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TRÜBE GEDANKEN
Beruhigender Selbstbetrug
Angesichts alltäglicher Bedrohungserfahrungen lassen sich viele Menschen immer absurdere und realitätsfernere »Welterklärungen« einleuchten: Irrationalismus als Überlebensprinzip
Von Werner Seppmann
Ungewissheit und
Perspektivlosigkeit sind zur Epochensignatur geworden. Verunsichert
sind vor allem jene, die etwas zu verlieren haben. Zwar haben haben
sie es irgendwie »geschafft«, haben sich beruflich etablieren und
in ihren Kleinbürgerverhältnissen einrichten können. Aber gerade
dieser »mittlere Mann« (Ernst Bloch) ist besorgt, den erreichten
Status nicht mehr lange halten zu können. Auch in ehemals
gesicherten Gesellschaftsbereichen »sind die Druckwellen zu spüren,
die von den Rändern herrühren. Fast jeder hat in seinem Freundes-
und Bekanntenkreis Menschen mit prekären Jobs oder Personen, die
soziale Rückschritte erleiden mussten«.¹
Besonders
irritierend wirkt, dass Erfahrungen aus der Vergangenheit keinen
Orientierungswert mehr besitzen. Es ist zwar nach wie vor richtig,
dass ohne eine gute Ausbildung die beruflichen Chancen gering sind,
aber viele erfahren trotz Qualifikationen und einschlägigen
Zertifikaten lebensgeschichtliche Unwägbarkeiten, die in den letzten
Dekaden merklich zugenommen haben und einen Schatten über alle
Aspekte der Lebensgestaltung werfen. Man hat die permanente
Leistungssteigerung als Motivationsprinzip zwar verinnerlicht, aber
»Leistung garantiert noch keinen Erfolg«.²
Die Besorgten
haben den Eindruck, des erkämpften Status nicht wirklich sicher sein
zu können, denn auf der erreichten Sprosse der sozialen Stufenleiter
ist es eng und die Drängelei der Nachfolgenden immer heftiger
geworden. Nicht nur die Statistiken zeigen es, sondern auch die
Alltagserfahrungen lassen befürchten, dass eine Konsolidierung der
gesellschaftlichen Position weniger wahrscheinlich ist als ein
Abstieg. Eine verunsichernde und letztlich auch psychisch
destabilisierende Wirkung hat der zu diesen Erfahrungen vermittelte
Eindruck einer weitgehenden Unkontrollierbarkeit des weiteren
Lebensweges. Durch die Coronapandemie ist die Situation noch
drückender geworden. Die Ansteckungswelle erscheint zwar als
kollektives Schicksal, provoziert aber Sorgen (vorrangig um den
Arbeitsplatz), mit denen jeder selbst fertigwerden muss.
Es
verstärken sich Befürchtungen, die schon lange existieren, nun aber
in neuer Intensität eine Rolle spielen, weil konkret geworden ist,
was sich seit den ersten ökonomischen Krisensymptomen im vergangenen
Jahr abgezeichnet hat und mit beschwörenden Formeln über eine
baldige wirtschaftliche »Wiederbelebung« zu relativieren versucht
wurde. Die mit den damaligen Prognosen geweckten Hoffnungen haben
sich mit der Coronaausbreitung endgültig erledigt. Aber das
kommt für den herrschenden Block nicht ganz ungelegen: Die
»konjunkturellen Probleme« können nun umstandslos mit
»systementlastender« Wirkung auf die Pandemie abgeschoben
werden.
Indizien für den Doppelcharakter der Krise, also die
Verschränkung konjunktureller »Schwächetendenzen« mit
seuchenbedingten Störungen der Wirtschaftskreisläufe, sind die
Bereitstellung beträchtlicher Finanzmittel für die ökonomischen
Akteure, aber auch die Verlängerung der Bezugsdauer des
Kurzarbeitergeldes, um die Beschäftigten zu beruhigen. Diese
»Nothilfe« ist jedoch kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den
heißen Stein, der wenig zur Dämpfung der allgemeinen Verunsicherung
beizutragen vermag, weil mit einem schnellen »Aufschwung« des
Wirtschaftslebens kaum gerechnet werden kann.
