Sonntag, 31. März 2019

Anmerkungen zu unerfüllten Versprechen - Helmut Schnug



Versprechen nicht erfüllt
Zur wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands seit Herbst 1989

von Axel Troost und Klaus Steinitz / RLS Analyse Nr. 48

VORBEMERKUNG [1]

Die Herstellung der deutschen Einheit durch die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 und der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 setzten in den neuen Ländern einen Adaptions- und Transformationsprozess in Gang, der alle gesellschaftlichen Bereiche, die Arbeit und das Leben der Menschen erfasste und sich über mehrere Generationen erstreckte. In den alten Ländern dagegen stellt sich die deutsche Vereinigung vor allem als Inkorporations- und Integrationsprozess dar, der zudem durch die Entwicklung der EU überlagert wird, insbesondere durch die Krisen, welche die europäische Integration und die Globalisierung in den letzten zehn Jahren begleitet haben, sowie die Herausforderungen, die sich aus der größeren Rolle Deutschlands in Europa ergeben.

Insofern ist die Wahrnehmung der Vereinigungsproblematik in Ost und West grundverschieden, ebenso der Rückblick der Menschen auf die DDR und die frühere BRD. Dies zeigt sich in Differenzen bei der historischen Bewertung der deutschen Zweistaatlichkeit, aber auch in den von Missverständnissen, Verfälschungen und Fehlwahrnehmungen geprägten Debatten um den Solidaritätszuschlag, den Solidarpakt, die Transferzahlungen, den Aufbau Ost, die Staatsverschuldung und anderes mehr. Die kontrovers verlaufende Diskussion ist bis heute nicht abgeschlossen.

[1] Die vorliegende Analyse der Prozesse, Zusammenhänge, Widersprüche und bisherigen Ergebnisse der Vereinigung Deutschlands, vom Herbst 1989 bis heute, stützt sich in einigen Teilen auf das letzte zusammenfassende Kapitel zur ostdeutschen Entwicklung im «Memorandum 2015» der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Für die vorliegende Ausarbeitung wurde die umfassende Literatur zur ostdeutschen Entwicklung und zu den Problemen der deutschen Vereinigung ausgewertet (vgl. Literaturverzeichnis im Anhang).

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . 2

1 Konvergenz und Divergenz . . . . . 3

2 Die widersprüchliche wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands vom Herbst 1989 bis heute . . . . . 5

3 Exkurs zu Problemen der Landwirtschaft und der ländlichen Räume . . . . . 14

4 Vergleich der Entwicklung Ostdeutschlands nach der Vereinigung mit der Transformation anderer ehemaliger staatssozialistischer Länder Osteuropas . . . . . 17

5 Funktion und Wirksamkeit der Treuhandanstalt . . . . . 18

6 Demografische Veränderungen in Ostdeutschland . . . . . 20

7 Fast drei Jahrzehnte vereinigtes Deutschland – Verfassungsziel gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht erreicht . . . . . 22

8 Perspektiven für die weitere Entwicklung in Ostdeutschland . . . . . 27

Literatur . . . . . 34

1 KONVERGENZ UND DIVERGENZ

Lange Zeit bestimmten die wirtschaftliche Misere in den neuen Bundesländern sowie die Erfolge und Defizite, Gewinne und Kosten des Zusammenwachsens beider Landesteile den Vereinigungsdiskurs. Eine zentrale Rolle spielten dabei die anfangs getroffenen wirtschaftspolitischen Entscheidungen, die Wirkungen der überstürzten Währungsunion, die fatalen Konsequenzen der Treuhandpolitik für die ostdeutsche Industrie, die Zerstörung der Forschungslandschaft und anderes mehr, wodurch im Osten eine «Vereinigungskrise», im Westen der Republik dagegen ein «Vereinigungs-Boom» ausgelöst wurde.

In der Folge erregten vor allem die hohe Arbeitslosigkeit und der nicht enden wollende Ost-West-Exodus großer Bevölkerungsteile, die Fortschritte bei der Lohnangleichung und beim Konsum in den neuen Ländern bei gleichzeitiger Stagnation der Reallöhne im Westen das öffentliche Interesse. [Anm. H.S.: Reallöhne im Westen haben nicht stagniert, Reallohnverlust kann man doch nicht wegleugnen!] 

Mit der Entfaltung der transfergestützten und staatlich subventionierten wirtschaftlichen Dynamik schien der Absturz der ostdeutschen Wirtschaft in den Jahren 1990/91 überwunden und der Osten auf den richtigen Weg gebracht. Aber der Aufschwung erlahmte bereits Mitte der 1990er Jahre und kam gegen Ende des Jahrzehnts, ohne dass das Konvergenzziel erreicht wurde, weitgehend zum Erliegen. Seitdem sind bei der Angleichung an das Westniveau auf den meisten Gebieten nur noch geringe Fortschritte zu verzeichnen. Weder gibt es im Osten (außer Berlin und in Ansätzen Leipzig) eine Metropolenregion noch große, überregionale Wirtschaftscluster, eine nennenswerte Anzahl von Großbetrieben oder Konzernzentralen (außer der Deutschen Bahn), die die Wertschöpfungsintensität fördern könnten. All dies ist – und bleibt auch künftig – im Altbundesgebiet konzentriert, woraus sich das anhaltende West-Ost-Gefälle im Produktivitäts-, Innovations-, Einkommens-, Vermögens- und Lebensniveau weitgehend erklärt.

Aber auch im Westen eskalieren die sozialen und finanziellen Probleme, wächst die Polarisierung zwischen Arm und Reich sowie die regionale Differenzierung. Die tiefen Ost-West-Unterschiede beim wirtschaftlichen Entwicklungsniveau sowie bei den Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen werden durch ein Süd-Nord-Gefälle ergänzt. Zudem versagt die Politik bei der Lösung wichtiger Zukunftsfragen wie Energie wende, Infrastrukturausbau, Digitalisierung, Bildung, Gesundheit, Pflege sowie Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Auch versiegen allmählich die positiven Impulse aus der Vereinigung, die «Vereinigungsdividende» ist verschwunden, während bestimmte Belastungen fortbestehen.

Das Verhältnis zwischen Ost und West ist bis heute nicht frei von Spannungen. Trotzdem bewerteten in einer Umfrage, die 25 Jahre nach dem Mauerfall durchgeführt wurde, 75 Prozent der Ostdeutschen die Vereinigung im Rückblick vom Ergebnis her als positiv; bei den Westdeutschen sind es dagegen nur 48 Prozent. Viele Menschen in Ostdeutschland sehen sich auch materiell als Gewinner der Einheit. Seit 1990 sind fast drei Jahrzehnte vergangen, und die Wahrnehmung des Umbruchs im Osten und der deutschen Einheit ist, verglichen mit früher, eine andere geworden. Dies ist einerseits auf die Zeit zurückzuführen:

Inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen, deren Problemsicht hauptsächlich von Gegenwarts- und Zukunftsfragen bestimmt wird und weniger von der Vergangenheit. Andererseits sind in der Zwischenzeit neue Probleme entstanden, die die alten überlagern. Neue Ansichten, Denkmuster, Lebensstile und Zukunftserwartungen setzen sich durch, alte verlieren an Relevanz. Dazu gehört auch, dass die deutsch-deutsche Geschichte auf neue Art und Weise reflektiert und diskutiert wird.

Nach fast 30 Jahren sind die Menschen im Osten mehrheitlich im vereinigten Deutschland angekommen, obgleich ihre DDR-Herkunft bis heute in der Bundesrepublik als eine Art «Migrationshintergrund» gilt. Für die Westdeutschen dagegen waren der Druck der Umstände und die Dynamik des Wandels viel geringer, weshalb viele glauben, immer noch in der alten Bundesrepublik zu leben. Mit der Akzeptanz der deutschen Einheit ist eine Blickverschiebung verbunden – von der Transformation zur Integration [2] und von der Vergangenheit zur Gegenwart und Zukunft. Im Zentrum stehen heute die deutsche und europäische Integration, während die getrennte, da geteilte deutsche Vergangenheit in den Debatten kaum mehr eine Rolle spielt. Dies betrifft auch den «Sozialismus», von dem 63,4 Prozent der Ostdeutschen glauben, dass er eine «gute Idee» war, die «nur schlecht umgesetzt» wurde, während rund 60 Prozent der Westdeutschen ihn prinzipiell ablehnen.

In der Zeit seit dem Beitritt der DDR sind die Konturen des vereinigten Deutschland relativ klar, auch da, wo es immer noch deutliche Disparitäten und Niveauunterschiede gibt. Hierzu gehören die unterschiedliche Dynamik der wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Entwicklung, die stabilen und sich reproduzierenden wirtschaftlichen und sozialen Diskrepanzen zwischen den Landesteilen sowie politische, weltanschauliche, religiöse, kulturelle und andere Besonderheiten. Setzt man diese in Beziehung zum Vereinigungsprozess, so erweisen sie sich teilweise als Integrationsdefizite [2] und Spätfolgen einer verfehlten, da einseitig an den Interessen des westdeutschen Kapitals ausgerichteten Vereinigungspolitik. Zum Teil resultieren sie aber auch aus säkularen Prozessen oder sind neueren Entwicklungen in der Welt geschuldet. Dies gilt zum Beispiel für das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland, aber auch für Unterschiede in der Klassen- und Schichtzugehörigkeit, bei der Religion, Kultur, hinsichtlich der Repräsentanz der Eliten in leitenden Funktionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie aktuell bei der Wahrnehmung der Migrationsaufgaben.
Axel Troost und Klaus Steinitz

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[2] Anmerkung von KN-ADMIN Helmut Schnug:

Der Deutsche Volksrat setzte am 7. Oktober 1949 die Verfassung der DDR in Kraft, womit die Deutsche Demokratische Republik gegründet war. Deshalb teilten die beiden Mächte Deutschland in zwei Länder auf: die westliche Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die östliche Deutsche Demokratische Republik (DDR). So entstanden zwei deutsche Staaten. Am 13. August 1961 baute die DDR Regierung eine Mauer zwischen sich und der BRD, mitten durch die Stadt Berlin.

Die deutsche Wiedervereinigung oder deutsche Vereinigung (in der Gesetzessprache Herstellung der Einheit Deutschlands) war der durch die friedliche Revolution in der DDR angestoßene Prozess der Jahre 1989 und 1990, der zum Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 führte. Die damit vollzogene deutsche Einheit, die seither an jedem 3. Oktober als Nationalfeiertag mit dem Namen Tag der Deutschen Einheit begangen wird, beendete den als Folge des Zweiten Weltkrieges in der Ära des Kalten Krieges vier Jahrzehnte währenden Zustand der deutschen Teilung.

Wenn man die deutsch-deutsche Geschichte kennt, sollte man m.M.n. NICHT von "Integration", "Integrationsprozess" und "Integrationsdefiziten" sprechen. "Integration" beschreibt einen dynamischen, lange andauernden und sehr differenzierten Prozess des Zusammenfügens und Zusammenwachsens. Daran ist zunächst einmal nichts auszusetzen. Einzelne Menschen und Gruppen werden in die Gesellschaft integriert (Sozialintegration), Integration einzelner gesellschaftlicher Subsysteme bezeichnet man dagegen als Systemintegration.

Im Falle der 16,11 Millionen ostdeutschen Bürger*Innen wäre es aber extrem chauvinistisch, von einem "gesellschaftlichen Subsystem" zu sprechen, das in die Westgesellschaft "integriert" werden sollte - die kleinere Gruppe (Ostdeutsche) in eine großen Gruppe (Westdeutsche), mit all den leider noch immer vorhandenen Ressentiments. Sie würden damit quasi als Parallelgesellschaft ein Schattendasein führen, als Nutzmenschen für das neoliberal verseuchte kapitalistische System westlicher Prägung.

Hier kommt nun der wesentliche Unterschied der Begriffe "Integration" und "Inklusion" zum tragen: Der Begriff "Inklusion" beschreibt in der Soziologie den Einschluss bzw. die Einbeziehung von Menschen in die Gesellschaft. Die normative Verwendung des Begriffs Inklusion im Zusammenhang der aktuellen Ungleichheitsforschung verdeutlicht Martin Kronauer in Abgrenzung zu dem der Integration. Integration gehe von einer vorgegebenen Gesellschaft aus, in die integriert werden kann und soll. Inklusion dagegen erfordere vorab, dass gesellschaftliche Verhältnisse, die exkludieren, überwunden werden. 

