Situationen sozialer Verunsicherung und lebensgeschichtlicher Perspektivlosigkeit ihre Klientel sind, da sie ein nachdrückliches Orientierungsbedürfnis haben, das rechts-ideologisch befriedigt werden kann.

Da über ein kritisches Wissen, selbst über ein rudimentäres Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge in dieser »Wissensgesellschaft« nur noch wenige verfügen und die Aneignung verlässlicher Erklärungen ein voraussetzungsvoller Prozess ist, der Ausdauer und Nachdrücklichkeit erfordert, haben simplifizierende Erklärungen beste Chancen, akzeptiert zu werden. Dies vor allem, weil sie an verbreitete Selbsttäuschungen und ein fetischisiertes Alltagsbewusstsein anknüpfen können, die durch die marktgesellschaftliche Lebenspraxis erzeugt und am Leben gehalten werden.⁵

Um beispielsweise die gesellschaftlichen Ursachen von Arbeitslosigkeit zu begreifen oder um zu verstehen, weshalb auch in Phasen ökonomischer Prosperität die gesellschaftlichen Armutszonen sich ausbreiten, sind anspruchsvolle Verarbeitungsprozesse nötig. Aber kaum eine politisch relevante Organisation bemüht sich noch in einer dem Problem angemessenen Weise, das zu leisten, was in traditionellen sozialistischen Organisationen einmal als »Schulung« bezeichnet wurde. Im Kern der Sache ging es um die Erarbeitung eines Wissens über den Zusammenhang von Ausbeutungsstrukturen und individuellen Bedrängungserfahrungen. Ohne ein solches Bemühen erscheint die Wirklichkeit nicht nur als bedrohlich, sondern in ihrer krisenhaften Verfasstheit auch unveränderbar.

Im Gegensatz zum Anspruch linker Bildungs- und Weltbildarbeit, den gesellschaftlichen Widerspruchsentwicklungen auf den Grund zu gehen, haben rechte und irrationalistisch geprägte Gruppierungen es wesentlich leichter, ihre identitätsstiftenden Weltbildmuster zu vermitteln. Denn ihre Ideologiearbeit ist nicht voraussetzungslos: Sie können an alltägliche Selbsttäuschungen und ein ganzes Netz ideologischer Desorientierungen anknüpfen. Mit einem Wort: Sie können unproblematisch mit demagogischen Pseudoerklärungen arbeiten, die aus der kapitalistischen Lebenspraxis resultieren.⁶

Flucht in den Irrationalismus

Psychisch und mental angeschlagene, in ihrer Identitätsstruktur bedrohte Menschen gewinnen durch die Flucht in irrationalistische »Welterklärungen« einen, wenn auch fragilen Orientierungshorizont; sie erhalten den Eindruck, in einer sonst als unverständlich erlebten Sozialwelt die Gründe für die Destabilisierung ihrer sozialen Position »begriffen« zu haben. Die Überlagerung von Bedrohungserfahrungen mit einer regressiven Weltanschauung lässt die eigene Lebenssituation, die sich objektiv nicht verändert hat, zumindest vorübergehend erträglicher werden.

Soll der Beruhigungspegel aufrechterhalten werden, müssen immer absurdere und realitätsfernere »Welterklärungen« akzeptiert werden. Das führt automatisch zu radikaleren Einstellungen, die Hass auch gegenüber denen stimulieren, die irrationale Positionen in Frage stellen, also als Störfaktoren bei der Selbststabilisierungsarbeit wahrgenommen werden. Zur Dynamik der Radikalisierung gehört, dass solcher Hass dem Leben des Bedrängten »endlich wieder eine Bedeutung, einen tieferen Sinn und eine klare, selbstgewissere Orientierung des eigenen Weges« gibt.⁷

Dieser Hass als Ausdruck einer Selbstradikalisierung spielt somit eine zentrale Rolle bei der Restabilisierung eines angegriffenen Selbstwertgefühls und bei der Kompensation beschädigter Selbstachtung, ist ein Moment im Modus der Selbstermächtigung.⁸ Die Aggressivität, die sich auf dem Weg der Selbstradikalisierung entwickelt, ist im psychoanalytischen Verständnis ein Umleitungseffekt selbstdestruktiver Tendenzen, hervorgerufen von Lebensbedingungen, die keine Zuversicht und keinen Zielhorizont mehr vermitteln. Es gehört zur Besonderheit dieses Hasses, dass er seine kompensatorische Wirkung entfalten kann, auch wenn er noch nicht zielgerichtet, noch auf kein Objekt bezogen ist. Er ist zunächst ebenso dumpf wie orientierungslos.⁹ Aber er verstärkt sich, wenn Ziele »identifiziert« sind, denn nur dann entfaltet sich seine volle psychische Entlastungswirkung.

Diese psychischen Verarbeitungsvorgänge verlaufen relativ reibungslos, weil die Schablonen des Irrationalismus, auch wenn sie real nichts erklären, dankbar angenommen werden. Mit ihrer Hilfe kann das verunsicherte Subjekt sich von den Bedrohungen ein Bild machen, um seine Handlungsfähigkeit aufrechterhalten zu können. Denn »will der Mensch sein Leben sinnvoll gestalten, braucht er ›Wahrheit‹ von sich und der Welt; ein Bild, das ihm erlaubt, wenigstens zu glauben, dass er sich auf den richten Weg befindet«.¹⁰ Selbst wenn die Orientierungsmuster grundfalsch sind, es sich um reine Phantasiegebilde handelt, können sie gerade in Krisenzeiten eine stabilisierende Funktion haben: Sie geben dem orientierungslosen Ich wieder Halt und vermitteln die Illusion von Sicherheit.

Dass sich die Verunsicherten mit vordergründigen Erklärungsmustern zufriedengeben, hängt mit den hohen Barrieren zusammen, die eine Selbstverständigung verhindern und die von der herrschenden Alltagspraxis erzeugt werden: Der unmittelbare Lebenszusammenhang wird als undurchschaubar und von diffusen Einflussfaktoren beherrscht erfahren, herrschende Macht zwar wahrgenommen, aber als »alternativlos« erlebt. Je verwirrender und rätselhafter jedoch das gesellschaftliche Geschehen erscheint, um so mehr erscheinen auch die auf dieser Grundlage sich entwickelnden »alternativen« Sozialbilder als Fetisch.

Fehlen den Alltagssubjekten angemessene Orientierungsschablonen und »Interpretationsmuster«, wird es für sie schwierig, ihre Wahrnehmungen rational zu verarbeiten und adäquate Begriffe zu bilden, mit denen sie ihre Widerspruchserfahrungen beschreiben könnten. Das bedrängte Subjekt reagiert deshalb oft »kopflos« und in gewissem Maße »infantil« auf die Zumutungen, denen es permanent ausgesetzt ist.