Es gehört zum
üblichen Verhalten von Krisenopfern, dass sie sich meistens still
und angepasst verhalten.³ Das gilt für viele, aber nicht für alle.
Eine kleinere Gruppe ist intensiv bemüht, sich psychisch durch die
Übernahme als geeignet erscheinender »Erklärungsmuster« zu
»beruhigen«. Meist sind es Surrogate mit einer geringen
Halbwertzeit: Lässt ihre psychische Beruhigungs- und intellektuelle
Betäubungswirkung nach, kann sich eine Spirale der Radikalisierung
in Gang setzen.
In seiner Haupttendenz handelt es sich bei
diesen Verarbeitungsvorgängen um den Versuch, belastende
Unsicherheitsgefühle durch ideologische Konstruktionen, die Halt
versprechen, zu kompensieren. Deshalb entwickelt sich in Krisenzeiten
verstärkt ein »Bedürfnis nach Weltanschauung« (Georg Lukàcs),
eine Suche nach »Gewissheit« und »Überschaubarkeit«. Welche
inhaltlichen Konsequenzen dieses Bestreben hat, hängt von der
weltanschaulichen »Großwetterlage« und den ideologischen
Hegmonialverhältnissen ab.
Dass sich gegenwärtig ein
besonders intensives Bedürfnis nach schablonenhaften Erklärungen
bemerkbar macht, mag auch mit den Orientierungsverlusten
zusammenhängen, die durch eine Flut von »Informationen« verursacht
werden, die oberflächlich und beliebig sind. Dadurch kann die
Sehnsucht nach »plausiblen Erklärungen« und einer verbindlichen
Autorität noch zusätzlich stimuliert worden sein. Aber in der Regel
wird infolge des informationellen »Ausgeliefertseins« auch die
Bereitschaft erhöht, noch intensiver in den Weltanschauungssumpf
einzutauchen. Das Netz ist zwar voll von kritischem und verlässlichem
Wissen, jedoch verschlungen sind die Wege, die zu ihm führen. Bei
einer ziellosen Suche landet man leicht auf Ab- und Irrwegen.
Stunde
der Exekutive
Die Coronazeit ist die »Stunde der Exekutive«, in
der nicht nur administratives Formierungsbegehren, sondern auch eine
verbreitete Unterwerfungsbereitschaft deutlich wird. Entrüstung über
Übergriffe von »Ordnungskräften« und über die oft gravierende
Widersprüchlichkeit der »Maßnahmen« gab es nur selten. Auch dann
nicht, wenn in einigen Regionen Lesende im Stadtpark mit einer
empfindlichen Geldstrafe belegt werden konnten; strenggenommen für
das Buchlesen auf der Parkbank, denn die nicht lesenden Parkbesucher
blieben unbehelligt! Für eine Studie über autoritäre
Charakterstrukturen (die sich nach Meinung einiger Sozialpsychologen
verflüchtigt haben) dürfte die Gegenwart mit ihrer herrschenden
Unterwerfungsatmosphäre aufschlussreiches Material liefern.
