Zur wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands seit Herbst 1989
von Axel Troost und Klaus Steinitz / RLS Analyse Nr. 48
► VORBEMERKUNG [1]
Die Herstellung der deutschen Einheit durch die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 und der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 setzten in den neuen Ländern einen Adaptions- und Transformationsprozess in Gang, der alle gesellschaftlichen Bereiche, die Arbeit und das Leben der Menschen erfasste und sich über mehrere Generationen erstreckte. In den alten Ländern dagegen stellt sich die deutsche Vereinigung vor allem als Inkorporations- und Integrationsprozess dar, der zudem durch die Entwicklung der EU überlagert wird, insbesondere durch die Krisen, welche die europäische Integration und die Globalisierung in den letzten zehn Jahren begleitet haben, sowie die Herausforderungen, die sich aus der größeren Rolle Deutschlands in Europa ergeben.
Insofern ist die Wahrnehmung der Vereinigungsproblematik in Ost und West grundverschieden, ebenso der Rückblick der Menschen auf die DDR und die frühere BRD. Dies zeigt sich in Differenzen bei der historischen Bewertung der deutschen Zweistaatlichkeit, aber auch in den von Missverständnissen, Verfälschungen und Fehlwahrnehmungen geprägten Debatten um den Solidaritätszuschlag, den Solidarpakt, die Transferzahlungen, den Aufbau Ost, die Staatsverschuldung und anderes mehr. Die kontrovers verlaufende Diskussion ist bis heute nicht abgeschlossen.
[1] Die vorliegende Analyse der Prozesse, Zusammenhänge, Widersprüche und bisherigen Ergebnisse der Vereinigung Deutschlands, vom Herbst 1989 bis heute, stützt sich in einigen Teilen auf das letzte zusammenfassende Kapitel zur ostdeutschen Entwicklung im «Memorandum 2015» der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Für die vorliegende Ausarbeitung wurde die umfassende Literatur zur ostdeutschen Entwicklung und zu den Problemen der deutschen Vereinigung ausgewertet (vgl. Literaturverzeichnis im Anhang).
► Inhalt
Vorbemerkung . . . . . 2
1 Konvergenz und Divergenz . . . . . 3
2 Die widersprüchliche wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands vom Herbst 1989 bis heute . . . . . 5
3 Exkurs zu Problemen der Landwirtschaft und der ländlichen Räume . . . . . 14
4 Vergleich der Entwicklung Ostdeutschlands nach der Vereinigung mit der Transformation anderer ehemaliger staatssozialistischer Länder Osteuropas . . . . . 17
5 Funktion und Wirksamkeit der Treuhandanstalt . . . . . 18
6 Demografische Veränderungen in Ostdeutschland . . . . . 20
7 Fast drei Jahrzehnte vereinigtes Deutschland – Verfassungsziel gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht erreicht . . . . . 22
8 Perspektiven für die weitere Entwicklung in Ostdeutschland . . . . . 27
Literatur . . . . . 34
► 1 KONVERGENZ UND DIVERGENZ
Lange Zeit bestimmten die wirtschaftliche Misere in den neuen Bundesländern sowie die Erfolge und Defizite, Gewinne und Kosten des Zusammenwachsens beider Landesteile den Vereinigungsdiskurs. Eine zentrale Rolle spielten dabei die anfangs getroffenen wirtschaftspolitischen Entscheidungen, die Wirkungen der überstürzten Währungsunion, die fatalen Konsequenzen der Treuhandpolitik für die ostdeutsche Industrie, die Zerstörung der Forschungslandschaft und anderes mehr, wodurch im Osten eine «Vereinigungskrise», im Westen der Republik dagegen ein «Vereinigungs-Boom» ausgelöst wurde.
In der Folge erregten vor allem die hohe Arbeitslosigkeit und der nicht enden wollende Ost-West-Exodus großer Bevölkerungsteile, die Fortschritte bei der Lohnangleichung und beim Konsum in den neuen Ländern bei gleichzeitiger Stagnation der Reallöhne im Westen das öffentliche Interesse. [Anm. H.S.: Reallöhne im Westen haben nicht stagniert, Reallohnverlust kann man doch nicht wegleugnen!]
Mit der Entfaltung der transfergestützten und staatlich subventionierten wirtschaftlichen Dynamik schien der Absturz der ostdeutschen Wirtschaft in den Jahren 1990/91 überwunden und der Osten auf den richtigen Weg gebracht. Aber der Aufschwung erlahmte bereits Mitte der 1990er Jahre und kam gegen Ende des Jahrzehnts, ohne dass das Konvergenzziel erreicht wurde, weitgehend zum Erliegen. Seitdem sind bei der Angleichung an das Westniveau auf den meisten Gebieten nur noch geringe Fortschritte zu verzeichnen. Weder gibt es im Osten (außer Berlin und in Ansätzen Leipzig) eine Metropolenregion noch große, überregionale Wirtschaftscluster, eine nennenswerte Anzahl von Großbetrieben oder Konzernzentralen (außer der Deutschen Bahn), die die Wertschöpfungsintensität fördern könnten. All dies ist – und bleibt auch künftig – im Altbundesgebiet konzentriert, woraus sich das anhaltende West-Ost-Gefälle im Produktivitäts-, Innovations-, Einkommens-, Vermögens- und Lebensniveau weitgehend erklärt.