Andrea Schöb beschreibt das Konzept der Inklusion im Gegensatz zur Integration wie folgt: "Integration und Inklusion bezeichnen vielmehr zwei sich grundlegend unterscheidende sozialpolitische Konzepte und stehen für unterschiedliche Sichtweisen auf die Gesellschaft. Während die Integration davon ausgeht, dass eine Gesellschaft aus einer relativ homogenen Mehrheitsgruppe und einer kleineren Außengruppe besteht, die in das bestehende System integriert werden muss, stellt die Inklusion eine Abkehr von dieser Zwei-Gruppen-Theorie dar und betrachtet alle Menschen als gleichberechtigte Individuen, die von vornherein und unabhängig von persönlichen Merkmalen oder Voraussetzungen Teil des Ganzen sind.

Das Konzept der Integration nimmt also bewusst Unterschiede wahr und verlangt vom Einzelnen, dass er sich an das Mehrheitssystem anpasst, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Die Inklusion dagegen ordnet unterschiedliche individuelle Eigenschaften und Voraussetzungen nicht auf einer Werteskala, sondern betrachtet die Vielfalt und Heterogenität der Gesellschaft als grundlegend und selbstverständlich. Hier muss sich nicht der Einzelne dem System anpassen, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen so flexibel gestaltet sein, dass sie jedem Einzelnen Teilhabe ermöglichen.

Eine inklusive Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der jeder Mensch akzeptiert wird und gleichberechtigt sowie selbstbestimmt an dieser teilhaben kann – unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft, von Religionszugehörigkeit oder Bildung, von eventuellen Behinderungen oder sonstigen individuellen Merkmalen" (Zitat: Andrea Schöb, Definition Inklusion, 2013 >> http://www.inklusion-schule.info/inklusion/integration-und-inklusion.html

► Quelle: ROSA LUXEMBURG STIFTUNG >> https://www.rosalux.de/ >> Publikationen. Erschienen September 2018. Die Bilder und Grafiken im Artikel sind nicht Bestandteil des Originalartikels und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. andere Lizenzen...





Freitag, 29. März 2019

(7) KNOBELBECHER-ZEIT - Leseprobe


SOLDATEN FÜR DEN FRIEDEN (Teil sieben)

Leseprobe aus „AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder“ im 70. Jahr der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949

Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 sehr glücklich verheiratet.


  1. Knobelbecher-Zeit


    Was ist also zu tun? Das wissen sicherlich die da oben. Henry denkt an die großen Zusammenhänge noch nicht. Jetzt ist er auf den nächsten Augenblick fixiert. Was wird ihn erwarten, den Ahnungslosen? Es ist der 23. November 1954. Erfurt. Ein Jüngling, schmal, etwas blaß, knapp 18 Jahre alt, im hellen und dünnen Sommermantel, ein kleines Köfferchen in der Rechten, meldet sich an einem Kasernentor. Dann ist er drin. Noch weiß er nicht, daß ein Rückzug nicht mehr in Frage kommen wird, selbst bis zum ersten Ausgang werden Wochen vergehen. Eine Schule für zukünftige Offiziere – sie wird ihn und all die anderen Schüler festhalten für drei Jahre, soviel ist klar. Am nächsten Tag geht es bereits in die B/A- Kammer, das heißt Bekleidung und Ausrüstung. Henry sieht die Knobelbecher und ihm zieht sich das Herz zusammen. „Die sollen nun mein Schuhwerk sein, diese klobigen Dinger“, denkt er. Damit nicht genug. Die von der Aufnahmekommission haben wegen der „Militärgeologie“ kaum merklich gegrinst. Ja, bei den Pionieren, da beschäftige man sich mit so etwas, aber dazu wiederum sei er zu schwach gebaut, solle er doch allgemeiner Truppenkommandeur werden, da habe man Befehlsgewalt über alle, über die Infanterie, die Flugzeuge und über die Schiffe, und einer der Offiziere breitet weit die Arme aus ...


  2. Dem sensiblen jungen Mann wird beinahe schwarz vor Augen, über andere herrschen, das will er ja gar nicht. Er spürt, da kommt was auf ihn zu. Doch nun ist es wohl zu spät. Soll er sich zurückziehen? Feige und kleinmütig? Zurück in den Betrieb, der ihn so „patriotisch“ verabschiedet hat? Der ihm das restliche Gehalt von November, etwa 50 DM, erlassen und ihm eine gute Beurteilung mitgegeben hat?


  3. Nach Aussagen des Leiters der Außenstelle kann seine Arbeit mit sehr gut bewertet werden“, so steht es in dem Papier. Nein, ausgeschlossen. Er wird, er muß sich durchbeißen. Sich abhärten, sich standhafter machen. Bedenkt er, daß sich hinter ihm mit dem Kasernentor auch seine noch nicht einmal gelebte Jugendzeit schließt, nahezu eingegrenzt und beschnitten wird? Nein, das erscheint ihm nicht wichtig genug. Und so soll’s denn sein ... Henry stürzt sich in die Zeit der Fußlappen und der Stiefel. Aus dem im Sternenbild Schütze geborenen soll nun ein echter Schütze werden.

    Erfurt. Ende November. Henrys 18. Geburtstag. Vormittags werden die Offiziersschüler mit einem H3A (im Volksmund nennt man diesen Lastkraftwagen „Konsumwagen“, weil er nur für einfache Transporte geeignet ist) zum Schießstand gefahren. Vor der Vereidigung und dem ersten Wache schieben ist eine Grundübung mit dem Karabiner zu schießen. Der Chef der Schule, Oberst, ein kräftiger untersetzter Mann, ist persönlich erschienen. Er steht vor der angetretenen Front und zeigt auf seine rechte Schulter, hier, da habe Gott ein Loch gelassen, dort müsse man den Kolben des Karabiners stramm einziehen. Sehr amüsant und witzig. Einfach toll. Etwas billig das Ganze. Henry denkt sich sein Teil. Der Herbstnebel drückt außerdem aufs Gemüt. Am späten Nachmittag sitzen ein paar Kumpels mit Henry – u.a. Waldemar - auf Holzkisten in der HO-Verkaufsstelle der Schule und stoßen mit Sekt an, den Henry von seinem letzten Taschengeld spendiert hat. Seine Mutter schickte ihm einen Brief: „Wir gratulieren Dir von ganzen Herzen und wünschen viel Freude und Erfolg für Deine Zukunft. Vor allem bleib uns recht gesund, und laß niemals Kopf hängen ... Wie es ist bei Euch Essen?“

    Anfang Dezember. Die Ausbildung hat begonnen. Mal draußen, mal drinnen. Die Holzschemel in der rechten Hand und Abmarsch in die nicht sehr warmen Garagen, wo die Schüler Lektionen über Taktik, u.a. über das Thema „Angriff“ und „Verteidigung“ - mal unter normalen, mal unter atomaren Gefechtsbedingungen - hören. Henry hat manchmal sein kleines Bild vor Augen, daß er seit Kindheitstagen in sich trägt: Das Haus am Fluß, eine grüne Wiese. Idylle. Menschen, die zufrieden und bescheiden leben, einfach gut miteinander sind. Jetzt erhält sein Traumbild ganz langsam Tiefe und Weite, eben Profil. Mit Zugewinn an Wissen in der Dialektik, der Geschichte und der Politik und Militärpolitik.


  4. Der erträumte Humanismus – er bekommt langsam Konturen, Vortrag für Vortrag, Seminar für Seminar. Erkenntnisse, die ihn mitunter innerlich erschrecken, aber auch befriedigen, da Logik dahintersteht und ein Schuß guter Hoffnung für die Zukunft, da Kriege nie mehr sein sollen. Aber der Offiziersschüler – den anderen geht es nicht anders – ist oft müde, sitzt meistens in den hinteren Reihen, der Kugelschreiber rutscht nicht selten über das Blatt zum unteren Rand, hinterläßt verdächtige Krakel ... Dann endlich - der erste Ausgang! Aber nur in der Gruppe und nur nachmittags zum Fußballspiel. Was die da auf dem weiten Feld so treiben, das kann dem Henry gestohlen bleiben. Spaziert viel lieber umher im Stadion und glotzt unbeholfen, um irgendwo ein paar Mädchenbeine zu erspähen. Beinahe hätte er nicht mitgedurft. Besitzt nur braune Halbschuhe, wo doch schwarze Vorschrift sind. Kurzerhand hat er sie mit schwarzer Schuhcreme „eingefärbt“, was am Kontrolldurchlaßposten aber nicht auffiel.
    1. Zum Inhalt 
Ausgangssituation ist Schweden und das Haus, in dem die Ziebells wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.

Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.

Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.

Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.

Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die erwarteten Schlussfolgerungen zieht.

Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.

Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien, politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender!

Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro













Donnerstag, 28. März 2019

BÖSE SCHATTEN - Buchtipp


Egbert Scheunemann: „Vom Anfang und vom Ende. Erzählungen, Kurzgeschichten, Dialoge“

BÖSE SCHATTEN

Buchtipp von Harry Popow

Wer von einem versauten Leben oder gar von Selbstmord schreibt, so zu lesen im Klappentext des Buches von Egbert Scheunemann „Vom Anfang und vom Ende“, dem bleibt nur zu raten, ein Ticket für die neue Boing 737 Max zu kaufen. Spaß beiseite. Auch ihm, dem Politikwissenschaftler, Naturphilosophen und Buchautor, ist es – dem letzten Kapitel mit der Überschrift „Vom Ende – ein faustischer Pakt“ zu entnehmen − nicht wirklich ernst mit einem Sprung in die Tiefe. Es ist nur ein Traum.

Bereits zu seinem ersten Buch mit Kurzgeschichten „Trilogie des Scheiterns“, das ich von ihm rezensieren durfte, lud ich ihn gedanklich zu einem Gespräch in eine Gaststätte ein. Dort bescheinigte ich ihm einen gewissen Galgenhumor, viel Witz und ein unbändiges Bedürfnis nach Leben. Und nun, nach dem Lesen seines neuesten Werkes, sehe ich ihn in Gedanken auf einer Bühne. Und was passiert? Das Publikum applaudiert in Abständen, guckt interessiert aus der Wäsche, fühlt sich offenbar angesprochen und geht anschließend still nach Hause, ungeachtet dessen, dass sich interessanterweise besonders Gelbwesten mit starkem Beifall hervortaten.

Der Rezensent suchte vor allem einen inneren Zugang zu den elf Erzählungen und Dialogen zu finden. Beim nochmaligen gründlichen Lesen sprangen ihm zwei Begriffe förmlich ins Auge und ins Gedächtnis: Schöpfergeist und Schatten. Und das nicht nur in der einleitenden Erzählung über den im Matsch spielenden kleinen Jungen. Dieser formte aus Schlamm Häuser und Kanäle – er wollte etwas schöpfen, später Bauarbeiter werden, Häuser bauen für Flüchtlinge und ganze Städte −, als plötzlich hinter ihm ein Schatten auftauchte und ihm einen heftigen Tritt in den Rücken verpasste. Der kleine Junge fiel vornüber in die Pfütze und begrub seine Schöpfung unter sich. Der kleine Junge – offenbar das Sinnbild des Beginns des Nachdenkens im Leben des späteren Autors – schrie dem Schatten voller unbändiger Wut, aber machtlos hinterher. Er, der kleine Junge, konnte noch nicht wissen, „dass die Flucht seiner Familie, die Ursachen der Flucht – ein furchtbarer Krieg und die schlimmen Folgen −“ seine Familie „mehr und mehr zerstören würden“ (S. 11). Als aus dem kleinen Junge ein junger Mann wurde, wollte er alles besser machen in seinem Leben: „Er wollte die Ursachen untersuchen, die seine Familie zerstört hatten, die historischen, politischen, ökonomischen und sozialen Prozesse studieren und verstehen, die zu so viel Gewalt und Leid geführt hatten und noch immer führen.“ (S. 14)

Der einst in der Erinnerung schnell größer werdende Schatten hinter dem kleinen Jungen lässt dem in die Jahre gekommenen Mann in der – letzten − Geschichte über den faustischen Pakt keine Ruhe. Noch einmal stößt er ihm, den nun alten Mann, in den Rücken, wieder mit feixendem Gelächter. Dieser fällt und begräbt sein gesamtes Leben unter sich – seine Schöpfung. Sinnbildlicher kann sich der Autor über ein vermeintlich sinnloses Dasein nicht äußern.