Es
existiert in der Bevölkerung ein weitgehendes Einvernehmen mit den
staatlichen Maßnahmen. Mehr als 60 Prozent finden sie der
Problemlage angemessen und weitere 20 Prozent treten sogar für eine
härtere Gangart ein. Während die intellektuellen Mietköpfe und
professionellen Sonntagredner von einem »neuen Gemeinschaftsgefühl«
schwätzen, ist im Alltag der Ton rauher geworden und bricht sich ein
Bestreben nach Distanz Bahn: »Maske aufsetzen!«
Nur von
einer Minderheit werden die offiziellen Maßnahmen mit oft
autoritativer Tendenz hinterfragt. Aus dieser Gruppe der Skeptiker
mit sehr unterschiedlichen Positionen und politischen Präferenzen
rekrutieren sich auch die Teilnehmer an den Coronademonstrationen:
»In Berlin waren nicht nur Vertreter der extremen Ränder auf der
Straße, Verschwörungsideologen und Diktatur-Rufer, sondern auch
Menschen aus der Mitte der Gesellschaft.«⁴ Irrationalistische
Einstellungen und demokratische Geltungsansprüche präsentieren sich
dabei in vielfältiger Gestalt, aber im medialen Rampenlicht standen
die rechten Kritiker der Coronamaßnahmen, die dazu herhalten
mussten, jegliche Kritik am politischen Umgang mit der Seuche zu
diskreditieren.
Dass die politische Rechte in den
coronabedingten Irritationen eine Chance sieht, um ihr »eigenes
Süppchen« zu kochen, dürfte nicht überraschen. Zumindest
oberflächlich konnte sie auch den (wohl unzutreffenden) Eindruck
erwecken, unter den Demonstranten einen maßgeblichen Block zu
stellen. Das dürfte ihr durch den Einsatz ihrer symbolischen
Hilfsmittel (im einfachsten Fall mit der Reichskriegsflagge vor dem
Reichstag) auch unproblematisch gelungen sein, hat aber
möglicherweise das Bild verzerrt.
Denn auch wenn rechte
Demagogen und Aktivisten bei den Demonstrationen besonders »sichtbar«
waren, haben sie nicht automatisch eine hegemoniale Bedeutung gehabt.
Von den gegenwärtigen Verunsicherungen scheinen sie politisch (noch)
nicht in einem relevanten Umfang profitieren zu können, obwohl
Menschen in Situationen sozialer Verunsicherung und
lebensgeschichtlicher Perspektivlosigkeit ihre Klientel sind, da sie
ein nachdrückliches Orientierungsbedürfnis haben, das
rechts-ideologisch befriedigt werden kann.
Da über ein
kritisches Wissen, selbst über ein rudimentäres Verständnis
gesellschaftlicher Zusammenhänge in dieser »Wissensgesellschaft«
nur noch wenige verfügen und die Aneignung verlässlicher
Erklärungen ein voraussetzungsvoller Prozess ist, der Ausdauer und
Nachdrücklichkeit erfordert, haben simplifizierende Erklärungen
beste Chancen, akzeptiert zu werden. Dies vor allem, weil sie an
verbreitete Selbsttäuschungen und ein fetischisiertes
Alltagsbewusstsein anknüpfen können, die durch die
marktgesellschaftliche Lebenspraxis erzeugt und am Leben gehalten
werden.⁵
Um beispielsweise die gesellschaftlichen Ursachen
von Arbeitslosigkeit zu begreifen oder um zu verstehen, weshalb auch
in Phasen ökonomischer Prosperität die gesellschaftlichen
Armutszonen sich ausbreiten, sind anspruchsvolle
Verarbeitungsprozesse nötig. Aber kaum eine politisch relevante
Organisation bemüht sich noch in einer dem Problem angemessenen
Weise, das zu leisten, was in traditionellen sozialistischen
Organisationen einmal als »Schulung« bezeichnet wurde. Im Kern der
Sache ging es um die Erarbeitung eines Wissens über den Zusammenhang
von Ausbeutungsstrukturen und individuellen Bedrängungserfahrungen.
Ohne ein solches Bemühen erscheint die Wirklichkeit nicht nur als
bedrohlich, sondern in ihrer krisenhaften Verfasstheit auch
unveränderbar.