Undurchschaute Lebensverhältnisse

Der selbstrepressive Charakter vorherrschender Verarbeitungsformen von Bedrängungserfahrungen ist eine der Ursachen, dass Krisen den Betroffen nicht (oder nur partiell) die Augen öffnen.¹¹ Zwar geht »dem Denken das Leiden voraus«, wie Ludwig Feuerbach es einmal formuliert hat. Aber nicht jedes Leid provoziert auch produktives Denken. Am allerwenigsten ist das der Fall, wenn die Not besonders groß ist, eine krisenhafte Bedrängung alle Sinne absorbiert und (ideologische und praktische) Anpassung stimuliert.

Die »ökonomische Basis« wirkt sich zwar durchaus auf die Entstehung solcher Bewusstseinsformen aus, jedoch in vermittelter Weise: Auch im Krisenfalle ist das Ideelle, das im Kopfe umgesetzte Materielle (wie Marx es formuliert hat) – nur: was entsteht, ist nicht automatisch progressives Bewusstsein. Es ist »kritisch« nur in einem unmittelbaren Sinne: Es äußert sich in spontanen Formen der Verängstigung und Frustration – solange keine progressiven, sondern nur stagnative und resignativ geprägte Verarbeitungsmöglichkeiten existieren.¹²

Im Prinzip ist die Dominanz rückwärtsgewandter Orientierungen auch Ausdruck fehlender progressiver Bewegungen, die fähig sind, Frustrationen und Bedrückungen aufzufangen. Die aber entstehen nicht spontan, sie müssen konstituiert werden, sich entwickeln und ihre progressiven Zielsetzungen plausibel vermitteln können.

Angst und Resignation, panische Fluchtreaktionen und leichtfertige Glaubensbereitschaft sind – wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen – von einem Komplex soziokultureller Vermittlungen, biographischer Besonderheiten, von Machtverhältnissen und Interessenorientierungen sowie dem Charakter der politischen Auseinandersetzungen bedingt. Es handelt sich bei ihnen um psychische und geistige Dispositionen, die auch als Einfallstor für rechtsextreme Orientierungen dienen können.

Diese krisengeprägten Reaktions- und Verarbeitungsformen sind Ausdruck intellektueller und psychischer Rückbildungsprozesse auf das Niveau vorrationaler Psycho- und Identitätsstrukturen, die als »Schutzwelten« fungieren, wenn rationale Interpretationsmuster blockiert sind und eine ungefilterte Realitätserfahrung unerträglich zu werden droht.

Diese Artikulationsformen als Zeichen der Entfremdung sind die auf der öffentlichen Bühne sichtbarsten Indizien für die Existenz eines breiten Stromes irrationalistischer Weltbilder und rückwärtsgewandter Orientierungen, die tief in der Psyche klassengesellschaftlich sozialisierter Menschen verankert sind. In ihren »gewöhnlichen« Alltagserscheinungen gehören beispielsweise auch Esoterik und New-Age-Angebote dazu.

Solche Formen des Irrationalismus sind in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft weit verbreitet und tief verwurzelt, aber keinesfalls ein vorrangiges »Unterschichten«-Phänomen, denn es ist zu einem großen Teil »die urbane Bildungselite, die sich von der Realität verabschiedet hat«.¹³

Der Geist geistloser Zustände

Die Propagandisten von Religionsersatz haben ein relativ leichtes Spiel, weil das gesellschaftliche Klima ihnen zuarbeitet: Astrologie und Okkultismus haben ihre Wurzel in den gleichen Entfremdungsverhältnissen wie Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus: Weil man orientierungslos ist, existiert die Bereitschaft, zu »Sinn«-Surrogaten zu greifen.

Zu ihnen gehören auch die verbreiteten esoterischen Moden, die Selbsterfahrung, Selbstvergewisserung und emotionalen Halt in einer aus den Fugen geratenen Welt versprechen. Immer öfter wird psychische »Selbstoptimierung« angestrebt, um den Anforderungen eines Alltags genügen zu können, der durch beruflichen Bewährungsdruck und unsichere Lebensperspektiven geprägt ist. Mit großer Geschwindigkeit haben sich durch dieses Verlangen nach »Sinn-Ressourcen« auch Wunderglauben und mythische Ursprungskulte ausgebreitet. Entsprechende Publikationen haben große Zuwachsraten, und die Spiritualismusbranche bildet ein einträgliches Betätigungsfeld, denn 50 Prozent der Deutschen glauben an außerirdische Wesen, 20 Prozent halten Kontakte mit dem Jenseits für möglich, 23 Prozent sind überzeugt, dass sie früher schon einmal gelebt hätten, und jeder siebte glaubt an Magie und Hexerei. Dieser esoterische Untergrund ist die »andere Seite« einer gesellschaftlichen Gemengelage von instrumentellem Denken und der Dominanz einer verzehrenden Marktradikalität.

Wer sich umfassend über dieses ausufernde Segment der »Wissensgesellschaft« informieren will, wer »Erlebnisse mit Engeln« oder »Kontakte mit Verstorbenen« sucht, etwas über »Heilarbeit durch Energieübertragungen« erfahren will, muss sich auf den Weg zu den Esoteriktagen machen, die in vielen Städten regelmäßig organisiert werden und neuerdings auch unter den Namen »Wohlfühlmesse« firmieren. Er lernt dann unter anderem, was »feinstoffliche Virenscanner« sind, die von Schwermut und Ängsten zu befreien versprechen. Man kann, so ein weiteres Angebot, seinen »individuellen Weg zu den Engeln« finden, sich »spirituell beraten« lassen oder gleich die »Matrix-Dimension« erleben. Denjenigen, die dann noch nicht das sie Ansprechende gefunden haben, wird Hilfe angeboten, den »Weg durch die eigene Seelenlandschaft« zu finden; er kann durch »Tierkommunikation« (mit seinen verblichenen Lieblingen) sein Bewusstsein zu erweitern versuchen, aber auch Hilfe bei einem »Reinkarnationstherapeuthen« oder einer Astrologin finden. So durch die eine oder andere »Handreichung« gerüstet, ist der Besucher dann für die »schamanische Heilreise«, für »Rückführungen«, die »Einblicke in frühere Zeiten« ermöglichen, und für »Kontaktaufnahmen mit dem Jenseits« in die richtige Stimmung versetzt und »spirituell« vorbereitet.¹⁴

An dem, was dem Geiste genügt, ist die Größe seines Verlustes zu erkennen, hat Hegel einmal über Zustände mentaler Verwirrung gesagt.


Mittwoch, 7. Oktober 2020

Sterbehilfe? - H.P.

 

Wer möchte sterben?

Eben entdeckt: An einer Endstelle der Straßenbahn am Rande Berlins eine große Werbetafel hinter Glas. Sinngemäß folgender Text: Ist in ihrer Nähe kürzlich jemand gestorben? Kennen sie jemand, der sich mit Selbstmordgedanken beschäftigt?

Wir helfen Ihnen gerne, kostenlos.

Nach Augenzeugenberichten stehen an der „Beratungsstelle“ bereits tausende Leute an. Waffen gibt es allerdings noch nicht... Harry Popow

Dienstag, 6. Oktober 2020

...mit bitterem Geschmack - Rainer Rupp, Freidenkerverband

 Entnommen: https://www.freidenker.org/?p=8760


30 Jahre „Wiedervereinigung“ mit bitterem Geschmack


30 Jahre nach der Einvernahme der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland scheinen die Gräben tiefer und nicht flacher zu werden. Diesen Eindruck vermitteln zumindest jüngste Veröffentlichungen und Erklärungen von Ostdeutschen und über Ostdeutsche.

von Rainer Rupp

Erstveröffentlichung am 03.10.2020 auf RT Deutsch

Heute, am 3. Oktober, feiert das offizielle Berlin 30 Jahre Wiedervereinigung mit vielen Jubiläums-Veranstaltungen, Ausstellungen, Aktionen und anderen sogenannten Highlights zum Tag der Deutschen Einheit, die viele Menschen im Osten immer noch als westdeutsche Besatzung oder Annexion der DDR empfinden.

Dank Corona werden uns dieses Jahr wenigstens Großveranstaltungen erspart bleiben, nicht jedoch kitschige Präsentationen – wie das große schwarz-rot-goldene Herz, das in Potsdam während des Eröffnungstages der Einheits-Expo in der Ausstellung „Weg zur Einheit“ im Mittelpunkt von schwarzen, roten und gelben Stoffbahnen die Herzen der Besucher dazu bringen soll, freudig schneller zu schlagen.

Allerdings werden auch dieses Jahr wieder Rundfunk und Fernsehen voll sein mit Versatzstücken aus den pathetischen Reden unseren Politiker, die das bekannte Süßholz raspeln über unsere tolle Merkel-Demokratur, über unsere angebliche Freiheit und die Würde des Menschen, die es angeblich in der DDR nicht gab. Von den Millionen armer Kinder, die nachweislich derzeit in der Bundesrepublik Deutschland leben und von denen viele morgens sogar hungrig zur Schule kommen, weil zu Hause das Geld fehlt, wird keiner der Heuchler reden.

In der DDR gab es keine armen und erst recht keine hungrigen Kinder, denn in dem ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden konnten sie in Würde aufwachsen und in einem hervorragenden Bildungssystem geistig und körperlich gedeihen. Das ist nur einer der vielen positiven Aspekte dieser am Ende verkauften und von Westdeutschen verramschten Republik, die seitdem von den professionellen Jubiläumsrednern am liebsten permanent im großen Gedächtnisloch entsorgt würden. Aber die Erinnerungen der gelernten DDR-Bürger lassen sich nicht so einfach in die Irre führen. Das zeigte interessanterweise auch ein Beitrag des ZDF vom 28. September 2020 – fünf Tage vor dem Tag der „deutschen Einheit“ – unter dem Titel „Wir Ostdeutschen“.

Offensichtlich war es dem Kamerateam nicht gelungen, genug Ostdeutsche zu finden, die mit der Art und Weise der Einheit – oder des Anschlusses – zufrieden waren. So kam es, dass vor laufender Kamera fast alle befragten Ostbürger die Arroganz der personifizierten Westimporte, die sich im Osten gerne als neue Machthaber aufspielen, verurteilten. Zugleich erregten sie sich über die bis dahin in der DDR unbekannten Phänomene, die heute jedoch in der Bundesrepublik zum täglichen Leben gehören, wie etwa hohe Arbeitslosigkeit, unbezahlbare Mieten, Ignorieren der Kraft und der Talente der Bürger, Verdrängung von Ostdeutschen – vor allem der Frauen – aus Führungspositionen, Nichtanerkennung von Studien- und Berufsabschlüssen und Abzocke als nicht strafbares BRD-Geschäftsmodell.

Des Weiteren empörten sich viele „Ossis“ über die Diskriminierung und Vorverurteilung von Personen, die der DDR-Staatsmacht „nahestanden“, vor allem aus den Sicherheitskräften und der NVA. Andererseits erinnerten sie sich mit einer gewissen Wehmut an die – nunmehr in der Bundesrepublik – verlorengegangene Menschlichkeit, an die Solidarität, Hilfsbereitschaft und den Zusammenhalt im täglichen Leben der Bürger in der DDR.

Aufsehen erregte auch das Interview, das Peter-Michael Diestel anlässlich dieses 30sten Jahrestages der Berliner Zeitung am Mittwoch dieser Woche, am 30. September gab. Diestel, erklärter Gegner der DDR, hatte im Jahre 1990 als letzter Innenminister der DDR die Staatssicherheit samt all ihrer Organe aufgelöst und für die Umbildung der Volkspolizei und die friedliche Entwaffnung der gesamten militärischen und sonstigen halbmilitärischen Strukturen wie Grenztruppen, Kampfgruppen der Arbeiter, Zivilverteidigung gesorgt. Zum Erstaunen seiner Interviewer hält Diestel vor allem die HVA, den Auslandsnachrichtendienst der DDR-Staatssicherheit, auch heute noch für den „fähigsten Geheimdienst“ seiner Zeit. Der sei „der Champions-League-Sieger“ gewesen, „die bundesdeutschen Geheimdienste waren im Verhältnis dazu vielleicht so Kreisklasse“. Deshalb sei im Westen „auch der Hass auf die Stasi so groß“ gewesen, so Diestel.

Heute arbeitet Diestel als Anwalt. Er nennt die Ausgrenzung seiner Landsleute in der bundesrepublikanischen Gesellschaft als „verfassungswidrig“ und verteidigt seine einstigen DDR-Mitbürger gegen die vielen oft existenzbedrohenden Ungerechtigkeiten, welche die Okkupation durch den Westen – so bezeichnet er die Vereinigung – für viele Ostbürger mit sich gebracht hat.

Nachdem 1990 das Volk „die Mauer eingetreten“ habe, sei „dieses schöne, friedliche Ereignis von Dummköpfen“ aus dem Westen übernommen und „den Ostdeutschen damit das Selbstbewusstsein genommen worden. Wir erleben seitdem die Ausgrenzung einer großen Menschengruppe.“ Das sei „absolut verfassungswidrig“, sagt Diestel und erkläre auch, warum:

Es gibt unter den 200 deutschen Botschaftern und den 500 Generälen nicht einen einzigen Ostdeutschen. Von 84 Universitäten und Hochschulen in Deutschland wird nicht eine von Ostdeutschen geleitet. In den ostdeutschen Landeshauptstädten kommen 90 Prozent aller Staatssekretäre, Abteilungsleiter, Hauptabteilungsleiter aus dem Westen, fast 100 Prozent sind es in Brandenburg. Nicht ein einziger Ostdeutscher ist in den Alt-Bundesländern Staatssekretär, Hauptabteilungsleiter, Minister. Wir haben fünf Oberlandesgerichte, die mit Altbundesdeutschen besetzt sind. Das ist verfassungswidrig.