Diesen Zusammenhang zwischen schöpferisch leben wollen und die Gefahren von gefährlichen und bösartigen Schatten bedenkend, sind die weiteren, teils ernsten, teils witzigen Einzelbeiträge gut zu verstehen. So das Bemühen von Egbert Scheunemann, in einem Dialog, einem Disput zwischen anonymisierten Dialogpartnern „A“ und „B“ das Universum, Gott oder auch den Urknall zu thematisieren und die Existenz von Gott als Schwachsinn zu charakterisieren. Hochinteressant sind die Gedanken über den Sinn des Lebens, über die Entfaltung der Persönlichkeit, über den systembedingten Zwangskonsum, über den Autowahnsinn, über die Idee von Marx, die Erwerbstätigkeit und sinnlosen Konsum, also das Reich der Notwendigkeit, zu reduzieren zugunsten des Reiches der Freiheit und freier individueller Entwicklungsmöglichkeiten. Scheunemanns Attacke gegen das kapitalistische System verschärft sich, wenn er im Dialog – wieder zwischen „A“ und „B“ − ab Seite 61 über Geschmack und Wahrheit philosophiert. Mit der Globalisierung zeichne sich eine Weltgesellschaft ab, eine Universalisierung von Geschmäckern. Die Menschheit stecke noch in ihrer Jugendphase, sie sei noch nicht richtig mündig, sie laufe Gefahr, eine „finale Degenerationsphase“ zu erreichen.

Doch der Autor Egbert Scheunemann lässt sich nicht unterkriegen. Er kehrt auf den Boden der Realitäten im gewöhnlichen Alltag zurück, auf die kleinen Unwägbarkeiten, Nachlässigkeiten und Versäumnisse, die jeden Menschen mehr oder weniger stets begleiten. Da berichtet er von einem beinahe Zusammenstoß mit einem Radfahrer, von einer fahrlässigen Überquerung einer Straße mit Todesfolge, vom Tod eines krebskranken engen Freundes sowie von einer zunächst unerfüllten Liebe zu einer Kellnerin mit Namen Eléni. Fazit: Das Große bedenkend steckt auch im Kleinen das ganz Große, das sehr Menschliche.

Höchst aktuell ist der Brief des Autors an einen ehemaligen Freund. Er wirft ihm vor, einst gemeinsam anerkannte Werte über Bord zu werfen, sie mit Füßen zu treten, die Ehrlichkeit des Autors als geistige Provokation zu betiteln, verbale Aggressionen gegen die Vernunft zu fabrizieren, hässlichen Motiven wie Geldgier nachzuhängen. Er mahnt, Freundschaften seien doch keine Konkurrenzverhältnisse. Zweifellos ein Problem der mental oft auseinanderdriftenden Gesellschaft im Kapitalismus, in dem der illusorische Ruf nach mehr menschlichem Zusammenhalt in der Regel wie eine Luftblase platzt.

In der letzten Geschichte mit der Überschrift „Vom Ende – ein faustischer Pakt“ spricht der Autor Egbert Scheunemann Klartext, sozusagen ein Resümee seines Traumes von einer besseren Welt: „Der alte Mann hatte viele Bücher und Hunderte von Artikeln geschrieben, in denen er die Ursachen dieser Kriege und Konflikte unter Menschen und auch des großen Krieges der Menschheit gegen die Natur analysierte und darstellte und Wege aufzeigte in Richtung einer humaneren, sozialeren, gerechteren Welt, die im Frieden mit der Natur lebt. Aber er musste seit langer Zeit erleben, wie fast alles immer schlimmer wurde.“ (S. 98) Sprach- und hilflos würde er, der alte Mann, nun dastehen und fast aufgeben im Kampf gegen den Moloch aus Profitsucht, Kaltherzigkeit, selbst gewählter Unmündigkeit und Knechtschaft. Er wisse, ein einzelner Mensch könne nicht viel bewirken, aber er fühle sich nicht allein, denn sehr viele protestierten gegen den galoppierenden Irrsinn und die wachsende Unmenschlichkeit.

Das schmale Büchlein Egbert Scheunemanns mit seinen 104 Seiten ist ein Knaller mit viel, mit sehr viel Tiefsinn. Es ermuntert den Leser, mehr noch, es provoziert ihn, noch stärker in politischen Zusammenhängen zu denken. Noch klarer nach Ursachen zu fragen, der zunehmenden Verdummung durch die Politik und die hörigen Medien Paroli zu bieten. Der Autor stellt sehr hohe Ansprüche an sein Denken und Tun. Er kann mit Recht auch auf sehr interessierte Leser hoffen. Sein Buch – es könnte auch mit „Zwischen Anfang und Ende“ betitelt werden − endet mit einem Satz aus dem Talmud: „‚Wer auch nur ein Menschenleben rettet, der rettet die ganze Welt.‘ Und sei es sein eigenes Leben. Vor den bösen Schatten dieser Welt. Und vor sich selbst.“

Egbert Scheunemann: „Vom Anfang und vom Ende. Erzählungen, Kurzgeschichten, Dialoge“, Taschenbuch, 104 Seiten, Verlag: Books on Demand, Auflage: 1 (4. März 2019), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3748157932, ISBN-13: 978-3748157939, Preis: 9,80 Euro










Montag, 25. März 2019

"Angekommen" im Kriegsdeutschland - Arnold Schölzel



DDR, postfaktisch


Matthias Krauß hat der »Aufarbeitungsindustrie« aufgeschrieben, was sie nicht lesen will


Von Arnold Schölzel


Matthias Krauß: Die große Freiheit ist es nicht geworden. Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2019, 255 Seiten, 14,99 Euro

Der Autor stellt sein Buch am morgigen Dienstag, dem 26. März 2019, um 19 Uhr in der jW-Ladengalerie (Torstr. 6, 10119 Berlin) vor

Der französische Schriftsteller Vladimir Pozner schrieb zum Verhör Brechts von 1947 durch den US-Kongressausschuss »für unamerikanische Aktivitäten«, man könne meinen, »ein Zoologe sei Gefangener von Affen«. Nach fast 30 Jahren westdeutschen Herrenvolkumgangs mit der DDR lässt sich sagen: Fachleute haben immer noch keine Chance. Und die Aussichten stehen gut, dass das so bleibt. Halluzinationen wie die von »Stasi« und »Unrechtsregime« sind heute Drehachsen von Filmproduktionen (CDU-Kulturstaatsministerin Monika Grütters, Kosponsorin vom »Gundermann« des Regisseurs Andreas »Es gibt keine Absolution« Dresen, nominierte »ihren« Film am Mittwoch gleich zehnmal für den Deutschen Filmpreis »Lola«) oder von Zeitungen wie der der Roten Hilfe, das Staats-TV entkommunisiert Brecht zum gefühlt 50. Mal. In Zeiten von Aufrüstung, Kriegsvorbereitung und Neufaschisten ist der Bedarf an Antikommunismus besonders groß, vor allem an dem von links bis liberal.

Ein Buch mit dem Titel »Die große Freiheit ist es nicht geworden. Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat« hat da wenig Erfolgsaussichten. Verfasser ist Matthias Krauß, freier Journalist in Potsdam und jW-Autor. Leser seiner Texte wissen, dass sie es bei ihm nicht mit polternder oder sentimentaler Rechthaberei, sondern mit trockenem Witz, leiser Ironie und genauer Kenntnis Ostdeutschlands zu tun haben. Ein preußischer Lakoniker. Das schließt Engagement ein, angefangen bei der Wahl des Titels, der einem Gedicht Erich Kästners von 1951 auf die BRD entnommen ist. Krauß stellt einen Auszug seinem Text voran und kommentiert: »Diese Zeilen sind inzwischen auch Ostdeutschland wie auf den Leib geschrieben«. In der Süddeutschen Zeitung stand zu so etwas: »Matthias Krauß nörgelt über den Stand der deutschen Einheit«. Was Unfug ist, aber als Primatenurteil gnädig. Krauß (geb. 1960) schreibt im ersten der 25 Abschnitte seines Buches zur Klärung, er kämpfe seit 30 Jahren »um den postumen Ruf der DDR«, ohne »dunkle Seiten zu bestreiten und bedenkliche oder fragwürdige Dinge zu verharmlosen«. Es gehe ihm »allein darum, dem einseitigen Mainstream etwas entgegenzusetzen«. Vergebliche Mühe? Nun, es gibt Gundermann jenseits von Dresen, Brecht jenseits der ARD und hartnäckige Tatsachen jenseits der, wie Krauß sie nennt, »tief gestaffelten Aufarbeitungsindustrie«. Beidem widmet er sich.

Krauß beginnt mit der Wiedereinführung von Krieg und schreibt, der DDR-Bürger habe in einem Land gelebt, »das Frieden hielt und dessen Politik Friedenspolitik war«. Er sei jetzt »Bürger eines deutschen Staates, der Kriege führt«. Und weiter: »Der Fall der Berliner Mauer markierte das Ende der längsten Friedensphase, die Europa in seiner Geschichte erlebt hatte.« Das Bauwerk sei »steingewordenes Symbol für den europäischen Frieden« gewesen.

Krauß durchforstet und kommentiert auf diese Weise viele Politikfelder, seine Befunde sind nicht schön: In der DDR herrschte soziale Durchmischung, Spaltung und Entsolidarisierung dominieren heute, vom Bevölkerungsschwund durch Abwanderung (er zählt 2,3 Millionen Weggezogene, eine neuere Stu die 5,2 Millionen) ganz zu schweigen. Die »Nischengesellschaft«, als welche die DDR in den »deutschen Heldensagen« auftauche, begann für Ostdeutsche 1990. Die These, die SED habe »das Bürgertum« beseitigt und die Bevölkerung »proletarisiert«, ist ein albernes Märchen: Vor 1990 Bildungs- und Aufstiegschancen für fast alle, danach Abwicklung, Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne für fast alle. Spürbar grimmig wird der Autor beim Kapitel über die aus dem Westen importierte, durch Geldgier und Privilegiengeilheit aufgefallene Beamtenschaft. Deren Pensionen liegen im Durchschnitt viermal so hoch wie ostdeutsche Renten. Das sind Welten. Er schildert weitere »Erfolge« auf dem Land, in der Wohnungs-, Finanz- und Bildungspolitik, in der Justiz, die Auschwitz mit dem DDR-Gefängnis Bautzen gleichsetzte, und schreibt zur Situation ostdeutscher Frauen: 1990 hatten mehr als 90 Prozent der DDR-Frauen über 25 Jahren einen Berufs- oder akademischen Abschluss gegenüber 35 Prozent in der BRD – das »wirkliche Erbe von DDR-Bildungsministerin Margot Honecker«.

Den Abschnitt zu »Verfolgung als Daseinsweise« überschreibt Krauß mit »Hexe, Jude, Stasi-IM«. Sein Argument: Es sei »nicht illegitim, bestürzende Parallelen herauszuarbeiten und gleichzeitig die völlige Verschiedenheit in ihren Auswirkungen herauszustellen« – keine Gleichsetzung. Er nennt neun Gemeinsamkeiten, darunter Verfolgung ohne Straftat, Berufung auf Moral, staatliche Sondergesetze, fundamentalistischen Reinheitsfimmel und die disziplinierende Warnung an alle. Deutschland sei mit der Jagd auf IM lange vor Donald Trump »im ›postfaktischen Zeitalter‹ angekommen«.

Krauß hat eine exemplarische Studie über die »Vorkriegszeit«, deren Beginn er richtig auf 1990 datiert, geschrieben. Das Verhör Brechts in Washington 1947 fand – zwei Jahre nach Hiroshima und Nagasaki – unter der Drohung statt, das US-Atombombenmonopol gegen die Sowjetunion auszunutzen. Das Wissen darum machte Brecht zum Experten. Krauß ist auch einer.







Freitag, 22. März 2019

(6) GEOLOGEN-ZEIT - Leseprobe


SOLDATEN FÜR DEN FRIEDEN (Teil sechs)

Leseprobe aus „AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder“ im 70. Jahr der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949

Der Autor wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 sehr glücklich verheiratet.


Geologen-Zeit

September des Jahres 1954. Schwerin. Schmalbrüstige Straßen. Herbstluft. Neuer Arbeitsort für Henry: Ein zweistöckiges kleines Gebäude in der Schlossstraße. Ein schmales Arbeitszimmer für Henry. Seine Aufgabe: Erste physikalische Bodenuntersuchungen vorzunehmen. Die Bodenproben haben Mitarbeiter herbeigeschafft und in kleinen Kartons verstaut. Daraus entnimmt Henry die Steine oder Erdklumpen. Er tröpfelt verdünnte Salzsäure darauf. Wenn es schäumt, ist Kalk drin. Er untersucht, registriert, füllt in Reagenzgläser ab und beschriftet sie.

Viel auf Reisen. In einem kleinen Heftchen – seine ersten Tagebucheintragungen - hält er folgendes fest: Von der Geologischen Kommission bekommen - Rucksack, Kartentasche, Regenmantel, Gummianzug, Gummistiefel, hohe Lederschuhe. Notwendige Ausrüstung für den kartierenden Geologen (ohne Zeltübernachtung): Derbe Kleidung (Gummistiefel, Reithosen, Skihosen), Kartentasche, Geologenrucksack, Bleistift, Zeichenblock, Notizbuch, Messtischblatt, Geologenhammer, gute Lupe, Erdbohrer, Nähzeug usw. Kartentasche habe ich schon, Gummistiefel noch nicht und vieles andere.

Wohne in der Buchholzallee, einem Einfamilien-Reihenhaus, sein Zimmer befindet sich gleich im Parterre links. Seine Vermieter sind ältere und fortschrittliche Leute, er aber säuft. Henrys Sparplan: 209 DM monatliche Einnahmen. Davon 40 DM für Kost, 25 DM für Miete (1 Zimmer), 17 für Mittagessen, 10 für Beiträge, 50 für Mama, Rest eventuell zum Sparen. Küchenrezepte für Ledige mit Einzelzimmer: 1. Bratkartoffeln mit Ei usw. 2. Pellkartoffeln mit Fisch und Gurkensalat. 3. Fleischsalat und Brot. 4. Käse. 5. Eierkuchen. 6. Obstsuppe. 7. Büchsenfleisch. 8. Wurst - Butter - Brot. Auf der Lebensmittel-Zusatzkarte D bekommt er 1950 Gramm Fleisch und 1300 Gramm Fett. Er rechnet sich aus, wie viel er alle zwei Tage verbrauchen darf. Und ist trotzdem sehr zufrieden.

Der tägliche Weg durch den bunten herbstlichen Park und am Schloss vorbei, in dem ein Pädagogisches Institut (Mädchen vor allem) untergebracht ist, der Duft nach Laub, seine vielen Spaziergänge am Wochenende, seine kleine Freiheit. Am Schloss hat er eine Zeichnung angefertigt. Aber alleine sein und ausgehen ist großer Mist, findet er. Wenn er in einem Tanzlokal sitzt, ist er verklemmt, mimt, mit einem Skizzenblock bewaffnet, den französischen Maler Henri de Toulouse-Lautrec, denn er fühlt sich so blöd, einfach so nach den Mädchen zu gieren ... Am 27.9. will er sich in der Volkshochschule anmelden - Fach Geologie.

Der Kollektor bekommt Post. Seine Mama schreibt ihm: „Deine 50,- DM haben wir bekommen, ich habe nur Angst, das du selbst zu wenig Geld hast, um so essen zu können, wie es in Deinem Alter unbedingt sein muss. Schreibe mir, wo du Dein Mittag bekommst ... muss ich denn immer bei Dir betteln, dass Du mir etwas mehr schreibst? Über alles,- nicht nur über Schönheiten der Natur ...“ Im gleichen Brief einige Zeilen auch von Schwester Sophia: „Im Übrigen solltest Du Dich nicht so viel mit Mädchen abgeben, denn ich bin auch noch da u. mit mir Ingrid, weißt Du, die uns gegenüber im Hinterhaus wohnt. Sie hat sich in Dich bis über beide Ohren verliebt ... Ich habe in Mathematik mündlich schon eine Eins bekommen. Das wären 0,50 DM, stimmt’s? Die brauchst Du mir aber nicht zu schicken. Es ist bloß zu Deiner Information.“

Henry notiert weiter: Am 23. September in der Frühe 04 Uhr mit dem BMW der Außenstelle nach Richtenberg gefahren und weiter nach Binz auf Rügen. Dort „Aufnahme“ gut geglückt. Das heißt, wir haben ein Stück des Hochufers mit weißen „Binden“ verklebt, von der Wand abgenommen, eingerollt, im Auto verpackt und mit nach Schwerin genommen zur weiteren geologischen Untersuchung. Gutes Wetter, herrliche Gegend. In Göhren übernachtet. Am ersten Abend tanzen gewesen. Am 25. zum Wildland bei Groß Zicker. Ödland. Kein Mensch. Nur Gesträuch, Bäume, Gräser, Steilküste und viele Fossilien. Wildland war mal bewohnt. Es wurden drei Steinbeile gefunden. An der Küste wieder eine kleine Bleistiftzeichnung angefertigt.

Henry ist glücklich. Er hat eine tolle Arbeit, und er würde auch gerne studieren. Das ist kein Traum. Er bewirbt sich in Freiberg im Erzgebirge. Bald kommt eine positive Antwort. Es ist Anfang Oktober. Er soll zur Aufnahmeprüfung: Lagerstättenkunde, Mineralogie, historische, regionale und angewandte Geologie, Aufbau des Meeres, Tektonik. Das Studium der Geologie kann im nächsten Jahr beginnen. Bis dahin: Arbeiten und büffeln – büffeln und arbeiten. Henry ist ganz bei der Sache.

Nach der Rückkehr nach Schwerin jedoch ein „Überfall“. Zwei unbekannte Männer wollen mit ihm sprechen. Sie sitzen vor ihm in „seinem“ Labor. Sie kommen vom Wehrkreiskommando (hieß damals wohl anders). Sie lächeln, sind ausgesucht nett. Er, Henry, könne bei der Kasernierten Volkspolizei Militärgeologie studieren, dazu müsse er nach Erfurt und drei Jahre die Offiziersschule besuchen. (Sehr viele Jahre später wird er in einem geschichtlichen Abriß nachlesen: In den ersten drei Monaten des Jahres 1954 wurden nur 27 Prozent der Jahresaufgabenstellung für die Auffüllung der KVP erreicht ...)

Das Angebot der beiden Männer klingt verlockend. Geologe sein und Offizier noch dazu! Henry fühlt sich sehr persönlich angesprochen: „Ausgerechnet mich will man haben, mich, den ruhigen Typ?“ Fühlt er sich geehrt? Sieht er noch eine größere Chance als die bisherige in Aussicht genommene Laufbahn? Zum Beispiel so richtig eingebunden zu sein in einer großen festgefügten Gemeinschaft? Sucht er Halt? Braucht er den? Er will Bedenkzeit. Und so geht dem noch Siebzehnjährigen die Frage durch den Kopf, ob er nach der Offiziersschule zum Studium nach Freiberg überwechseln könne? Wenn nicht, so seine naive Vorstellung, will er erst zum Geologiestudium. Seine Bedingung außerdem: Zu Weihnachten will er zu Hause sein in Leipzig bei seiner Mutter und seinen Geschwistern Sophia und Axel. „Aber selbstverständlich,“ antworten Tage später die Werber.

Ein älterer Mitarbeiter der Außenstelle betritt darauf das kleine Arbeitszimmer des Henry und gibt dem sehr viel jüngeren Mitarbeiter zu bedenken, nach spätestens zwei Jahren hätte er das Militär gründlich satt. Henry hat seine eigene Meinung. Er denkt: „Will der mich abhalten?“ Das geht ihm irgendwie gegen den Strich. Soviel weiß er schon, nicht alle Leute sind für „unseren Staat“. Von Papa erhält Henry einen Brief. Er schreibt, Angehöriger unserer KVP zu sein sei „eine große Ehre und Verpflichtung“. Natürlich könne man als Geologe seiner Gesellschaft „auch sehr viel geben“. Also klar: Er muss schon selber wissen, was er will. Gegen die Gesellschaft hat er nichts. Im Gegenteil: Menschliches ist hier gewiss gut aufgehoben. Das entspricht seinem inneren Gefühl, seinem Bild von einem vernünftigen Leben. Er sagt zu. Mitte November soll es losgehen. Und in seinem Notizheft hält er fest: „Voll Hoffnung und mit frohem Glauben, Geh aufs Ganze, verzage nicht, Vorwärts ...“, so schreibt A.S. Puschkin in ‚Ruslan und Ludmilla‘.

Siebenter Oktober - Tag der Gründung der Republik. Feiertag, arbeitsfrei. In der Schlossstraße spricht man von „Wachsamkeit“ gegenüber Provokationen. Es wird Vorsorge getroffen, dass niemand die Außenstelle irgendwie „stört“. Man teilt auch den jungen Mitarbeiter zur Wache ein, von 20 bis 22 Uhr. Was er zu tun hat, wenn jemand „was will“, weiß er nicht, aber er fühlt sich gut, weil man ihm vertraut. Später erst wird er in einer Beurteilung lesen, dass dies sozusagen sein erster Einsatz in der Kampfgruppe war, den er auch gut bestanden hätte. Noch bevor er sich in den Zug setzt, der ihn nach Erfurt führen soll, schreibt seine Mutter ihm u.a. die folgenden Zeilen: „Nun, mein guter, bester Junge, was macht KVP, - schon da gewesen? Frau Gerda Müller war bei mir gestern, die war in Westen vier Wochen, die sagt das Wehrpflicht in Westen ist beschlossene Sache. Diese Scheißdreck fehlt uns noch zum vollen Glück. Man weiß nicht, was nun zu tun ist ...“




  1. Zum Inhalt

Ausgangssituation ist Schweden und das Haus, in dem die Ziebells wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.

Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.

Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.

Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.

Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die erwarteten Schlussfolgerungen zieht.

Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.

Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien, politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender!



Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. Taschenbuch: 500 Seiten, Verlag: epubli; Auflage 1 (18. Februar 2019), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3748512988, ISBN-13: ISBN: 9783748512981, Preis: 26,99 Euro



Mittwoch, 20. März 2019

Mächtiger als das Schwert - Buchtipp


Abdullah Öcalans Signale aus dem Gefängnis: DIE KAPITALISTISCHE ZIVILISATION. Unmaskierte Götter und nackte Könige. Manifest der demokratischen Zivilisation. Band II


Mächtiger als das Schwert



Buchtipp von Harry Popow

Ein „Freies Leben statt Kapitalismus“, dafür plädierte der Autor Abdullah Öcalan in seinem Buch „Zivilisation und Wahrheit“, veröffentlicht im März 2017, zu dem ich Gelegenheit hatte, einen Buchtipp zu schreiben. Damals konnte der Leser noch keine schlüssige Antwort darauf finden, was „Freies Leben“ zu bedeuten habe und wie man zu ihm gelangen könne. War diese Lektüre vor Jahren sehr gedankenreich und lesenswert, so ist sein neuestes Buch „Kapitalistische Zivilisation“ mit 384 Seiten ein noch dringenderer Ruf nach Veränderungen in der westlich geprägten kapitalistischen Ordnung, eine Mahnung, im Namen der Zukunft der Menschheit und unseres Planeten neue Bausteine für die Konstruktion einer neuen Welt zu finden. Nicht nur etwas registrieren, Symptome ausmachen, sondern auf etwas zustreben, nach Menschlichkeit, das ist spannend genug, um sich näher mit Öcalan zu beschäftigen. Er verfasste diesen Essay 2008 als »Verteidigungsschrift« in der Form einer Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Abdullah Öcalan, geboren am 4. April 1949 in Ömerli, Sanhurfa, Türkei, ist Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Seit seiner Verschleppung 1999 ist er unter Isolationsbedingungen auf der Insel Imrali inhaftiert. Im Gefängnis verfasste er mehr als zehn Bücher, welche die kurdische Politik revolutionierten. Er schreibt ausführlich über Geschichte, Philosophie und Politik und gilt als Schlüsselfigur für die politische Lösung der kurdischen Frage. Öcalan leistet Beiträge zur Diskussion über die Suche nach Freiheit und entwarf den demokratischen Konföderalismus als nicht-staatliches politisches System. Sein Hauptwerk ist das fünfbändige Manifest der demokratischen Zivilisation. Seine Schriften wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Das Buch beleuchtet die Entstehung des Kapitalismus, geißelt ihn als den eigentlichen Feind der Wirtschaft, untersucht die Phänomene Staat, Nation und Stadt sowie die Ideologie der kapitalistischen Zivilisation und die Zeit der kapitalistischen Moderne. Nicht zuletzt geht der Autor der Frage nach, ob ein Kompromiss zwischen staatlicher Zivilisation und demokratischer Zivilisation möglich ist. Der inhaftierte Gründer der PKK erklärt: „Meine Verteidigung, deren erster Band sich gegen den Prozess der Zivilisation als Hauptstrom richtete, wird mit der Analyse des kapitalistischen Hegemoniestrebens weiter in die Tiefe gehen.“ Er versuche in seinen Schriften, so Öcalan, die Errungenschaften des Westens für die Menschheit mit den alten positiven Werten des Ostens zu synthetisieren, um so einem sinnvollen Aufbruch einen Lichtstrahl anzubieten.