Im Gegensatz zum Anspruch linker Bildungs- und
Weltbildarbeit, den gesellschaftlichen Widerspruchsentwicklungen auf
den Grund zu gehen, haben rechte und irrationalistisch geprägte
Gruppierungen es wesentlich leichter, ihre identitätsstiftenden
Weltbildmuster zu vermitteln. Denn ihre Ideologiearbeit ist nicht
voraussetzungslos: Sie können an alltägliche Selbsttäuschungen und
ein ganzes Netz ideologischer Desorientierungen anknüpfen. Mit einem
Wort: Sie können unproblematisch mit demagogischen Pseudoerklärungen
arbeiten, die aus der kapitalistischen Lebenspraxis
resultieren.⁶
Flucht
in den Irrationalismus
Psychisch und mental angeschlagene, in ihrer
Identitätsstruktur bedrohte Menschen gewinnen durch die Flucht in
irrationalistische »Welterklärungen« einen, wenn auch fragilen
Orientierungshorizont; sie erhalten den Eindruck, in einer sonst als
unverständlich erlebten Sozialwelt die Gründe für die
Destabilisierung ihrer sozialen Position »begriffen« zu haben. Die
Überlagerung von Bedrohungserfahrungen mit einer regressiven
Weltanschauung lässt die eigene Lebenssituation, die sich objektiv
nicht verändert hat, zumindest vorübergehend erträglicher
werden.
Soll der Beruhigungspegel aufrechterhalten werden,
müssen immer absurdere und realitätsfernere »Welterklärungen«
akzeptiert werden. Das führt automatisch zu radikaleren
Einstellungen, die Hass auch gegenüber denen stimulieren, die
irrationale Positionen in Frage stellen, also als Störfaktoren bei
der Selbststabilisierungsarbeit wahrgenommen werden. Zur Dynamik der
Radikalisierung gehört, dass solcher Hass dem Leben des Bedrängten
»endlich wieder eine Bedeutung, einen tieferen Sinn und eine klare,
selbstgewissere Orientierung des eigenen Weges« gibt.⁷
Dieser
Hass als Ausdruck einer Selbstradikalisierung spielt somit eine
zentrale Rolle bei der Restabilisierung eines angegriffenen
Selbstwertgefühls und bei der Kompensation beschädigter
Selbstachtung, ist ein Moment im Modus der Selbstermächtigung.⁸
Die Aggressivität, die sich auf dem Weg der Selbstradikalisierung
entwickelt, ist im psychoanalytischen Verständnis ein
Umleitungseffekt selbstdestruktiver Tendenzen, hervorgerufen von
Lebensbedingungen, die keine Zuversicht und keinen Zielhorizont mehr
vermitteln. Es gehört zur Besonderheit dieses Hasses, dass er seine
kompensatorische Wirkung entfalten kann, auch wenn er noch nicht
zielgerichtet, noch auf kein Objekt bezogen ist. Er ist zunächst
ebenso dumpf wie orientierungslos.⁹ Aber er verstärkt sich, wenn
Ziele »identifiziert« sind, denn nur dann entfaltet sich seine
volle psychische Entlastungswirkung.
Diese psychischen
Verarbeitungsvorgänge verlaufen relativ reibungslos, weil die
Schablonen des Irrationalismus, auch wenn sie real nichts erklären,
dankbar angenommen werden. Mit ihrer Hilfe kann das verunsicherte
Subjekt sich von den Bedrohungen ein Bild machen, um seine
Handlungsfähigkeit aufrechterhalten zu können. Denn »will der
Mensch sein Leben sinnvoll gestalten, braucht er ›Wahrheit‹ von
sich und der Welt; ein Bild, das ihm erlaubt, wenigstens zu glauben,
dass er sich auf den richten Weg befindet«.¹⁰ Selbst wenn die
Orientierungsmuster grundfalsch sind, es sich um reine
Phantasiegebilde handelt, können sie gerade in Krisenzeiten eine
stabilisierende Funktion haben: Sie geben dem orientierungslosen Ich
wieder Halt und vermitteln die Illusion von Sicherheit.
