SOLDATEN
FÜR DEN FRIEDEN (Teil sieben)
Leseprobe
aus „AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder“ im 70.
Jahr der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949
Der
Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf,
arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der
NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er
ist seit 1961 sehr glücklich verheiratet.
- Knobelbecher-Zeit
Was ist also zu tun? Das wissen sicherlich die da oben. Henry denkt an die großen Zusammenhänge noch nicht. Jetzt ist er auf den nächsten Augenblick fixiert. Was wird ihn erwarten, den Ahnungslosen? Es ist der 23. November 1954. Erfurt. Ein Jüngling, schmal, etwas blaß, knapp 18 Jahre alt, im hellen und dünnen Sommermantel, ein kleines Köfferchen in der Rechten, meldet sich an einem Kasernentor. Dann ist er drin. Noch weiß er nicht, daß ein Rückzug nicht mehr in Frage kommen wird, selbst bis zum ersten Ausgang werden Wochen vergehen. Eine Schule für zukünftige Offiziere – sie wird ihn und all die anderen Schüler festhalten für drei Jahre, soviel ist klar. Am nächsten Tag geht es bereits in die B/A- Kammer, das heißt Bekleidung und Ausrüstung. Henry sieht die Knobelbecher und ihm zieht sich das Herz zusammen. „Die sollen nun mein Schuhwerk sein, diese klobigen Dinger“, denkt er. Damit nicht genug. Die von der Aufnahmekommission haben wegen der „Militärgeologie“ kaum merklich gegrinst. Ja, bei den Pionieren, da beschäftige man sich mit so etwas, aber dazu wiederum sei er zu schwach gebaut, solle er doch allgemeiner Truppenkommandeur werden, da habe man Befehlsgewalt über alle, über die Infanterie, die Flugzeuge und über die Schiffe, und einer der Offiziere breitet weit die Arme aus ...
- Dem sensiblen jungen Mann wird beinahe schwarz
vor Augen, über andere herrschen, das will er ja gar nicht. Er
spürt, da kommt was auf ihn zu. Doch nun ist es wohl zu spät. Soll
er sich zurückziehen? Feige und kleinmütig? Zurück in den
Betrieb, der ihn so „patriotisch“ verabschiedet hat? Der ihm das
restliche Gehalt von November, etwa 50 DM, erlassen und ihm eine
gute Beurteilung mitgegeben hat?
- „Nach Aussagen des Leiters der Außenstelle
kann seine Arbeit mit sehr gut bewertet werden“, so steht es in
dem Papier. Nein, ausgeschlossen. Er wird, er muß sich durchbeißen.
Sich abhärten, sich standhafter machen. Bedenkt er, daß sich
hinter ihm mit dem Kasernentor auch seine noch nicht einmal gelebte
Jugendzeit schließt, nahezu eingegrenzt und beschnitten wird? Nein,
das erscheint ihm nicht wichtig genug. Und so soll’s denn sein ...
Henry stürzt sich in die Zeit der Fußlappen und der Stiefel. Aus
dem im Sternenbild Schütze geborenen soll nun ein echter Schütze
werden.
Erfurt. Ende November. Henrys 18. Geburtstag. Vormittags werden die Offiziersschüler mit einem H3A (im Volksmund nennt man diesen Lastkraftwagen „Konsumwagen“, weil er nur für einfache Transporte geeignet ist) zum Schießstand gefahren. Vor der Vereidigung und dem ersten Wache schieben ist eine Grundübung mit dem Karabiner zu schießen. Der Chef der Schule, Oberst, ein kräftiger untersetzter Mann, ist persönlich erschienen. Er steht vor der angetretenen Front und zeigt auf seine rechte Schulter, hier, da habe Gott ein Loch gelassen, dort müsse man den Kolben des Karabiners stramm einziehen. Sehr amüsant und witzig. Einfach toll. Etwas billig das Ganze. Henry denkt sich sein Teil. Der Herbstnebel drückt außerdem aufs Gemüt. Am späten Nachmittag sitzen ein paar Kumpels mit Henry – u.a. Waldemar - auf Holzkisten in der HO-Verkaufsstelle der Schule und stoßen mit Sekt an, den Henry von seinem letzten Taschengeld spendiert hat. Seine Mutter schickte ihm einen Brief: „Wir gratulieren Dir von ganzen Herzen und wünschen viel Freude und Erfolg für Deine Zukunft. Vor allem bleib uns recht gesund, und laß niemals Kopf hängen ... Wie es ist bei Euch Essen?“
Anfang Dezember. Die Ausbildung hat begonnen. Mal draußen, mal drinnen. Die Holzschemel in der rechten Hand und Abmarsch in die nicht sehr warmen Garagen, wo die Schüler Lektionen über Taktik, u.a. über das Thema „Angriff“ und „Verteidigung“ - mal unter normalen, mal unter atomaren Gefechtsbedingungen - hören. Henry hat manchmal sein kleines Bild vor Augen, daß er seit Kindheitstagen in sich trägt: Das Haus am Fluß, eine grüne Wiese. Idylle. Menschen, die zufrieden und bescheiden leben, einfach gut miteinander sind. Jetzt erhält sein Traumbild ganz langsam Tiefe und Weite, eben Profil. Mit Zugewinn an Wissen in der Dialektik, der Geschichte und der Politik und Militärpolitik.
- Der erträumte Humanismus – er bekommt langsam Konturen, Vortrag für Vortrag, Seminar für Seminar. Erkenntnisse, die ihn mitunter innerlich erschrecken, aber auch befriedigen, da Logik dahintersteht und ein Schuß guter Hoffnung für die Zukunft, da Kriege nie mehr sein sollen. Aber der Offiziersschüler – den anderen geht es nicht anders – ist oft müde, sitzt meistens in den hinteren Reihen, der Kugelschreiber rutscht nicht selten über das Blatt zum unteren Rand, hinterläßt verdächtige Krakel ... Dann endlich - der erste Ausgang! Aber nur in der Gruppe und nur nachmittags zum Fußballspiel. Was die da auf dem weiten Feld so treiben, das kann dem Henry gestohlen bleiben. Spaziert viel lieber umher im Stadion und glotzt unbeholfen, um irgendwo ein paar Mädchenbeine zu erspähen. Beinahe hätte er nicht mitgedurft. Besitzt nur braune Halbschuhe, wo doch schwarze Vorschrift sind. Kurzerhand hat er sie mit schwarzer Schuhcreme „eingefärbt“, was am Kontrolldurchlaßposten aber nicht auffiel.
- Zum Inhalt
Ausgangssituation
ist Schweden und das Haus, in dem die Ziebells wohnen. Der Leser
erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus
Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von
der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin
(Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben
in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen
Pioniere mit Wilhelm Pieck.
Die Lehrzeit
wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit
Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem
Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er
seine spätere Frau kennenlernte.
Wie lebt ein
junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken
und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten
Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn
mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr,
für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als
einfacher Arbeiter tätig zu sein.
Durch
Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des
Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz.
Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren
Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als
Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen
ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines
Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken.
Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der
Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.
Die spätere
Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“
macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen
Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven
Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR
nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989
seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie
mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen,
sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr
wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts
der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr
relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis
stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an
der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die
erwarteten Schlussfolgerungen zieht.
Nach der
Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria
und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu
wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach
Schweden.
Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen,
so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin,
machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“
nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und
politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten
aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien,
politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen
Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender!
Harry
Popow:
AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck:
epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum
18.02.2019, ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro
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