Was da an Leuchtkraft auf politisch, geschichtlich und philosophisch interessierte Leser zukommt, ist nicht nur aktuell erhellend, sondern öffnet auch die Augen für neue, bisher wenig bedachte Zusammenhänge, wirft zudem bisher ungelöste Fragen auf.

Im Vorwort von Radha D’Souza heißt es: „Wir leben in einer Welt, in der die »Demokratie« unsere Freiheiten einsperrt und in der die Gedanken eines Menschen für Staaten, die sich im Besitz der tödlichsten Waffen befinden, die die Welt jemals hervorgebracht hat, zu einem »Sicherheitsrisiko« werden. Aber dennoch ist es, inmitten von Horrorvisionen der Zukunft und der kognitiven Dissonanz, die uns heute umgibt, zugleich auch seltsam beruhigend, dass die uralte Weisheit, nach der »die Feder mächtiger ist als das Schwert«, immer noch zuzutreffen scheint. Dass ein Antrag an ein Gericht die einzige Möglichkeit für Öcalan war, den Menschen außerhalb des Gefängnisses seine Gedanken mitzuteilen, legt Zeugnis vom Zustand der Welt ab. Dabei ist es Öcalans Ziel, Wege zur Neuschaffung »der Denkmuster« zu finden, die wir brauchen, um das soziale Leben ins Zentrum unserer Überlegungen zu stellen. Öcalans Thema in dieser Schrift sei die »Mentalität«, die uns, sogar mit unserer Zustimmung, der zerstörerischen Macht des Kapitalismus unterwirft. Diese »Mentalität« macht uns zu Komplizen bei der Zerstörung der Gesellschaft.“

Öcalan breitet einen ganzen bunten Teppich aus von Begriffen, Anspielungen, Denkweisen und Meinungen, wofür er sich im Schlusskapitel ob seiner angeblichen Mängel entschuldigt, was für ihn spricht. Da ist vom Begriff Zivilisation die Rede, von Rationalismus und Ökonomismus, von Dualismus und Nicht-Dualismus, von Kommodifizierung, Stadtgesellschaften, Positivismus, Gemeinwesen als auch von Okzident und Orient, nicht zuletzt von kapitalistischer Moderne und Nationalstaat, von Ideologie und Religion, von Geist und Materie. Es genügt, drei Themenkomplexe näher zu beleuchten, um die Analysefähigkeit des inhaftierten Öcalan zum Nutzen eigener Erkenntnisse in einem mitunter neuen Licht genießen zu können.


Der Todfeind im Visier

Der Autor charakterisiert an verschiedenen Stellen seines Buches mit scharfen Worten den Zustand in der kapitalistischen Welt: „Die erste Feststellung, so paradox das klingen mag, muss sein: Der Kapitalismus ist keine Wirtschaft. Den Kapitalismus als politisches Regime zu analysieren, wird uns helfen, den in ihm liegenden Profit besser zu begreifen. Dabei müssen wir vermeiden, ihn auf Macht und Staat zu reduzieren.“

Die Kommodifizierung habe die Beziehungen der Menschen zur Natur in private Eigentumsverhältnisse und die Beziehungen zwischen den Menschen in Arbeits- und Klassenbeziehungen verwandelt. Die gewaltsame, bei lebendigem Leib vollzogene Abtrennung der Natur vom Menschen durch die Warenproduktion, so Marx, habe alle möglichen Dualismen wie den Dualismus zwischen Natur und Kultur, Kapital und Arbeit, Staat und Bürger, Öffentlichem und Privatem, Wirtschaft und Politik, öffentlichem Recht und Vertragsrecht, Wirtschaftswissenschaft und Ethik und so weiter in die Gesellschaft eingeführt.

„Weltkriege, Kolonialkriege und Machtkämpfe, die auf allen Ebenen geführt werden und die Gesellschaft bis in ihre Kapillaren hinein beeinflussen, bedeuten nichts anderes als den Bankrott des Systems. Liberalismus und Individualismus werden oft als die ideologische Hauptachse des Kapitalismus bezeichnet. Ich behaupte jedoch, dass kein System so sehr wie der Kapitalismus mit seiner ideologischen Hegemonie die Stärke besessen hat, das Individuum gefangen zu halten.“

Öcalan sagt weiter: „Ich war stets der Ansicht, dass der Kapitalismus, der alles in Ökonomie ertränkt, nichts mit Wirtschaft zu tun hat, sondern sogar ihr Todfeind ist. Ich behaupte also: Der Kapitalismus ist nicht Wirtschaft, sondern Todfeind der Wirtschaft. (…) Ist der Finanzsektor Wirtschaft? Oder der globale Finanzsektor? Ist die Umweltkatastrophe eine wirtschaftliche? Ist die Arbeitslosigkeit ein wirtschaftliches Problem? Sind Banken, Aktien, Devisen und Zinsen Wirtschaft? Ist eine krebsartig wuchernde Warenproduktion für den Profit Wirtschaft? Die Liste der Fragen ist lang. Auf sie alle kann es nur eine Antwort geben: »Nein.« Es geht nicht um Geld und Kapital, es geht um Macht! Das Geldkapital hat mit seinen äußerst gerissenen Manipulationen weder eine neue Wirtschaftsform geschaffen, noch gibt es eine kapitalistische Gesellschaft oder gar eine Zivilisationsform namens kapitalistische Zivilisation. Stattdessen gibt es eine Intrige, um sich der Gesellschaft zu bemächtigen, wie sie die Geschichte noch nicht gesehen hat. Und nicht nur die wirtschaftliche Macht – es geht um die gesamte politische, militärische, religiöse, moralische, wissenschaftliche, philosophische, künstlerische, historische, materielle und ideelle kulturelle Macht! Der Kapitalismus ist die am weitesten entwickelte Form der Herrschaft und der Macht.“

Seite 71: „Wir können behaupten, dass der Kapitalismus seinen Charakter am offensten an der Börse, in der Politik und im Krieg zeigt. Es gibt keinen menschlichen Wert und keine menschliche Emotion, die der Kapitalismus für Profit nicht verletzt.“

Seite 89: „Dabei möchte ich festhalten, dass ich nicht die Arbeit, den Wert, den Profit und die Klasse leugne, sondern vielmehr die Art und Weise für falsch halte, wie sie beim Aufbau von Wissenschaft verwendet wurden. Ich will damit sagen, dass eine falsche Soziologie aufgebaut wurde.“

Im Vorwort wird Öcalans Standpunkt so markiert: Seine Kritik setze an der »wissenschaftlichen Methode« an, die sich auf dem Dualismus zwischen Subjekt und Objekt gründet. „Dabei wurzeln die Dualismen zwischen Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Materiellem und Spirituellem, Körper und Materie bereits in der griechisch-römischen philosophischen Tradition, also lange vor dem Aufstieg des Kapitalismus.“ Auch wende sich Öcalan in seiner Suche nach Antworten der Geschichte zu, aber für ihn sei die von Imperien, Kolonialismus und Imperialismus die größere Geschichte. Die Geschichte der Institution des Staates sei engstens mit dem Aufstieg der Imperien verbunden. Die Gemeinschaften gingen den Staaten voraus und tatsächlich waren es ihre Arbeit und ihr natürliches Potential, die die Staaten und Reiche der verschiedenen Zivilisationen überhaupt erst möglich machten.

Zum Problem Krisen schreibt Öcalan: „Es gibt nur eine Erklärung für die Krisen, und diese liegt in der Tatsache, dass der Kapitalismus der Todfeind der Wirtschaft ist. Manchmal wird eine Definition von Krisen angeführt, die von Überproduktion herrühren sollen. Auf der einen Seite leidet also ein großer Teil der Menschen an Hunger, auf der anderen Seite gibt es eine Überproduktion! Derartige bewusst geschaffene Krisen sind der Beweis für die Wirtschaftsfeindlichkeit des Kapitalismus. Der Grund ist recht klar: Monopolprofit. Wenn der ihnen überlassene Teil von dem, was die Werktätigen extrem billig produziert haben, als Kaufkraft nicht ausreicht, kommt es zu einer so genannten Krise; richtiger: wurde eine Krise geschaffen.“


Unvergesslicher Marx

„In der marxistischen Soziologie wird der Sieg des Kapitalismus als System auf die wirtschaftliche Produktivität zurückgeführt“, so Öcalan. Demnach sei der Kapitalismus produktiver als alle vorherigen Produktionsweisen, vergrößerte den Mehrwert und schaffte es, ihn in Kapital zu verwandeln. Dies habe zu seinem Sieg geführt. Dass der Marxismus Faktoren wie Geschichte, Politik, Ideologie, Recht, Geografie, Zivilisation und Kultur zu wenig Platz einräumt, könne als sein grundlegender Mangel gelten. „Zweifellos war Marx eine der führenden Persönlichkeiten“, so Öcalan, „die den Kapitalismus analysieren und die Welt von ihm befreien wollten. Doch mittlerweile ist allgemein akzeptiert, dass es den gigantischen Bewegungen für soziale Veränderung, die von ihm inspiriert waren, letztlich nicht gelang, zu etwas anderem als den besten Dienerinnen des Kapitalismus zu werden.“

Seiten 72/73: „Die englischen politischen Ökonomen können wir verstehen. Von den politischen Ökonomen des Landes, in dem der Kapitalismus seinen Sieg errungen hat, können wir erwarten, dass sie die neue Wirtschaft als Modell hinstellen. Dass Karl Marx sich auf dieses Modell konzentrierte und die politischen Ökonomen kritisierte, war bedeutsam und sehr erhellend. Bedauerlich ist, dass Marx’ Werk unvollendet blieb und die ihm nachfolgenden Marxisten ihn völlig karikierten.“


Rebellion für neue Wege

Öcalan fragt: „Kann es ohne Geld gehen? Wodurch könnte es ersetzt werden? Diese und noch viele Fragen mehr können wir stellen. Dass der Kapitalismus überall Profit absaugt, ist nur eine ihrer Formen. Dagegen zu sein, reicht nicht aus, um Sozialist zu sein. Außerdem verspricht das allein auch keineswegs Erfolg. Solange wir nicht alle Formen des Widerstandes und des freien Lebens ineinander verschränkt in Worten und Taten, geradezu wie ein Orchester praktizieren, werden wir nicht weiter kommen als zum Absingen von Liedern…“

In der Einführung durch den Autor lesen wir folgendes: „Wenn wir uns also vom Kapitalismus befreien wollen, müssen wir vor allem anderen seine gebetshaften Losungen zurückweisen. Zu den genannten heiligen Phrasen des Kapitalismus gehört zunächst die ›wissenschaftliche Methode‹, die er uns aufnötigt. Diese Methode ist nicht die Ethik oder ›Moral der Freiheit‹, die durch das gesellschaftliche Leben herausdestilliert wurde und ohne die keine menschliche Gesellschaft jemals existieren kann. Ganz im Gegenteil handelt es sich um die Mentalität eines im höchsten Grade versklavten Lebens, welche das gesellschaftliche Leben negiert und sinnentleert und zu seiner Zerschlagung und Zerrüttung führt; es ist die materielle und ideelle Kultur, die diesem Leben zugrunde liegt.“

Daraus schlussfolgernd: Rebellion möge die Schwester der gleichermaßen wichtigen Pflicht zum Wiederaufbau unserer Lebensbedingungen sein. Dieser Wiederaufbau der Bedingungen menschlichen Lebens sei nur in kommunitären sozialen Ordnungen möglich.

Es gebe eine Reihe von Anzeichen, dass das System an sein Ende gelangt, und wirklich weise Menschen seien derselben Überzeugung. Das eigentliche Problem sei, welche tragfähigen, freiheitlichen, demokratischen und egalitären Auswege aus dem Chaos in der Gesellschaft Fuß fassen werden. In einer Zeit, da selbst das kapitalistische System versuche, sich vor sich selbst zu retten, wäre es verständlich, dass man beim Aufbau der Gesellschaftlichkeit besonders sorgfältig vorgehen müsse. „Die Sozialismen aus zweihundert Jahren wurden vom Kapital assimiliert. Ihre Kämpferinnen und Kämpfer besaßen große Menschheitsideale und verdienen, dass wir ihrem Andenken treu bleiben. Also müssen wir alles dafür tun, verhängnisvolle Fehler zu vermeiden, um nicht ein ähnliches Schicksal heraufzubeschwören.“ Und mehr als das: man dürfe nicht so tun, als hätten Sokrates, Buddha und Zarathustra ihr letztes Wort gesprochen und schwiegen nun. „Wenn wir die Umsetzung ihrer Ideen nicht für aktuell halten, dann haben wir von der Philosophie der Freiheit nichts verstanden. Wenn wir auf den Schmerz und das Ächzen der Menschheit nicht reagieren, wenn wir den Raubbau an der Natur nicht stoppen, wenn wir keine Antwort auf den Verrat an der Liebe finden – von welchem Leben reden wir dann überhaupt?“
Dank an Öcalan

Großartig: Der Inhaftierte, einsam auf einer Insel, hört nicht auf, nach dem Sinn des Lebens zu forschen. Er stellt Fragen und sucht nach Lösungen. Er bietet jenen mutig die Stirn, die ihn als einen Gefährder ihrer Profitinteressen anprangern, die ihn auslöschen wollen, vor allem seine Schriften. Aber das gelingt ihnen nicht. Wie kann Öcalan als Suchender und politischer Aufklärer da kein Vorbild sein?




Abdullah Öcalan: DIE KAPITALISTISCHE ZIVILISATION. Unmaskierte Götter und nackte Könige. Manifest der demokratischen Zivilisation. Band II, 
Broschiert, 384 Seiten, Unrast Verlag 2019, ISBN-10: 3897710749, ISBN-13: 978-3897710740, 18 Euro

Erstveröffentlichung in der NRhZ

Online-Flyer Nr. 697  vom 20.03.2019




Dienstag, 19. März 2019

Der globale Imperialismus - Linke Zeitung


Entnommen:

Vermögenskonzentration treibt einen neuen globalen Imperialismus voran



VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 18. MÄRZ 2019    ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR


von Peter Phillips – http://www.globalresearch.ca

Übersetzung LZ
Regimewechsel im Irak und in Libyen, Syriens Krieg, Venezuelas Krise, Sanktionen gegen Kuba, den Iran, Russland und Nordkorea sind Ausdruck eines neuen globalen Imperialismus, der von einem Kern kapitalistischer Nationen zur Unterstützung von Billionen von Dollar an konzentriertem Anlagevermögen durchgesetzt wurde. Diese neue Weltordnung des Massenkapitals ist zu einem totalitären Imperium der Ungleichheit und Unterdrückung geworden.

Die globalen 1%, bestehend aus über 36 Millionen Millionären und 2.400 Milliardären, legen ihr überschüssiges Kapital bei Investmentmanagementfirmen wie BlackRock und J.P Morgan Chase an. Die siebzehn führenden dieser Billionen-Dollar-Investmentfirmen kontrollierten 2017 41,1 Billionen Dollar.
Diese Unternehmen sind alle durch Investitionen miteinander verbunden und werden von nur 199 Personen verwaltet, die entscheiden, wie und wo globales Kapital investiert wird. Ihr größtes Problem ist, dass sie mehr Kapital haben, als es sichere Investitionsmöglichkeiten gibt, was zu riskanten spekulativen Investitionen, erhöhten Kriegsausgaben, der Privatisierung des öffentlichen Bereichs und dem Druck, neue Investitionsmöglichkeiten durch politische Regimewechsel zu eröffnen, führt.

Machteliten zur Unterstützung von Kapitalinvestitionen sind gemeinsam in ein System des obligatorischen Wachstums eingebettet. Wenn das Kapital nicht weiter expandiert, führt dies zu einer wirtschaftlichen Stagnation, die zu Depressionen, Bankenpleiten, Währungseinbrüchen und Massenarbeitslosigkeit führen kann.  Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das sich zwangsläufig durch Kontraktionen, Rezessionen und Depressionen anpasst.

Die Machteliten sind in einem Netz von erzwungenem Wachstum gefangen, das ein kontinuierliches globales Management und die Bildung neuer und ständig wachsender Kapitalanlagemöglichkeiten erfordert. Diese erzwungene Expansion wird zu einem weltweit manifesten Schicksal, das die totale Kapitalherrschaft in allen Regionen der Erde und darüber hinaus anstrebt.

Sechzig Prozent der 199 wichtigsten globalen Machtelitenmanager stammen aus den USA, wobei Menschen aus zwanzig kapitalistischen Nationen das Gleichgewicht abrunden. Diese Machtelitenmanager und die damit verbundenen Ein-Prozent-Manager nehmen aktiv an globalen Politikgruppen und Regierungen teil. Sie sind Berater des IWF, der Welthandelsorganisation, der Weltbank, der Internationalen Bank für Zahlungsausgleich, des Federal Reserve Board, der G-7 und der G-20. Die meisten nehmen am Weltwirtschaftsforum teil. Die globalen Machteliten engagieren sich aktiv in privaten internationalen Politikvereinen wie dem Rat der Dreißig, der Trilateralen Kommission und dem Atlantikrat. Viele der globalen Eliten der USA sind Mitglieder des Council on Foreign Relations und des Business Roundtable in den USA. Das wichtigste Thema für diese Machteliten ist der Schutz von Kapitalanlagen, die Versicherung des Inkassos und die Schaffung von Möglichkeiten für weitere Erträge.

Die globale Machtelite ist sich ihrer Existenz als zahlenmäßige Minderheit im riesigen Meer der verarmten Menschheit bewusst.
Rund 80% der Weltbevölkerung leben von weniger als zehn Dollar pro Tag und die Hälfte von weniger als drei Dollar pro Tag. Konzentriertes globales Kapital wird zur verbindlichen institutionellen Ausrichtung, die transnationale Kapitalisten in einen zentralisierten globalen Imperialismus bringt, der von Weltwirtschafts- und Handelsinstitutionen unterstützt und durch das US/NATO-Militärimperium geschützt wird. Diese Konzentration des Reichtums führt zu einer Krise der Menschheit, in der Armut, Krieg, Hunger, Massenentfremdung, Medienpropaganda und Umweltzerstörung ein Niveau erreicht haben, das die Zukunft der Menschheit bedroht.

Die Idee unabhängiger, sich selbst regierender Nationalstaaten wird in den traditionellen liberalen kapitalistischen Volkswirtschaften seit langem als unantastbar angesehen. Die Globalisierung hat jedoch neue Anforderungen an den Kapitalismus gestellt, die transnationale Mechanismen zur Unterstützung eines anhaltenden Kapitalwachstums erfordern, das zunehmend über die Grenzen der einzelnen Staaten hinausgeht. Die Finanzkrise des Jahres 2008 war eine Bestätigung des bedrohten globalen Kapitalsystems. Diese Bedrohungen fördern die völlige Aufgabe der nationalstaatlichen Rechte und die Bildung eines globalen Imperialismus, der die neuen Anforderungen der Weltordnung an den Schutz des transnationalen Kapitals widerspiegelt.

Institutionen in kapitalistischen Ländern, darunter Ministerien, Verteidigungskräfte, Geheimdienste, Justiz, Universitäten und Parlamente, erkennen in unterschiedlichem Maße an, dass die übergeordneten Forderungen des transnationalen Kapitalverkehrs über die Grenzen von Nationalstaaten hinausgehen.  Die daraus resultierende weltweite Reichweite motiviert eine neue Form des globalen Imperialismus, die sich in Koalitionen von kapitalistischen Kernländern zeigt, die sich an vergangenen und gegenwärtigen Bemühungen um einen Regimewechsel durch Sanktionen, verdeckte Aktionen, Kooperationen und Krieg mit nicht kooperierenden Nationen – Iran, Irak, Syrien, Libyen, Venezuela, Kuba, Nordkorea und Russland – beteiligen.

Der Putschversuch in Venezuela zeigt die Angleichung der transnationalen kapitalunterstützenden Staaten an die Elitetruppen, die sich gegen Maduros sozialistische Präsidentschaft stellen. Hier ist ein neuer globaler Imperialismus am Werk, wodurch die Souveränität Venezuelas offen durch eine kapitalimperiale Weltordnung untergraben wird, die nicht nur die Kontrolle über das Öl Venezuelas anstrebt, sondern auch eine volle Chance für weitreichende Investitionen durch ein neues Regime.

Die weit verbreitete Ablehnung des demokratisch gewählten Präsidenten von Venezuela in den Unternehmensmedien zeigt, dass diese Medien im Besitz von Ideologen der globalen Machtelite sind und von diesen kontrolliert werden. Die Unternehmensmedien sind heute hoch konzentriert und voll international. Ihr Hauptziel ist die Förderung von Produktverkauf und prokapitalistischer Propaganda durch die psychologische Kontrolle menschlicher Wünsche, Emotionen, Überzeugungen, Ängste und Werte. Unternehmensmedien tun dies, indem sie Gefühle und Erkenntnisse von Menschen weltweit manipulieren und Unterhaltung als Ablenkung für globale Ungleichheit fördern.

Die Anerkennung des globalen Imperialismus als Ausdruck eines konzentrierten Reichtums, der von einigen hundert Menschen verwaltet wird, ist für demokratische humanitäre Aktivisten von größter Bedeutung.  Wir müssen auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufbauen und den globalen Imperialismus und seine faschistischen Regierungen, Medienpropaganda und Reichsarmeen herausfordern.
Peter Phillips ist Professor für politische Soziologie an der Sonoma State University. Giants: The Global Power Elite, 2018, ist sein 18. Buch erschienen bei Seven Stories Press. Er unterrichtet in Politischer Soziologie, Machtsoziologie, Mediensoziologie, Soziologie der Verschwörung und investigativer Soziologie. Von 1996 bis 2010 war er Direktor des Project Censored und von 2003 bis 2017 Präsident der Media Freedom Foundation.

Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Centre for Research on Globalization (CRG).
https://www.globalresearch.ca/wealth-concentration-drives-new-global-imperialism/5671426






Sonntag, 17. März 2019

Gartenzwerge im Amt - U. Gellermann



GroKo schleicht dem Ende zu

Gartenzwerge statt Geistesriesen


Autor: U. Gellermann
Datum: 18. März 2019

Keine Kinderchöre, keine Jubelfeiern, nicht mal Gedenkreden zum einjährigen Bestehen der aktuellen Großen Koalition. Nur der Staats-Lautsprecher aus Hamburg, die Tagesschau, kann es nicht lassen. Sie interviewt den ziemlich unbekannten Politikwissenschaftler Gero Neugebauer zum Jahrestag der GroKo. Warum den? Neugebauer gilt als Experte der DDR-Forschung. Als einer, der sich mit dem Ende eines Staates gut auskennt. So einer weiß, wie man Trauerspiele in Interviews verpackt: Man macht munter, setzte eine heitere Miene auf und gibt gute Ratschläge: "SPD muss sich als Alternative verkaufen", als habe sich die SPD nicht schon längst komplett verkauft. Und für die CDU glaubt der Politikwissenschaftler zu wissen: "Kramp-Karrenbauer muss Teil der Merz-Anhänger gewinnen". Als habe der Arbeitgeber des Herrn Merz, das US-Finanzmonster BlackRock, nicht schon längst gewonnen: So nahe am politischen Zentrum Deutschlands hatte der Konzern noch nie einen seiner Diener platziert.

Die SÜDDEUTSCHE brandmarkt die GroKo geradezu mit dem Wort "bemüht". Und alle wissen: Mühe allein genügt nicht. Die BILD-Zeitung schreibt von der "Endzeit", und die FAZ entdeckt nicht mehr als "Lösungsversuche". Selbst die halbstaatliche DEUTSCHE WELLE sieht nur eine "große Verunsicherung". Zumeist findet man nur kleine Artikel und noch kleinere Gedanken zum Ende der GroKo in den deutschen Medien. Das Land der Gartenzwerge bringt eben kaum noch Geistesriesen hervor. Dabei wäre es selbst für den unterirdischen deutschen Herrschafts-Journalismus doch ganz einfach: Man sieht sich im Land um, stellt fest, was alles nicht klappt und zieht dann die Bilanz der GroKo. Aber dafür müssten die Damen und Herren von ihren Designer-Stühlen aufstehen, ihre Büros verlassen und sich umschauen. Statt sich nur aus den Meldungen der regierungsfrommen Agenturen zu bedienen. – Machen wir einen Feldversuch.

Man setzt sich in sein Auto und fährt eben nicht los. Denn: "Die Nettoinvestitionen in Deutschland im öffentlichen Bereich sind negativ. Das heißt, die Abschreibung, der Verfall der öffentlichen Infrastruktur ist jedes Jahr größer als das, was wir an zusätzlichen neuen Investitionen tätigen", sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und erklärt so den schlechten Zustand von deutschen Straßen und Brücken. Also umsteigen. Auf die Bahn oder den lokalem Öffentlichem Nahverkehr: Verspätung, Ausfälle, Pläne, Pläne ohne Plan. Denn nahezu überall wurden die Löhne und Gehälter gekürzt und Stellen abgebaut. So kann Verkehr nicht reibungslos funktionieren. Das weiß fast jeder. Nur die deutschen Medien schweigen darüber vornehm.

Also wieder ins Auto, die Kinder müssen zur Schule. Dort aber: Schimmel an den Wänden, einsturzgefährdete Decken, versiffte Toiletten. Stundenausfall ohne Ende. Seiteneinsteiger halten das schlechte Niveau deutscher Schulen mal gerade noch auf der schiefen Ebene. Der Investitionsstau im Bildungsbereich liegt bei 55 Milliarden Euro. Das liegt auch daran, weil man im Gefolge der Agenda 20/10 den öffentlichen Dienst nahe Null runter- und damit an die Wand gefahren hat. Geld ist da. Aber keine Leute mehr, um es sachgerecht auszugeben. Doch Bund und Länder führen derweil ein prächtiges Schauspiel zur Digitalisierung der Schulen auf.

Zwischen 1996 und 2016 sank der Anteil der investiven Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2,5 auf nur noch 2,12 Prozent. Die Staaten der Industrieländerorganisation OECD wenden im Schnitt hingegen mehr als drei Prozent für Investitionen auf. Deutschland müsste seine Investitionstätigkeit um mindestens 40 Prozent erhöhen, um den OECD-Durchschnitt zu erreichen. Brav wird aber immer noch in Rüstung investiert. Die Infrastruktur des Landes verschleisst, die Armee des Landes ist auf Auslandsreisen. Ob der Schulunterricht in Afghanistan besser geworden ist? Oder die Straßen in Mali?

Unter Außenpolitik verstand die GroKo im wesentlichen das militärische Trittbrettfahren: Mal auf dem Brett der USA, auch mal auf dem der Franzosen. In Syrien setzte man frühzeitig auf die Ablösung des Präsidenten Baschar al-Assad. Die Zahl der Kriegstoten wächst dort immer noch. In Afghanistan wartet die GroKo darauf, dass, was und ob die USA etwas unternehmen. Eine eigene, gar eigenständige Außenpolitik? Der aktuelle Außenminister gilt als Reiseweltmeister. Er reiste laut einer Statistik des Auswärtigen Amtes in seiner bisherigen Amtszeit so viel, wie keiner seiner Vorgänger. Gerade war er in Afghanistan. Und sonderte anschließend diesen Satz ab: Er verstehe seinen Besuch als „ein klares Zeichen“ dafür, dass Deutschland zu seiner Verantwortung stehe. Nach Pakistan fuhr er mit diesem Programm: Er wolle "die Gelegenheit nutzen, um in Islamabad nochmals unsere Besorgnis über die jüngsten Spannungen mit Indien zum Ausdruck zu bringen". Gespräche mit den Taliban? Nachdenken über den Abzug der Bundeswehr? Bestenfalls hat Maas über den pakistanischen Ladentisch geguckt und keine billigen Bonbons gefunden.

Die neuen Chancen für eine deutsche Außenpolitik, die sich aus Trump-Shit und Brexit ergeben, kann und will die Bundesregierung nicht sehen. Als Antwort auf die Trump-Schutzgeld-Erpressung raus aus der NATO: Das wär doch mal was. Dann wäre ausreichend Geld für die bundesrepublikanische Infrastruktur vorhanden. Mit dem Brexit raus aus der EU und ihren teuren, umständlichen Bürokratien: Das brächte sicher Geld und Zeit genug, um den Englisch-Lehrern an deutschen Schulen saubere Toiletten zu garantieren.

Eine gewöhnliche deutsche Echse führt den scheinbar sprechenden Namen "Blindschleiche". Doch sie ist nicht blind. Ihr Name wird auf das Althochdeutsche "plintslîcho" zurückgeführt, was so viel wie „blendender/blinkender Schleicher" bedeutet. Die GroKo schleicht ihrem Ende zu. Sie blendet und blinkt nur matt. Ob sie wirklich noch etwas sieht, ist ungewiss.
Dran bleiben...





Angriff auf den IRAN? - Jochen Mitschka



Der nächste Krieg


Alles deutet darauf hin, dass Israel und die USA vorhaben, den Iran anzugreifen.


von Jochen Mitschka
Foto: Tiwa Kanyamee/Shutterstock.com

Werden tausende von Menschen sterben müssen, weil Israels Premier Netanjahu seine innenpolitischen Probleme nicht in den Griff bekommt? Jedenfalls scheint er durch Waffengeklingel verhindern zu wollen, dass er am rechten Rand Wähler verliert. Psychologisch ist der Krieg gegen den Iran allerdings schon länger vorbereitet. Propagandistisch setzen Netanjahus Getreuen auf die Entmenschlichung des Gegners. Der Iran ist nicht willens, sich alles bieten zu lassen, und im Ernstfall wäre Israels Schutzmacht, die USA, sicher mit im Boot. Eine brandgefährliche Konstellation, denn Russland und China wären strikt gegen einen Regime change im Iran, und Europa hätte wie immer nicht den Mumm, sich einem neuen sinnlosen Gemetzel entgegnen zu stemmen.

Der Premierminister von Israel, Benjamin Netanjahu, steht aktuell wegen Korruptionsvorwürfen unter großem innenpolitischen Druck, und zusätzlich stehen in Kürze vorgezogene Parlamentsneuwahlen an. Netanjahu wurde bereits einmal verdächtigt, einen Krieg aus innenpolitischen Zielen vom Zaum gebrochen zu haben, und er wäre nicht der erste Regierungschef mit dieser Strategie. Außerdem haben die USA haben ein Raketenabwehrsystem vom Typ THAAD nach Israel gebracht, zusätzlich zum israelischen „Iron Dome“, und Netanjahu erklärte, dass die israelische Marine iranische Öltanker blockieren würde, was einer Kriegserklärung gleichkommt. Wie ernst ist die Lage?

In meinem Buch „Der Krieg gegen den Iran“ beschreibe ich die Aggressionen, welche die USA und Israel, aber auch Saudi-Arabien, gegen den Iran betreiben, wie der Krieg seit dem CIA-Putsch im Jahr 1953 niemals endete und einen Höhepunkt fand im Angriffskrieg des Irak mit Hilfe der USA gegen den Iran kurz nach der Revolution.

War es nun, nach Ermordung von Atomwissenschaftlern, CyberWar-Angriffen auf die Atom- und Ölindustrie, dem Bruch des Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA, und den auf ein historisches Hoch gestiegenen Sanktionen der USA, wieder einmal Zeit für einen heißen Krieg? Schließlich hatte sich der Iran in so vielen Bereichen, trotz der zerstörerischen Sanktionen, wissenschaftlich eine immer größere Autarkie erlangt, und war zuletzt wirtschaftlich durch China und Russland sowie andere Staaten der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit unterstützt worden. Wurde es aus Sicht seiner Gegner wieder Zeit, das Land 20 Jahre in der Entwicklung zurück zu bomben?

Die linke Zeitung Haaretz schreibt über die Korruptionsverfahren gegen den ideologisch rechts außen stehenden Netanjahu: „Dieser Netanjahu Korruptionsfall ist die größte Bedrohung für Israels Demokratie“ (1). Darin verwickelt wären Politiker und Medien sowie ein mafiaähnliches Verhalten zu erkennen. Netanjahu wäre nicht der erste Premierminister, der wegen Korruption eine Gefängnisstrafe erhält. Ehud Olmert und Ariel Sharon waren beide in Korruptionsverfahren mit Millionensummen verwickelt.

Dieses Mal spielte nicht Geld die größte Rolle, sondern eine den Premierminister günstig darstellende Medienberichterstattung, möglichst verbunden mit schlechter Presse für politische Konkurrenten. Und so steigt die Spannung, was Netanjahus nächster Schachzug sein wird. Wobei man berücksichtigen muss, dass ein Korruptionskapitel noch gar nicht so weit gereift ist, um es zu einer Anklage zu erheben: Die geschenkten und mit deutschen Steuergeldern teilsubventionierten U-Boote, welche zu Kernwaffenträgern umgebaut wurden (2).

Was die Wahlen angeht, könnte Netanjahu durchaus ebenfalls Probleme bekommen. So wurde zwar ein linker Kandidat von den Wahlen ausgeschlossen (3), ein rechtsextremer Kandidat jedoch zugelassen und von Netanjahu hofiert. Der Kahanismus wird von Wikipedia wie folgt definiert: „Sie mischt Ultranationalismus mit religiösem Fundamentalismus, Rassismus und Rechtfertigung von Gewalt“ (4). Mit anderen Worten rückt Netanjahu immer weiter in die extremistische rechte Ecke. Nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass ein anderer, mit offen rassistischen und elitaristischen Argumenten werbender ehemaliger General droht, ihm Wähler abspenstig zu machen.

Die Entmenschlichung von Israels „Feinden“



So wurde bekannt, dass vor den Wahlen in Israel Anzeigen auftauchten, die fordern, die blockierte Region von Palästina „in die Steinzeit zurück zu bomben“. Und „Der ehemalige Armeechef von Israel, Benny Gantz, prahlte während des Wochenendes in einer Serie von Wahlvideos für seine neue Partei in den Sozialen Medien damit, wie stark er die Zerstörung und Tötungen gegen die blockierte Region von Aboringina vorangetrieben hätte. Er hofft bei der nächsten für April vorgesehenen Wahl Benjamin Netanjahu als Premierminister von Israel abzulösen“ (5).

Ein Video trug den Titel: „Teile der Region von Palästina wurden zurück in die Steinzeit gebracht.“ Ein anderes Video prahlte mit außergesetzlichen Tötungen von Anführern der anti-kolonialen palästinensischen Widerstandsbewegung. Diese Entwicklung spiegelt sich in der Gesellschaft wider. Das zeigte sich nicht nur in der Tatsache, dass kaltblütige Mörder von bewegungsunfähigen Palästinensern wie Nationalhelden verehrt werden (6), sondern ist auch empirisch nachweisbar. David Sheen veröffentlichte ein Video (7) über die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung des Wählerverhaltens und der israelischen politischen Parteien. Darin wird deutlich, dass die israelische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten immer stärker der Angst erzeugenden, rassistischen und menschenverachtenden Propaganda eines rechtsextremen zionistischen Establishments erlag.

Ohne diese Entwicklung wäre auch undenkbar, dass Israel hunderte von unbewaffneten Demonstranten an der Grenze zu Gaza tötete, und hunderte, wenn nicht inzwischen über eintausend verstümmelte. Nachdem bereits im Jahr 2016 bekannt geworden war, dass die israelische Armee Demonstranten gezielt in ein Knie schießt, um sie zu verkrüppeln, so dass sie ein Leben lang eine Belastung für ihre Gesellschaft und das Gesundheitswesen sind, und darüber ausführlich berichtet worden war (8, 9, 10), fiel im Jahr 2018 die große Zahl an schrecklichen Verwundungen bei den Demonstranten an der Grenze Gazas zu Israel auf, die zu unzähligen Amputationen führten.

Jason Cone, der Exekutivdirektor von Ärzte ohne Grenzen (USA) hatte am 11. Mai 2018 erklärt, welche Verwundungen die Munition der israelischen Scharfschützen bei unbewaffneten palästinensischen Demonstranten, die an der Grenze für ihr von der UNO bestätigtes Rückkehrrecht demonstriert hatten, verursachten.