Dass
sich die Verunsicherten mit vordergründigen Erklärungsmustern
zufriedengeben, hängt mit den hohen Barrieren zusammen, die eine
Selbstverständigung verhindern und die von der herrschenden
Alltagspraxis erzeugt werden: Der unmittelbare Lebenszusammenhang
wird als undurchschaubar und von diffusen Einflussfaktoren beherrscht
erfahren, herrschende Macht zwar wahrgenommen, aber als
»alternativlos« erlebt. Je verwirrender und rätselhafter jedoch
das gesellschaftliche Geschehen erscheint, um so mehr erscheinen auch
die auf dieser Grundlage sich entwickelnden »alternativen«
Sozialbilder als Fetisch.
Fehlen den Alltagssubjekten
angemessene Orientierungsschablonen und »Interpretationsmuster«,
wird es für sie schwierig, ihre Wahrnehmungen rational zu
verarbeiten und adäquate Begriffe zu bilden, mit denen sie ihre
Widerspruchserfahrungen beschreiben könnten. Das bedrängte Subjekt
reagiert deshalb oft »kopflos« und in gewissem Maße »infantil«
auf die Zumutungen, denen es permanent ausgesetzt
ist.
Undurchschaute
Lebensverhältnisse
Der selbstrepressive Charakter vorherrschender
Verarbeitungsformen von Bedrängungserfahrungen ist eine der
Ursachen, dass Krisen den Betroffen nicht (oder nur partiell) die
Augen öffnen.¹¹ Zwar geht »dem Denken das Leiden voraus«, wie
Ludwig Feuerbach es einmal formuliert hat. Aber nicht jedes Leid
provoziert auch produktives Denken. Am allerwenigsten ist das der
Fall, wenn die Not besonders groß ist, eine krisenhafte Bedrängung
alle Sinne absorbiert und (ideologische und praktische) Anpassung
stimuliert.
Die »ökonomische Basis« wirkt sich zwar
durchaus auf die Entstehung solcher Bewusstseinsformen aus, jedoch in
vermittelter Weise: Auch im Krisenfalle ist das Ideelle, das im Kopfe
umgesetzte Materielle (wie Marx es formuliert hat) – nur: was
entsteht, ist nicht automatisch progressives Bewusstsein. Es ist
»kritisch« nur in einem unmittelbaren Sinne: Es äußert sich in
spontanen Formen der Verängstigung und Frustration – solange keine
progressiven, sondern nur stagnative und resignativ geprägte
Verarbeitungsmöglichkeiten existieren.¹²
Im Prinzip ist die
Dominanz rückwärtsgewandter Orientierungen auch Ausdruck fehlender
progressiver Bewegungen, die fähig sind, Frustrationen und
Bedrückungen aufzufangen. Die aber entstehen nicht spontan, sie
müssen konstituiert werden, sich entwickeln und ihre progressiven
Zielsetzungen plausibel vermitteln können.
Angst und
Resignation, panische Fluchtreaktionen und leichtfertige
Glaubensbereitschaft sind – wenn auch in unterschiedlichen
Abstufungen – von einem Komplex soziokultureller Vermittlungen,
biographischer Besonderheiten, von Machtverhältnissen und
Interessenorientierungen sowie dem Charakter der politischen
Auseinandersetzungen bedingt. Es handelt sich bei ihnen um psychische
und geistige Dispositionen, die auch als Einfallstor für
rechtsextreme Orientierungen dienen können.
Diese
krisengeprägten Reaktions- und Verarbeitungsformen sind Ausdruck
intellektueller und psychischer Rückbildungsprozesse auf das Niveau
vorrationaler Psycho- und Identitätsstrukturen, die als
»Schutzwelten« fungieren, wenn rationale Interpretationsmuster
blockiert sind und eine ungefilterte Realitätserfahrung unerträglich
zu werden droht.
Diese Artikulationsformen als Zeichen der
Entfremdung sind die auf der öffentlichen Bühne sichtbarsten
Indizien für die Existenz eines breiten Stromes irrationalistischer
Weltbilder und rückwärtsgewandter Orientierungen, die tief in der
Psyche klassengesellschaftlich sozialisierter Menschen verankert
sind. In ihren »gewöhnlichen« Alltagserscheinungen gehören
beispielsweise auch Esoterik und New-Age-Angebote dazu.