Sogar die Nazis, die sich bei uns im Osten breitmachen, kommen aus dem Westen. Gauland in Potsdam, Höcke in Thüringen. Alles Leute, die im Westen nichts geworden sind.

Auch das Ostdeutsche Kuratorium von Verbänden (OKV) hat sich zum Jahrestag mit einer vernichtenden Stellungnahme über die traurige Realität in Ostdeutschland 30 Jahre nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik zu Wort gemeldet. Das Kuratorium fungiert als Zusammenschluss von Vereinigungen und Organisationen mit dem Tätigkeitsfeld spezifisch ostdeutscher und anschlussbedingter Thematiken und Arbeitsfelder. Im Juni 1994 wurde das Kuratorium als Verein eingetragen, der als Hauptziel die Herstellung der inneren Einheit des deutschen Volkes nennt. Erster Vorsitzender war damals Peter-Michael Diestel.

In der aktuellen Erklärung „Für eine bessere Zukunft“ des Kuratoriums heißt es einleitend:

Vor 30 Jahren trat die DDR der BRD bei. Viele DDR-Bürger hatten die Illusion, im nunmehr vereinten Deutschland ein friedliches, freies, gleichberechtigtes und wohlhabendes Leben führen zu können. Diese Illusion hat sich für die meisten Bürger nicht erfüllt. Sie sind gestrandet in einem Gesellschaftssystem der Raffgier und des Geldes. Sie leben in einem Staat, der Kriege führt, beim Waffenexport führend ist, die EU im Interesse des Kapitals dominiert, weltweit durch Ausbeutung von Mensch und Natur Armut erzeugt, Migrationsströme fördert, Flüchtlinge ertrinken lässt oder in menschenunwürdigen Lagern ihrem Schicksal überlässt.

Aber als „besonders schockierend“ empfindet das Kuratorium, dass „wir nun in einem Staat leben, in dem die Herrschenden Russland und seine führenden Repräsentanten auf das Übelste verleumden und politisch, militärisch und wirtschaftlich erpressen.“

Laut Erklärung will „die Mehrzahl der Bürger der DDR, die sich für eine bessere Zukunft engagiert hatten, einen solchen Staat nicht. Sie wollen, dass Frieden, Freiheit und Menschenwürde keine leeren Floskeln bleiben. Sie werden niemals vergessen, dass die Sowjetunion Deutschland vom Faschismus befreit und dafür viele Millionen Menschenopfer erbracht hat. Freundschaft und friedliche Beziehungen mit Russland sind ihnen ein Herzensbedürfnis. Ebenso freundschaftliche Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China.“ Deshalb fordert das Kuratorium „die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und die Aufhebung aller Sanktionen.“

Zugleich habe „die Virus-Pandemie die Unfähigkeit dieses kapitalistischen Gesellschaftssystems zur Lösung der wichtigsten Probleme der Menschheit offengelegt.“ Statt eines Umdenkens soll „mit ungeheuren ungedeckten Geldsummen erreicht werden, dass die alten, das Leben auf unserem Planeten bedrohenden zerstörerischen Zustände wiederhergestellt werden.“

Daher sei eine „grundlegende Änderung der Lebensweise zwingend notwendig“, eine Lebensweise, die Schluss mache „mit einer außer Rand und Band geratenen Konsum- und Vergnügungsgesellschaft, die nutzlose Produkte offeriert und Massen zur Verdummung durch teuerste „Kultur“- und Sport-Events auf Straßen, in Hallen und Stadien treibt.“ Stattdessen sein eine Besinnung auf „eine vernünftige menschenwürdige Lebensführung“ nötig. Dazu gehöre auch, Schluss zu machen „mit der Herrschaft des Finanzkapitals und seiner Spekulanten, Schluss mit der Schöpfung von Geld und Reichtum ohne Arbeit; Schluss mit der Ansammlung von gigantischem Reichtum bei Wenigen und gigantischer Armut bei den Meisten, weltweit, Schluss mit der Herstellung billigster Lebensmittel und Konsumwaren und der Ausbeutung von Rohstoffen und Energien in den ärmsten Ländern unter menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen; Schluss mit der Zersplitterung der Produktion rund um den Erdball, Schluss mit dem sinnlosen Transport von Waren und Menschen rund um den Globus zu Lande, zu Wasser und in der Luft“ und stattdessen eine Besinnung auf die eigenen Ressourcen und Möglichkeiten.

Schluss gemacht werden müsste auch mit der privaten Profitmaximierung durch die „Privatisierung von Gesundheitseinrichtungen, des Wohnungswesens, von sozialen Diensten, des öffentlichen Verkehrs, der Energieversorgung, von Bildung, Kultur und Sport.“ Die Rückführung in staatliches und kommunales Eigentum, um die Daseinsfürsorge der Bevölkerung zu decken, müsse das Ziel sein.

Vor allem aber müsse Schluss sein „mit kriegerischen Abenteuern, der Herstellung und des Exports immer neuer Rüstungsgüter rund um den Erdball“ durch die Bundesrepublik.

Zudem betrachtet das Kuratorium mit großer Sorge, dass die Corona-Pandemie von den Herrschenden dazu „missbraucht wird, um ein gescheitertes Gesellschaftssystem nicht nur zu restaurieren, sondern expansiv und gewaltsam rund um den Erdball zu installieren“. Zugleich sei zu befürchten, „dass die Bekämpfung der Pandemie zum Vorwand wird, um durch Sparorgien neue Lasten auf die Bevölkerung abzuwälzen und demokratische Grundrechte weiter abzubauen.“ Daher ruft das Kuratorium alle Bürgerinnen und Bürger auf, „sich derartigen Bestrebungen öffentlich zu widersetzen.“

Die Erklärung und die Liste der Erstunterzeichner kann am sogenannten „Tag der Einheit“, dem 3. Oktober, auf der Webseite des OKV (www.OKV-ev.de) eingesehen werden. [siehe auch Download-Link unten]

Rainer Rupp ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes




Montag, 5. Oktober 2020

Anschlußfolgen... - Arnold Schölzel, RotFuchs

Entnommen: http://www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2020/RF-273-10-20.pdf


Anschlußfolgen …


30 Jahre nach dem Anschluß der DDR an die BRD droht die Welt in Krise und Krieg zu versinken.


Diese drei Jahrzehnte haben bestätigt: Imperialismus ohne Expansion, Aggression, Hochrüstung, Rüstungsexport, Krieg und Kriegsgefahr bis hin zur Drohung mit einem atomaren Inferno gibt es nicht – es sei denn, er wird gezügelt, sozial und militärisch. Die DDR war von Fläche und Bevölkerungszahl her ein kleiner Staat und dennoch in der globalen Klassenauseinandersetzung um ein menschenwürdiges Leben in Frieden von strategischer Bedeutung. Das ist eine Erfahrung, die keinem DDR-Bürger genommen werden kann. 1988 sagte mir der Philosoph Wolfgang Harich, als ich mit ihm über die Politik Michail Gorbatschows diskutierte: „Wenn die DDR fällt, fällt der Sozialismus bis Wladiwostok.“ Er hatte recht. Die DDR war eine Art Schlußstein im Gebäude des europäischen Sozialismus. Damals vor 32 Jahren setzte die Clique um den Generalsekretär der KPdSU die „deutsche Frage“ wieder öffentlich auf die Tagesordnung, stellte also die DDR zur Disposition.