„Die Austrittswunde des Geschosses hat die Größe einer Faust. Der Knochen wurde pulverisiert. Das ist die Realität für die Hälfte der verletzten Patienten, die in den Kliniken meiner Organisation seit Beginn des Großen Marsches in Gaza behandelt wurden“ (11).

Um nur ein Beispiel zu nennen, wie die systematische Entmenschlichung der Gegner Israels in der Gesellschaft zu einer weitgehenden Passivität und Akzeptanz der angewandten Gewalt führte, die nun zum Lackmustest führen könnte, der Akzeptanz eines Krieges gegen den Iran.

Die militärische Komponente



Rein zahlenmäßig erscheint der Iran Israel auf dem Meer weit überlegen. Während der Iran 40 U-Boote besitzt, sind es in Israel nur vier oder fünf. Diese haben es aber in sich. Irans Boote sind selbst gefertigte leichte U-Boote mit beschränkter Bewaffnung und technologischer Fähigkeit, hingegen besitzt Israel modernste deutsche High-Tech-U-Boote, teilsubventioniert durch deutsche Steuern, die sogar zu Kernwaffenträgern umgebaut wurden. Daher stellt Israel durch seine atomare Bewaffnung mit mehr als 200 atomaren Bomben, Raketen und Marschflugkörpern eine existenzielle Bedrohung für den Iran dar.

Die iranischen Schnellboote sind eher für einen Einsatz in Küstennähe und „in großen Rudeln“ gedacht. Die israelischen Schnellboote sind größer und mit wesentlich mehr High-Tech aufgerüstet worden, seit sie in den 1970er Jahren in Betrieb genommen worden waren. Die Patrouillenboote Israels entsprechen ungefähr der Größe der iranischen Schnellboote. Dabei ist interessant, dass Israel sogar zwei unbemannte Boote im Einsatz hat.

Ein entscheidender Vorteil dürfte jedoch die Luftunterstützung durch die Luftwaffe der Marine sein. Insofern könnte Netanjahu durchaus glauben, iranische Tanker blockieren zu können. Falls es dabei zur Versenkung eines Tankers, zu einer Umweltkatastrophe und einem sich eskalierenden Krieg kommt, sollten wir nicht vergessen, wer die wichtigsten Marineeinheiten, teilweise subventioniert durch deutsche Steuergelder, zur Verfügung gestellt hat.

Die Propaganda für den Krieg



In einem Artikel von Philip Giraldi, übersetzt durch die Linkezeitung, wird deutlich, wie „pro-Israel-Stiftungen in Washington einen US-Krieg mit dem Iran vorantreiben“ (12). Giraldi beginnt damit zu erklären, wie geschockt er über einen Artikel in der Times war, der wie ein Abklatsch der gefälschten Geheimdiensterklärungen wirkte, die von 2001 bis 2003 gegen den Irak eingesetzt worden waren. Er erklärt dann, dass es zunächst nicht möglich gewesen war — wie von Netanjahu geplant — Europa für einen Krieg während der kürzlich stattgefundenen Konferenz in Warschau zu begeistern. Dann schreibt er über die Arbeit der Stiftungen, die sich für einen Krieg gegen den Iran einsetzen:

„Sie suchen Vorwände aus verschiedenen dunklen Ecken, darunter Behauptungen, dass der Iran betreffs seines Atomprogramms betrügt, dass er ballistische Raketen entwickelt, die es ihm ermöglichen, seine geheimen nuklearen Sprengköpfe an Ziele in Europa und sogar in den Vereinigten Staaten zu schießen, dass es sich um eine repressive, diktatorische Regierung handelt, die einem Regimewechsel unterworfen werden muss, um das iranische Volk zu befreien und ihm Demokratie zu geben, und, was am wichtigsten ist, Kriege und Bedrohungen gegen US-Alliierte im gesamten Nahen Osten provoziert und unterstützt“ (13).

Dann veröffentlichte die Washington Times einen Artikel mit dem für Insider verrückt klingenden Titel: „Exklusiv: Die Allianz des Iran mit Al-Kaida kann die rechtliche Rationale für US-Militärschläge liefern“ (14). Im Artikel wird behauptet, dass der Iran Al-Kaida Waffen, Geld und Rückzugsgebiete zur Verfügung stellen würde, weil es gegen einen gemeinsamen Feind, die USA, gehen würde. Nun könnte man sich fragen, wie es zu der absurden Behauptung kommen konnte, wo doch der Iran einer der schärfsten Gegner von Al-Kaida — nicht nur in Syrien — ist. Nun, es geht darum zu erreichen, dass der Iran irgendwie unter die US-interne Gesetzgebung fällt, mit der der „Krieg gegen den Terror“ erlaubt wird. Denn nach einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen, darf der Präsident nicht nur gegen Terrororganisationen, sondern auch „assoziierte Gruppen“, sprich nun also den Iran, in den Krieg ziehen.

Nun vergleiche der Leser diese Theorie mit der Tatsache, dass Al-Kaida am 13. Februar 2019 im Südosten des Iran einen Anschlag verübte, bei dem 27 Revolutionswächter getötet wurden. Aber da sogar schon einmal ein Sicherheitsratsbeschluss gegen den Iran auf Grund gefälschter Beweise verabschiedet worden war (15), dürfte es kein Problem sein, auch dieses Konstrukt der angeblichen Zusammenarbeit von Al-Kaida und dem Iran zu beweisen.

Wir haben bisher nur über den Iran gesprochen. Aber es gibt auch Analysten, die einen Krieg Israels gegen den Libanon für wahrscheinlich halten. So glaubt Chris Doyle in 7DNews, dass die Hisbollah im Libanon inzwischen so stark wurde, dass Israel zwar eigentlich vor einem Krieg zurückscheut. Andererseits wächst nach Ansicht Israels die Bedrohung durch den Libanon mit jeder modernisierten Rakete, und keine Regierung der USA hat in der Vergangenheit Israel so in seinen Kriegen gegen die Nachbarländer unterstützt wie die derzeitige Trump-Regierung. So dass ein Krieg im Jahr 2019 erfolgversprechender erscheinen könnte als zu einem späteren Zeitpunkt. Dennoch hält der Autor einen geplanten Krieg für weniger wahrscheinlich. Nicht aber einen versehentlich eskalierten.

„Ein Krieg aus Versehen ist jedoch eine andere Sache. Mit einer solchen Eskalation und der Nähe der Kräfte, können selbst unschuldige Signale und Aktionen fehlinterpretiert werden.“

Und wahrscheinlicher wird ein heißer Krieg



Es sind nicht nur die Fakten und die Geschichte, die ich in „Der Krieg gegen den Iran“ beschrieben habe, sondern aktuelle und neue Analysen von Kennern der US-Politik. So fragt Bob Dreyfuss in Consortium News „Ist ein Krieg mit dem Iran am Horizont?“ und bejaht im Artikel im Prinzip seine eigene Frage.

„Es ist besorgniserregend, aber die Antwort ist ja, und ja. Auch wenn Westeuropa sich in Opposition zu einem zukünftigen Konflikt mit dem Iran aufgestellt hat, obwohl Russland und China sich dagegen stemmen würden, und selbst wenn die meisten Außenpolitikexperten in Washington durch den Ausbruch eines solchen Krieges in Schrecken versetzt würden, es könnte passieren.

Trotz der steigenden Spannungen der Trump-Regierung mit Venezuela und auch mit Nordkorea, ist der Iran der wahrscheinlichste Brennpunkt für Washingtons nächsten Bombenkrieg. Jahre, gefüllt mit der Politik anti-iranischer Hetze könnten in den Gesichtern von Präsident Trump und seiner schärfsten Kriegsbefürworter, des Außenministers Pompeo und dem Sicherheitsberaters John Bolton, explodieren und einen Konflikt mit potentiell katastrophalen Folgen auslösen“ (16).

Der Bericht zeigt auf, dass rational denkende Experten in der Regierung fehlen, und wie sich der Konflikt schnell auf viele Länder ausbreiten würde. Und bei dieser Politik der Destabilisierung des Iran, der Unterstützung unterschiedlicher Exilgruppen, darunter auch Terroristen, wie der Autor vermutet, gäbe es drei Zünder, die für eine Eskalation sorgen könnten.

Da wären zunächst die hunderte Luftschläge Israels gegen Syrien, mit dem erklärten Ziel, den Iran zu treffen. Sie waren bisher praktisch ohne Antwort aus Teheran geblieben.

„Das könnte sich jedoch ändern, wenn sich die Hardliner im Iran entschließen, zurück zu schlagen. Sollte dieser glimmende Konflikt explodieren, hätte da irgendjemand Zweifel daran, dass Präsident Trump sich sofort auf die Seite Israels schlagen würde, oder dass die Demokraten im Kongress schnell dem Locken der Regierung erliegen würden, den jüdischen Staat zu unterstützen?
Außerdem ist Irak eine weitere mögliche Zündschnur. Im Februar sagte ein stürmischer Trump in der Sendung Face the Nation der CBS, dass er beabsichtige, US-Kräfte im Irak zu belassen ‚weil ich etwas auf den Iran aufpassen will, weil der Iran das wirkliche Problem ist‘. Seine Kommentare kamen bei der politischen Klasse des Irak nicht besonders gut an, weil viele der Parteien und Milizen vom Iran unterstützt werden“ (17).

Im Artikel steht, dass Trump gegen den Willen wichtiger Generäle das Pentagon aufgefordert hatte, Optionen für „Vergeltungschläge“ gegen den Iran zu entwickeln. Einige kleine Raketenzwischenfälle von möglicherweise mit dem Iran verbündeten Milizen, die weder Sach- noch Personenschaden verursacht hatten, wurden dann als „lebensbedrohende Angriffe“ aufgeblasen, und könnten jederzeit als Grund für „Vergeltungsschläge“ genutzt werden.

Schließlich, so Dreyfuss, gäbe es den Persischen Golf selbst. Schon immer gab es Befürchtungen für einen Zusammenstoß in diesem Gewässer, die aber bisher immer von beiden Seiten unter Kontrolle gehalten wurden. Im letzten Jahr hatte Trump jedoch General Mattis aufgefordert zu planen, die iranischen Schnellboote „wegzublasen“. Daraufhin hatte der Iran erklärt, seine U-Boote wären in der Lage, Marschflugkörper gegen Marineziele abzufeuern.

Und schließlich wurde wieder die alte absurde Behauptung aufgewärmt, dass der Iran mit Al-Kaida zusammenarbeiten würde. Dann weist der Artikel noch einmal auf die Kriegsrhetorik Netanjahus in Warschau hin. Der Bruch de JCPOA, der Rückzug aus dem Abrüstungsvertrag INF und das allgemeine Verhalten der US-Regierung haben im Iran den Hardlinern Auftrieb gegeben.

Ein Hinweis darauf war die kürzliche Ernennung des neuen Justizchefs des Iran (18), der zu den Falken der Kleriker gehört, was erstaunlicherweise auch die gemäßigten Iraner und die bürgerliche Mitte des Landes nicht als unpassend ansehen, offensichtlich weil viele fest mit einem Krieg rechnen. Und in einem solchen Krieg wird die Hauptlast der Verluste auf den Schultern der konservativen Revolutionsgarden liegen. Weshalb sich die Reihen im Iran zunehmend schließen.

In der Jerusalem Post erschien am 8. März ein weiterer Grund für einen möglichen Krieg mit dem Iran. Da Israel beabsichtigt, die von Syrien besetzten Golanhöhen endgültig zu annektieren, noch mehr jüdische Siedler dort zu platzieren, um die syrischen Einheimischen zu verdrängen, und bereits Ölschürfrechte an eine US-Firma vergeben hat, erklärt Syrien, die Golanhöhen notfalls mit Gewalt wieder unter die syrische Souveränität bringen zu wollen (19). Und man darf annehmen, dass ein solcher Krieg nicht ohne Unterstützung des Iran gewagt werden würde.

Es erscheint schon fast wie ein Wunder, dass es bisher noch keine Eskalation des Krieges gegen Syrien und den Iran gab.

Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-this-netanyahu-corruption-case-is-the-gravest-threat-to-israel-s-democracy-1.6920998

(2) https://www.timesofisrael.com/yaalon-accuses-netanyahu-of-corruption-in-submarine-deal/

(3) https://www.haaretz.com/israel-news/elections/.premium-far-left-lawmaker-banned-from-israeli-election-for-supporting-terror-1.6999656