Aber auch im Westen eskalieren die sozialen und finanziellen Probleme, wächst die Polarisierung zwischen Arm und Reich sowie die regionale Differenzierung. Die tiefen Ost-West-Unterschiede beim wirtschaftlichen Entwicklungsniveau sowie bei den Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen werden durch ein Süd-Nord-Gefälle ergänzt. Zudem versagt die Politik bei der Lösung wichtiger Zukunftsfragen wie Energie wende, Infrastrukturausbau, Digitalisierung, Bildung, Gesundheit, Pflege sowie Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Auch versiegen allmählich die positiven Impulse aus der Vereinigung, die «Vereinigungsdividende» ist verschwunden, während bestimmte Belastungen fortbestehen.
Das Verhältnis zwischen Ost und West ist bis heute nicht frei von Spannungen. Trotzdem bewerteten in einer Umfrage, die 25 Jahre nach dem Mauerfall durchgeführt wurde, 75 Prozent der Ostdeutschen die Vereinigung im Rückblick vom Ergebnis her als positiv; bei den Westdeutschen sind es dagegen nur 48 Prozent. Viele Menschen in Ostdeutschland sehen sich auch materiell als Gewinner der Einheit. Seit 1990 sind fast drei Jahrzehnte vergangen, und die Wahrnehmung des Umbruchs im Osten und der deutschen Einheit ist, verglichen mit früher, eine andere geworden. Dies ist einerseits auf die Zeit zurückzuführen:
Inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen, deren Problemsicht hauptsächlich von Gegenwarts- und Zukunftsfragen bestimmt wird und weniger von der Vergangenheit. Andererseits sind in der Zwischenzeit neue Probleme entstanden, die die alten überlagern. Neue Ansichten, Denkmuster, Lebensstile und Zukunftserwartungen setzen sich durch, alte verlieren an Relevanz. Dazu gehört auch, dass die deutsch-deutsche Geschichte auf neue Art und Weise reflektiert und diskutiert wird.
Nach fast 30 Jahren sind die Menschen im Osten mehrheitlich im vereinigten Deutschland angekommen, obgleich ihre DDR-Herkunft bis heute in der Bundesrepublik als eine Art «Migrationshintergrund» gilt. Für die Westdeutschen dagegen waren der Druck der Umstände und die Dynamik des Wandels viel geringer, weshalb viele glauben, immer noch in der alten Bundesrepublik zu leben. Mit der Akzeptanz der deutschen Einheit ist eine Blickverschiebung verbunden – von der Transformation zur Integration [2] und von der Vergangenheit zur Gegenwart und Zukunft. Im Zentrum stehen heute die deutsche und europäische Integration, während die getrennte, da geteilte deutsche Vergangenheit in den Debatten kaum mehr eine Rolle spielt. Dies betrifft auch den «Sozialismus», von dem 63,4 Prozent der Ostdeutschen glauben, dass er eine «gute Idee» war, die «nur schlecht umgesetzt» wurde, während rund 60 Prozent der Westdeutschen ihn prinzipiell ablehnen.
In der Zeit seit dem Beitritt der DDR sind die Konturen des vereinigten Deutschland relativ klar, auch da, wo es immer noch deutliche Disparitäten und Niveauunterschiede gibt. Hierzu gehören die unterschiedliche Dynamik der wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Entwicklung, die stabilen und sich reproduzierenden wirtschaftlichen und sozialen Diskrepanzen zwischen den Landesteilen sowie politische, weltanschauliche, religiöse, kulturelle und andere Besonderheiten. Setzt man diese in Beziehung zum Vereinigungsprozess, so erweisen sie sich teilweise als Integrationsdefizite [2] und Spätfolgen einer verfehlten, da einseitig an den Interessen des westdeutschen Kapitals ausgerichteten Vereinigungspolitik. Zum Teil resultieren sie aber auch aus säkularen Prozessen oder sind neueren Entwicklungen in der Welt geschuldet. Dies gilt zum Beispiel für das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland, aber auch für Unterschiede in der Klassen- und Schichtzugehörigkeit, bei der Religion, Kultur, hinsichtlich der Repräsentanz der Eliten in leitenden Funktionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie aktuell bei der Wahrnehmung der Migrationsaufgaben.Axel Troost und Klaus Steinitz
_______________________
[2] Anmerkung von KN-ADMIN Helmut Schnug:
Der Deutsche Volksrat setzte am 7. Oktober 1949 die Verfassung der DDR in Kraft, womit die Deutsche Demokratische Republik gegründet war. Deshalb teilten die beiden Mächte Deutschland in zwei Länder auf: die westliche Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die östliche Deutsche Demokratische Republik (DDR). So entstanden zwei deutsche Staaten. Am 13. August 1961 baute die DDR Regierung eine Mauer zwischen sich und der BRD, mitten durch die Stadt Berlin.