Dennoch konnten sich nur wenige vorstellen – Harich und ich auch nicht –, daß die innere und äußere Konterrevolution wenig später in der DDR und danach in der Sowjetunion triumphieren würde. Mit ihr kamen Existenzunsicherheit, Massenarbeitslosigkeit, Armut, bereits Anfang 1991 der „Begrüßungskrieg“ (Volker Braun) im Irak, ein reaktionäres Bildungssystem zur Heranzüchtung von Untertanen der Kapitalherrschaft, ein absurdes Gesundheitssystem einschließlich esoterischer Geist- und Wunderheiler sowie vor allem der totalitäre Antikommunismus, der in Fortsetzung des deutschen Faschismus von Beginn an BRD-Staatsdoktrin war. Jede Form von Protest gegen die Vernichtung von Arbeit und Leben wurde mit Hetze auf Repräsentanten und Funktionäre der DDR, auf den „Unrechtsstaat“ insgesamt beantwortet. Insbesondere die Mitarbeiter der DDR-Sicherheitsorgane, aber auch Wissenschaftler, Künstler und Journalisten wurden und werden mit einer Gnadenlosigkeit verfolgt und verunglimpft, die ihresgleichen in der Geschichte sucht. Millionen Bücher fielen einer „kalten Verbrennung“ zum Opfer, Tausende, wahrscheinlich Zehntausende Kunstwerke wurden im Bildersturm zerstört. Der Satz des SPD-Politikers Egon Bahr, er kenne kein zweites Volk, das so ausgeplündert worden sei wie die Ostdeutschen, sprach das wirtschaftliche Geheimnis des Anschlusses aus. Mehr als 5 Millionen Menschen haben seit 1990 Ostdeutschland verlassen, etwa 3,5 Millionen zogen in die entgegengesetzte Richtung, darunter jene Westdeutschen, die heute wie Kolonialbeamte alle höheren Ämter in Verwaltung, Justiz, Wissenschaft etc. besetzen – einschließlich der AfD-Chefetage. Das alles, insbesondere die vom Kanzleramt aus gesteuerte Verleumdung der DDR und des Sozialismus war ein Programm zur Wiederbelebung des Faschismus. Mitgewirkt haben daran die BRD-Naziparteien (also der Verfassungsschutz), die einen Tag nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 begannen, auf Schulhöfen in der DDR Jugendliche zu rekrutieren: Ein linkes Widerstandspotential mußte, wie schon seit dem Kaiserreich erprobt, mit Nationalismus und Rassismus verhindert werden. Das mündete in den Terror des NSU und anderer Banden oder „Einzeltäter“. Mitgewirkt haben alle Parteien, die mit der Vogelscheuche „Unrechtsstaat“, mit der den Faschismus verharmlosenden Formel von den „zwei deutschen Diktaturen“ Politik machen – darunter die Thüringer und die Berliner Regierungssozialisten.


Es gibt neben dem „RotFuchs“ nur wenige Stimmen, die dem Gebrüll widersprechen. Wenn es um die DDR geht, sind aber Besonnenheit oder Seriosität weder in den Konzern- und Staatsmedien noch in der Sozialwissenschaft gefragt. Es darf und soll dem Staat, der keinen Krieg führte und nach einem Satz von Peter Hacks „das Verbrechen scheute“, jede Art von Niedertracht und Kriminalität angehängt werden.


Die 30jährige Fortsetzung des kalten Krieges gegen die DDR hat die Resultate, die vorhersehbar waren. Der BRD-Staatsapparat ist von militanten Faschisten durchsetzt, Teile der Politik und der Medien befinden sich geistig im Krieg gegen Rußland. In Belarus wurde versucht zu wiederholen, was mit der DDR gelang: einen Hauptfaktor für die Sicherheit der Westgrenzen des größten Landes der Welt zu beseitigen. Das ist bisher nicht gelungen. Fest steht aber, daß diejenigen in Washington, Berlin und Warschau, die äußerste Konfrontation mit Moskau wollen, nicht aufgeben werden. Das ist ein direktes Ergebnis des Anschlusses von 1990 und der 30 Jahre, die ihm folgten. Die Verantwortung aller, die dagegen eine Politik der Vernunft vertreten, wächst.

Arnold Schölzel


Sonntag, 4. Oktober 2020

30 Jahre Annexion - rubikon

Entnommen: https://www.rubikon.news/artikel/30-jahre-annexion


03.10.2020:


30 Jahre Annexion


Was offiziell eine Wiedervereinigung gewesen sein soll, war deren Gegenteil — die Verwirklichung eines alten Kapitalistentraumes: des Rollbacks.


Von Liane Kilinc


In diesem Jahr gedenken wir am 3. Oktober des dreißigsten Jahrestages der Konterrevolution. Die Annexion des DDR-Gebietes durch das bundesdeutsche Kapital hat Folgen bis heute. Diese spüren aber nicht nur die Menschen in Ost- und Westdeutschland. Sie betreffen ebenso die Menschen in anderen Ländern. Es gibt für die meisten keinen Grund zum Feiern und Jubeln, wie es die herrschenden Kreise mit ihren Dienern in Politik und Medien auch in diesem Jahr wieder tun. Sie konnten vor 30 Jahren ihre Herrschaft in einem Gebiet wieder errichten, das ihnen 45 Jahre entrissen war — nach einem völkermordenden Krieg, den sie zu verantworten hatten. Heute machen sie dort weiter, wo sie einst aufhören mussten. Notwendig ist mehr als eine Erinnerung an eine menschlichere Existenz. Diese Erinnerungsarbeit muss im Wissen um das Verlorene ebenso wie im Wissen um das Zukünftige geleistet werden. Die wirkliche Aufgabe lautet nach wie vor, die imperialistischen Kriege ein für alle Mal zu beenden.

Dieses Tages zu gedenken verstrickt uns in seltsame emotionale Widersprüche, denn Gedenktage haben immer etwas von Totenfeiern. Es werden Erinnerungen geteilt, Hinterlassenes sortiert. Es wird das Gute vom Schlechten getrennt und das Gute aufbewahrt, um es weiterzureichen. Am Ende wendet man sich ab und wieder dem Leben zu. Nur, diese Gedenkfeiern stehen, das wird von Jahr zu Jahr deutlicher, unter umgekehrtem Vorzeichen. Wir gedenken des Lebens, erinnern uns an die Zukunft, und wenn wir uns abwenden, kehren wir in eine Existenz zurück, die vom Tod geprägt ist. Es mag sein, dass uns das durch die Tätigkeit innerhalb unseres Vereins Friedensbrücke besonders auffällt.

Denn was wir tun, ist nur an der äußersten Oberfläche dasselbe wie damals; das Organisieren, Verschicken und Verteilen humanitärer Hilfe. Heute versorgen wir Wunden — notdürftig, weil nicht mehr mit den Mitteln eines Staates, sondern nur von einzelnen Menschen —, die der Staat, in dem wir leben müssen, zumindest mit geschlagen hat. Wir absolvieren oft eine Art Hindernislauf, weil die wirtschaftliche Kriegsführung, auch Sanktionen genannt, es absichtlich ungeheuer erschwert, den Opfern selbst minimale Unterstützung zu gewähren.

Das gilt für Syrien, das gilt für den Jemen und ebenfalls für den Donbass. Da wird beispielsweise das Vereinskonto gesperrt, weil damit die Rechnung einer weißrussischen Spedition bezahlt wird, die Hilfsgüter in den Donbass fährt. Da müssen Güter über Umwege transportiert werden, weil unsere eigene Regierung das Elend der Menschen in der Zielregion verstärkt, nicht lindert.

Permanenter Krieg

Wir erleben gelegentlich direkt den permanenten Krieg, in den die Welt seit damals geraten ist, wenn wir bei der Verteilung von Hilfsgütern in den Keller rennen müssen, weil gerade mal wieder ein Wohnviertel oder eine Schule beschossen wird, wie es im Donbass Alltag ist. Wir sehen die Mühsal des Alltags unter dieser aufgezwungenen Not. Einer Not, die ebenso verschwiegen wie gefördert wird; weshalb die zweite Seite unserer Arbeit der beständige Kampf gegen dieses Schweigen ist, das gebrochen werden muss, um ein Ende dieses Kriegszustands herbeizuführen. Im Donbass zeigt sich auch, dass der Versuch, wieder einen Staat zu schaffen, der die Produktionsmittel besitzt, nicht unblutig verläuft und er mit allen Mitteln korrumpiert wird.

Damals, in unserer Kindheit in der DDR, als wir aus dem Geschichtsbuch von den Kämpfen der Kommunisten während der dunklen Jahre Deutschlands erfuhren, freuten wir uns, dank ihrer ein besseres Leben führen zu können. Das Jahr 1989 riss uns aus diesem Leben heraus. Und öffnete das Tor für den Faschismus, der im Donbass deutlich erkennbar auf der anderen Seite der Frontlinie steht. Aber es ist ja nicht so, als hätten wir hier Frieden.

Wenn man sich fragt, warum die Friedensbewegung gerade heute, da an allen Enden der Welt gezündelt wird, so schwach ist, muss man erkennen, dass der Abstand zwischen vermeintlich friedlichem Alltag und Krieg unermesslich geringer ist, als er damals war. Wenn wir uns damals womöglich fragten, wie sie konkret wahrgenommen werden kann, die Fäulnis des Imperialismus, so müssen wir heute nicht einmal mehr das Haus verlassen, um sie zu riechen und zu spüren.

Herrschaft der Angst

Die Gesellschaft der heutigen Bundesrepublik ist in einem Ausmaß von Angst, Verachtung und Perspektivlosigkeit geprägt, wie wir sie damals nicht einmal in Alpträumen erahnen konnten; die Bewohner der alten BRD übrigens auch nicht. Eine Angst, die beständig verstärkt werden muss, durch Gesetze wie Hartz IV, durch die völlige Missachtung jedes sozialen Problems, durch ständige öffentliche Erniedrigung der Besitzlosen und nicht zuletzt durch die Dämonisierung jedes Gedankens, der von der „wahren“ Linie abweicht.



Eine Angst, die jüngst anlässlich der Corona-Epidemie hervortrat, verschoben und verzerrt, wie fast jede politische Regung momentan, aber ausgelöst durch jenen Grundzustand, der inzwischen längst nicht nur abhängig Beschäftigte, sondern auch vermeintlich Selbständige prägt: immer nur ein Monatseinkommen von der Katastrophe entfernt zu leben.


Diese Katastrophe nennt sich Armut, Wohnungslosigkeit, Verlust des sozialen Umfelds, Verlust der Anerkennung, Scham, ein Ende der ökonomischen Perspektive. Nur ein Zehntel der Bevölkerung besitzt Reserven, um eine längere Durststrecke zu überstehen. Und nur sehr wenige gehören zu jener erlesenen Gruppe, die aus solchen Katastrophen Honig saugen kann; die Milliardäre, die Besitzer der Konzerne, schlicht die herrschende Klasse.

Horrorfilme beginnen regelmäßig mit scheinbar harmonischen Alltagsszenen, bei deren Betrachtung der Zuschauer sofort weiß, dass gleich das Grauen um die Ecke kommt, die Protagonisten der Szenen aber nicht. Das war vielleicht unsere größte Schwäche damals — wir waren uns des lauernden Ungeheuers nicht mehr wirklich bewusst und ähnelten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der ahnungslosen Familie beim Geburtstagsfest oder den Jugendlichen auf einem Ausflug, über die plötzlich das Unheil hereinbrechen wird. Die Betrachter von Horrorfilmen ziehen ihr Vergnügen daraus, mehr von diesem Schrecken zu wissen und dennoch vor ihm sicher zu sein.

Alltägliches Elend

Im Moment des Anschlusses verhielten sich viele Westbürger so, als säßen sie in einem Horrorfilm mit uns als Protagonisten; wartet nur, das Monster wird euch gleich die Haut abziehen, wir wissen das, ihr nicht, das wird ein Spaß ... Letztlich aber waren es dann unser aller Häute, die abgezogen wurden; das lässt sich daran erkennen, mit welcher Vorsicht inzwischen die Wirklichkeit berührt wird, weil die Nerven blank liegen.

Soviel Kraft wird heute dafür vergeudet, diese Angst nicht an die Oberfläche kommen zu lassen. Da ist das Nichts, in das ich jederzeit stürzen kann. Ich gehe zu Bett mit Furcht vor dem morgigen Tag. Ich erwache mit Furcht vor dem, was der Tag bringt, und es ist keine Erleichterung, ihn abends überstanden zu haben, weil der nächste Tag nicht besser sein wird.

Solange dieses alltägliche Elend als individuelles Schicksal erlebt wird, nicht als Klassenschicksal, nicht als Veränderliches, hängt das tägliche Funktionieren davon ab, diese Furcht zu verdrängen; mit aller Mühe so zu tun, als wäre alles gut, das Nichts nur für jene bestimmt, die es verdient haben; den Teppich über den Blutfleck zu ziehen und das Abendessen aufzutragen.

Nein, es ist kein Wunder, dass der ultimative Schrecken, der Krieg, nicht einmal mehr wahrgenommen wird in diesem Land der verdrängten Angst; er kriecht aus derselben finsteren Ecke hervor, in der all die anderen Dinge lauern, die man fürchten muss und doch nicht sehen und benennen darf; Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Armut, Einsamkeit, Verzweiflung ...

Verlorene Zukunft

Wie viel freundlicher ist doch der Mensch, wenn er frei von dieser Furcht ist. In welchem Überfluss an Menschlichkeit konnten wir damals leben. „Aber das menschliche Wesen,“ schrieb Marx in seinen Feuerbach-Thesen, „ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Es ist kein Wunder, dass Horrorfilme ein Genre sind, das uns damals fremd war. Ebenso, wie es kein Wunder ist, dass in heutigen Horrorfilmen das Ungeheuer nicht mehr besiegt wird.



Von der wirklichen, menschlichen Zukunft, die wir im Blick hatten, führte der Weg über Kohls blühende Landschaften, aus denen die Menschen bereits gestrichen waren, hin zu der Welt der lebenden Toten, die heute ihre Stelle einnehmen.


Das Denken der westlichen Welt wird mit Dystopien geflutet, als gäbe es kein Morgen, und da das herrschende Denken das Denken der Herrschenden ist, gibt es auch keines.


In der fundamentalen Krise, jenem ökonomischen Sturm, der unter der Deckung von Corona wieder hervor trat, wird bereits die bürgerliche Aufklärung geopfert. Wo einst die antretende Klasse die Erkenntnis an die Stelle der Moral setzte, das Wissen an die Stelle des Glaubens, wünscht sich die abtretende Klasse wieder Moral an Stelle der Erkenntnis. Geschichtliche Bedingtheit des Menschen, die Dialektik zwischen den materiellen Verhältnissen und den Gedanken, ja, selbst die Geschichte des Ringens um Erkenntnis werden ausgelöscht, aus den Büchern getilgt, von den Sockeln gestoßen, weil die bürgerliche Ideologie der Gegenwart mit der Aura der unveränderlichen Offenbarung versehen werden soll, ein Taschenspielertrick, der davon ablenkt, dass sie geworden ist und vergehen kann und dass sie den einen nutzt und den anderen schadet.

Denn der Wahn einer ahistorischen Moral löscht immer beide Seiten aus. Indem „Vom Winde verweht“ von den Webservern genommen wurde, über die junge Leute heute Filme konsumieren, verschwand auch der Film, für den die erste schwarze Darstellerin einen Oscar enthielt. Man irrt sich, wenn man die augenblickliche Mode der Denkmalschändung für fortschrittlich hält, selbst wenn sie sich mal nicht gegen unsere Monumente, sondern gegen Statuen von Sklavenhaltern richtet — geschichtliche Widersprüche kann man nur verbergen, indem man die Erinnerung an beide Seiten zerstört, eben mit der Erinnerung an die Sklaverei auch jene an die Befreiung.

Das Ziel ist die Fantasie einer Gesellschaft, die nach wie vor von schärfsten gesellschaftlichen Widersprüchen zerrissen ist, aber den Widerspruch an sich nicht mehr denken darf oder kann. Wie sehr sehnt sich mancher nach der Zeit ruhiger Überlegung zurück, wenn er die irrationalen Schübe betrachten muss, die die deutsche Gesellschaft heute durchlebt.

Deutliches Zeichen

Wie heilsam wäre es, einen Menschen wieder in seiner ganzen Widersprüchlichkeit wahrnehmen zu dürfen, statt Etiketten mit „gut“ und „böse“ zu verteilen und je nachdem ins Töpfchen oder ins Kröpfchen zu sortieren. Denn es ist ganz gleich, wie viele Geschlechter man noch erfindet 72 oder 144, der konkrete Mensch würde immer noch nicht, selbst bei stärkstem eigenem Bemühen, in eine der vielen Schubladen passen, sein ganzes Leben lang und unter allen Umständen. Er oder sie ist immer ein sowohl als auch, ist einmal das eine und dann wieder das andere, der eine in der Jugend, der andere im höheren Alter; eben wandelbar, widersprüchlich und gerade deshalb fähig, zu lernen und zu erkennen.


Das ist aber die Natur all der Dinge, die wir früher Nebenwidersprüche genannt haben. Sobald der Hauptwiderspruch aus dem Blick gerät und seine Existenz geleugnet wird, können sie nur noch zum Schein gelöst werden. Da nicht mehr die Rede sein darf von den Krupps, den Klattens und den Krauses, bleibt auch bezogen etwa auf die Lage der Frauen nur die Kombination aus Gendersternchen und einem Schweigegebot aller konkreten Daten, die belegen, dass sich weder in Bezug auf den Lohnabstand noch in Bezug auf die Lage Alleinerziehender irgendetwas gebessert hat.

Das Gegenteil ist der Fall. Jeder großmäulig gepriesene Frauenförderplan erbleicht vor Scham angesichts dessen, was in der DDR schon 1952 vorgegeben wurde. Es gibt eine statistische Zahl, die im Grunde alles sagt, was über 1989 und danach zu sagen wäre. Seit es möglich ist, ungewollte Schwangerschaften zu verhüten, gibt die Geburtenrate deutlich wieder, wie zuversichtlich die Menschen, insbesondere die Frauen, die Zukunft sehen.

Nichts belegt deutlicher als der Rückgang der Geburten, dass sich damals eine Katastrophe ereignete, und nichts widerlegt alles Geschwurbel über „das Land, in dem wir gut und gerne leben“ klarer als ihr fortgesetzter Tiefstand. Wer Angst vor dem Morgen hat, bekommt keine Kinder.

Aufgeblasener Popanz

Aber laut der Erzählung, die täglich über die Bildschirme flackert, haben wir alle in Angst gelebt. Angst vor dem hinter jeder Mauer lauerndem Ungeheuer Stasi, das auf jede unserer Regungen lauschte und uns bei einem Fehltritt mit Haut und Haar verschlungen hätte. Es wird mit Sicherheit in Zukunft noch größer aufgeblasen, in noch düsteren Farben gemalt werden. Und kein vernünftiges Argument wird daran etwas ändern. Warum? Weil es bei diesem Drama nicht um die Vergangenheit geht, sondern um die Gegenwart. In einer Gesellschaft, die von Angst durchtränkt ist wie ein vollgesogener Schwamm, darf es keine Erinnerung an eine Gesellschaft ohne diese Angst geben.

Dass hier ein Popanz aufgeblasen wird, ist nicht schwer aufzuzeigen, denn schließlich umfassten die Funktionen des Ministeriums für Staatssicherheit nicht nur jene des Bundesnachrichtendienstes (BND), dessen monströser Bau allein schon genügen müsste, die Dimensionen klarzustellen; nein, auch jene der siebzehn Verfassungsschutzbehörden, diverser Staatsanwaltschaften, der Sicherheitsabteilungen der Konzerne zur Abwehr von Wirtschaftsspionage und der Meinungsforschungsinstitute.

Die Liste ist noch längst nicht vollständig, und doch würde man ganz Berlin-Lichtenberg brauchen, all das unterzubringen. Dennoch nützt dieses Argument nichts, es wird nicht durchdringen, so lange diese Bundesrepublik weiter besteht. Schlimmer noch, je tiefer die aktuelle Misere, desto Furcht erregender wird alles gemalt werden, das mit unserer Gesellschaft, also wirklich unserer, zu tun hat. Denn alles deutet darauf hin, dass der Kapitalismus keinen Ausweg mehr findet; warum sonst sollte er Verzicht predigen und seine eigenen Errungenschaften liquidieren?

Neue Gräben

Die ganz realen Ängste werden stärker, weil die ökonomischen Widersprüche schärfer werden. Um zu verhindern, dass die realen Quellen dieser Ängste ins Bewusstsein treten oder gar beginnen, das Handeln zu bestimmen, müssen immer neue fiktive Ängste geschaffen werden. Die Erkenntnis der gemeinsamen Lage muss durch immer neue Gräben zwischen den Menschen gleicher Lage verhindert werden, die mit Hilfe der Moral gezogen werden. Die Vorstellung geistiger Ansteckung, die geradezu zelebriert wird, könnte unmittelbar dem Hexenhammer entstammen, der frühneuzeitlichen Anleitung für Inquisitionsprozesse: Wer Umgang mit jemanden hatte, der Umgang mit dem Teufel hatte, ist selbst des Teufels.


Die Verfallserscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft sind also auch nur Variationen eines Themas, das als Rechtfertigung diente, in der untergehenden Sklavenhaltergesellschaft die antiken Tempel niederzureißen und in der Endphase des Feudalismus die Scheiterhaufen zu entflammen.

An diesem Punkt irrte Goethe — der Augenblick soll nicht im Moment des höchsten Glücks verweilen, sondern dann, wenn der Untergang vor der Tür steht. Das ist der Zeitpunkt, an dem versucht wird, die Geschichte auszulöschen. Nichts davon kann die Tatsache ändern, dass wir die Saat der Zukunft in den Händen hielten. Wir wissen, wie sie aussieht, wir wissen, wie sie zu pflanzen ist, wie sie gedeiht.

Mehr Simulation als Wirklichkeit

Ja, vieles was mühsam errungen wurde, wurde in den letzten 30 Jahren zerstört. Das betrifft nicht nur das Gebiet der DDR, sondern auch das der BRD. Nicht nur jede soziale Errungenschaft wurde geschleift. Der Stand der politischen Debatte ist ebenso erbärmlich wie der der politischen Bildung; Wissenschaft und Kultur sind inzwischen völlig den Kapitalinteressen untergeordnet und durch und durch käuflich. Auch das trägt zur augenblicklichen Verwirrung bei. Es ist nur schwer möglich, politisch sinnvoll zu handeln.

Ganze Organisationen werden verdreht oder zerstört; wer sich nicht unterwirft, wird kaltgestellt oder hinausgedrängt — allein die Linkspartei liefert da dutzende Beispiele. Die politische Landschaft der alten Bundesrepublik war bereits eine vor allem mit US-amerikanischer Hilfe gestaltete Theaterkulisse mit gekauften Akteuren, die als erstes eine massive Verfolgung der Kommunisten benötigte, um sich real zu etablieren. Die politische Landschaft heute ist längst mehr Simulation als Wirklichkeit, die wahren Interessen der breiten Massen sind vollkommen abwesend und werden nicht einmal mehr erwähnt. Aber dieser Zustand kann auf Dauer nicht bestehen. Ganz gleich, wie viele Nebelkerzen noch geworfen, wie viele künstliche Dramen bis an die Grenze des Bürgerkrieges inszeniert werden, die nüchterne ökonomische Realität setzt sich durch.

Vierzig Jahre lang war der deutsche Imperialismus an die Kandare gelegt; inzwischen spielt er längst wieder Vabanque, will noch auf den Wellen einer Pandemie weiter auf den Gipfel europäischer Dominanz gelangen, die Konkurrenten auf dem Kontinent nicht nur zur Ader lassen, sondern endgültig ausbluten. Es wird diesem Versuch nicht anders ergehen als den beiden davor. Und dann?

Dann steht womöglich kein Hegemon bereit, der die schützende Hand über die Hasardeure hält, und es werden sich die ursprünglichen Interessen der einfachen Leute wieder Raum verschaffen. So schwer es momentan auch scheint, das vorhandene Wissen weiterzugeben beziehungsweise zu erhalten — man sollte niemals unterschätzen, wie gut sich selbst mit Bruchstücken davon etwas Neues errichten ließe.

Notwendige Arbeit

Das Strafgesetzbuch der DDR alleine wäre schon ein guter Grundstein für den neuen Bau. Hier, im Herzen der Finsternis, sehen wir, wie andernorts die Widersprüche aufbrechen und sichtbarer werden. Nicht unser Glied der Kette ist das schwächste, es muss nicht verwundern, wenn wir das erste Rumoren als Zuschauer erleben. Aber niemand kann wirklich die Kräfte der Geschichte zum Verschwinden bringen, nicht die finsteren, und schon gar nicht die hellen Seiten.


Das Kapital mag sich Stillstand wünschen, aber wir wissen, was schon Engels schrieb: „dass Revolutionen nicht absichtlich und willkürlich gemacht werden, sondern dass sie überall und zu jeder Zeit die notwendige Folge von Umständen waren, welche von dem Willen und der Leitung einzelner Parteien und ganzer Klassen durchaus unabhängig sind.“


Das, was wir mit humanitärer Arbeit erreichen können, ist nicht mehr als eine Erinnerung an eine menschlichere Existenz. Wir leisten sie im Wissen um das Verlorene ebenso wie im Wissen um das Zukünftige; um ein wenig von der Ehre unseres Volkes zu bewahren, aber auch um uns selbst vor diesen geistlosen Zuständen zu schützen.


Die wirkliche Aufgabe lautet nach wie vor, die imperialistischen Kriege ein für alle Mal zu beenden. So wie Vergangenheit und Zukunft, Notwendigkeit und Hoffnung bei unserem Gedenken ineinander verwoben sind, gibt es nur einen Satz als mögliches Fazit:

Seid bereit!