Solche
Formen des Irrationalismus sind in der bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaft weit verbreitet und tief verwurzelt, aber keinesfalls
ein vorrangiges »Unterschichten«-Phänomen, denn es ist zu einem
großen Teil »die urbane Bildungselite, die sich von der Realität
verabschiedet hat«.¹³
Der
Geist geistloser Zustände
Die Propagandisten von Religionsersatz haben ein
relativ leichtes Spiel, weil das gesellschaftliche Klima ihnen
zuarbeitet: Astrologie und Okkultismus haben ihre Wurzel in den
gleichen Entfremdungsverhältnissen wie Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus: Weil man orientierungslos
ist, existiert die Bereitschaft, zu »Sinn«-Surrogaten zu
greifen.
Zu ihnen gehören auch die verbreiteten esoterischen
Moden, die Selbsterfahrung, Selbstvergewisserung und emotionalen Halt
in einer aus den Fugen geratenen Welt versprechen. Immer öfter wird
psychische »Selbstoptimierung« angestrebt, um den Anforderungen
eines Alltags genügen zu können, der durch beruflichen
Bewährungsdruck und unsichere Lebensperspektiven geprägt ist. Mit
großer Geschwindigkeit haben sich durch dieses Verlangen nach
»Sinn-Ressourcen« auch Wunderglauben und mythische Ursprungskulte
ausgebreitet. Entsprechende Publikationen haben große Zuwachsraten,
und die Spiritualismusbranche bildet ein einträgliches
Betätigungsfeld, denn 50 Prozent der Deutschen glauben an
außerirdische Wesen, 20 Prozent halten Kontakte mit dem Jenseits für
möglich, 23 Prozent sind überzeugt, dass sie früher schon einmal
gelebt hätten, und jeder siebte glaubt an Magie und Hexerei. Dieser
esoterische Untergrund ist die »andere Seite« einer
gesellschaftlichen Gemengelage von instrumentellem Denken und der
Dominanz einer verzehrenden Marktradikalität.
Wer sich
umfassend über dieses ausufernde Segment der »Wissensgesellschaft«
informieren will, wer »Erlebnisse mit Engeln« oder »Kontakte mit
Verstorbenen« sucht, etwas über »Heilarbeit durch
Energieübertragungen« erfahren will, muss sich auf den Weg zu den
Esoteriktagen machen, die in vielen Städten regelmäßig organisiert
werden und neuerdings auch unter den Namen »Wohlfühlmesse«
firmieren. Er lernt dann unter anderem, was »feinstoffliche
Virenscanner« sind, die von Schwermut und Ängsten zu befreien
versprechen. Man kann, so ein weiteres Angebot, seinen »individuellen
Weg zu den Engeln« finden, sich »spirituell beraten« lassen oder
gleich die »Matrix-Dimension« erleben. Denjenigen, die dann noch
nicht das sie Ansprechende gefunden haben, wird Hilfe angeboten, den
»Weg durch die eigene Seelenlandschaft« zu finden; er kann durch
»Tierkommunikation« (mit seinen verblichenen Lieblingen) sein
Bewusstsein zu erweitern versuchen, aber auch Hilfe bei einem
»Reinkarnationstherapeuthen« oder einer Astrologin finden. So durch
die eine oder andere »Handreichung« gerüstet, ist der Besucher
dann für die »schamanische Heilreise«, für »Rückführungen«,
die »Einblicke in frühere Zeiten« ermöglichen, und für
»Kontaktaufnahmen mit dem Jenseits« in die richtige Stimmung
versetzt und »spirituell« vorbereitet.¹⁴
An dem, was dem
Geiste genügt, ist die Größe seines Verlustes zu erkennen, hat
Hegel einmal über Zustände mentaler Verwirrung gesagt.
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