Die deutsche Wiedervereinigung oder deutsche Vereinigung (in der Gesetzessprache Herstellung der Einheit Deutschlands) war der durch die friedliche Revolution in der DDR angestoßene Prozess der Jahre 1989 und 1990, der zum Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 führte. Die damit vollzogene deutsche Einheit, die seither an jedem 3. Oktober als Nationalfeiertag mit dem Namen Tag der Deutschen Einheit begangen wird, beendete den als Folge des Zweiten Weltkrieges in der Ära des Kalten Krieges vier Jahrzehnte währenden Zustand der deutschen Teilung.
Wenn man die deutsch-deutsche Geschichte kennt, sollte man m.M.n. NICHT von "Integration", "Integrationsprozess" und "Integrationsdefiziten" sprechen. "Integration" beschreibt einen dynamischen, lange andauernden und sehr differenzierten Prozess des Zusammenfügens und Zusammenwachsens. Daran ist zunächst einmal nichts auszusetzen. Einzelne Menschen und Gruppen werden in die Gesellschaft integriert (Sozialintegration), Integration einzelner gesellschaftlicher Subsysteme bezeichnet man dagegen als Systemintegration.
Im Falle der 16,11 Millionen ostdeutschen Bürger*Innen wäre es aber extrem chauvinistisch, von einem "gesellschaftlichen Subsystem" zu sprechen, das in die Westgesellschaft "integriert" werden sollte - die kleinere Gruppe (Ostdeutsche) in eine großen Gruppe (Westdeutsche), mit all den leider noch immer vorhandenen Ressentiments. Sie würden damit quasi als Parallelgesellschaft ein Schattendasein führen, als Nutzmenschen für das neoliberal verseuchte kapitalistische System westlicher Prägung.
Hier kommt nun der wesentliche Unterschied der Begriffe "Integration" und "Inklusion" zum tragen: Der Begriff "Inklusion" beschreibt in der Soziologie den Einschluss bzw. die Einbeziehung von Menschen in die Gesellschaft. Die normative Verwendung des Begriffs Inklusion im Zusammenhang der aktuellen Ungleichheitsforschung verdeutlicht Martin Kronauer in Abgrenzung zu dem der Integration. Integration gehe von einer vorgegebenen Gesellschaft aus, in die integriert werden kann und soll. Inklusion dagegen erfordere vorab, dass gesellschaftliche Verhältnisse, die exkludieren, überwunden werden.
Andrea Schöb beschreibt das Konzept der Inklusion im Gegensatz zur Integration wie folgt: "Integration und Inklusion bezeichnen vielmehr zwei sich grundlegend unterscheidende sozialpolitische Konzepte und stehen für unterschiedliche Sichtweisen auf die Gesellschaft. Während die Integration davon ausgeht, dass eine Gesellschaft aus einer relativ homogenen Mehrheitsgruppe und einer kleineren Außengruppe besteht, die in das bestehende System integriert werden muss, stellt die Inklusion eine Abkehr von dieser Zwei-Gruppen-Theorie dar und betrachtet alle Menschen als gleichberechtigte Individuen, die von vornherein und unabhängig von persönlichen Merkmalen oder Voraussetzungen Teil des Ganzen sind.
Das Konzept der Integration nimmt also bewusst Unterschiede wahr und verlangt vom Einzelnen, dass er sich an das Mehrheitssystem anpasst, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Die Inklusion dagegen ordnet unterschiedliche individuelle Eigenschaften und Voraussetzungen nicht auf einer Werteskala, sondern betrachtet die Vielfalt und Heterogenität der Gesellschaft als grundlegend und selbstverständlich. Hier muss sich nicht der Einzelne dem System anpassen, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen so flexibel gestaltet sein, dass sie jedem Einzelnen Teilhabe ermöglichen.
Eine inklusive Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der jeder Mensch akzeptiert wird und gleichberechtigt sowie selbstbestimmt an dieser teilhaben kann – unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft, von Religionszugehörigkeit oder Bildung, von eventuellen Behinderungen oder sonstigen individuellen Merkmalen" (Zitat: Andrea Schöb, Definition Inklusion, 2013 >> http://www.inklusion-schule.info/inklusion/integration-und-inklusion.html
► Quelle: ROSA LUXEMBURG STIFTUNG >> https://www.rosalux.de/ >> Publikationen. Erschienen September 2018. Die Bilder und Grafiken im Artikel sind nicht Bestandteil des Originalartikels und wurden von KN-ADMIN Helmut Schnug eingefügt. Für sie gelten ggf. andere Lizenzen...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen