Donnerstag, 28. Oktober 2021

DAS RÄTSELHAFTE DENKE-MAL - Textauszug 2 - H.P.

 ZUVOR AKTUELLES::


https://linkezeitung.de/2021/10/29/null-toleranz-fuer-die-ampel/


https://linkezeitung.de/2021/10/29/kramp-karrenbauer-droht-russland-mit-nuklearwaffen/



https://linkezeitung.de/2021/10/29/jetzt-wirds-absurd-die-usa-verkuenden-dass-nur-russland-der-eu-in-der-gaskrise-helfen-kann/


Aus dem Buch "Der Mensch im Teufelskreis - Dr. FAUSTUS Auferstehung" / Autor: Harry Popow



EIN RÄTSELHAFTES

DENKE-MAL

Diese Geschichte begab sich, sagen Zeitzeugen, als sich in jüngster Zeit (2020/2021) über Land und Leute, gar über den ganzen Planeten, eine unheimliche Stille ausbreitete – eine tödliche. Ein Virus ging um, und die Menschen verschanzten sich hinter Mundmasken und hinter den Mauern ihrer Häuser. Wie so oft in Gefahrensituationen beschlich den einen oder anderen diese oder jene Erinnerung, als es noch menschengemachte tödliche und maschinell betriebene Abschlachtungen gab.


Zweiter Textauszug:


S: 27-31

Die Skulptur „Der Bogenschütze“ ist das Modell für eines der bekanntesten Werke des Rixdorfer Künstlers Ernst Moritz Geyger (1861–1941). Das Original steht im Schlosspark von Sanssouci.

Manchmal träumt er, der alte Bogenschütze: An seiner fast vier Meter hohen Skulptur im schönen Park Sanssouci strömen die Touristen zuhauf vorbei, begutachten die starke jugendliche Figur, doch dicht daneben sitzt am Wegesrand auf einem Hocker er, der einstige echte Bogenschütze, den Hut in die Stirne gezogen, neben sich im niederen Gras im Auftrag von Verlagen zahlreiche Sachbücher gegen Krieg und Kriegsgeschrei. Zum Verkauf. Die Bücher, die sieht man nicht, aber man vermisst einen Hut vor dem Alten. Und so gehen sie verständnislos weiter, die vorwiegend mit ihren Smartphone mit sich selbst beschäftigten jungen Leute...

Ungläubig scheint auch die Figur des Denke-Mals dreinzuschauen. Streift dessen Blick in dankbarer Erinnerung den am Wegesrand hockenden Schützen? Als wolle er fragen: Ist der Mut des Neubeginns vergessen? Fragt niemand nach dem Warum und Wofür und Wohin? Sind Inhalte nicht mehr gefragt? Triumphieren Oberflächlichkeit, Belanglosigkeiten. Substanzloses Gerede wie Freiheit, Demokratie, Verantwortung in der Welt übernehmen - alles eingängige aber hohle Worte? Ohne Maskierungen hat das Kapital keine Chance. Es braucht die Täuschung, die Schminke. Doch man könne den Hintern schminken wie man will, es wird kein ordentliches Gesicht daraus, so zitierte Kurt Tucholsky in „Schloß Gripsholm“ seinen Freund Karlchen.

Da entdeckt er, der echte alte Bogenschütze, eine Figur, der er bereits als ganz junger Mann begegnet war. Im Traum natürlich. Ob auch dieser FAUST sich an diesen jungen literaturbeflissenen Schnösel erinnern mag?

Während FAUST nicht ohne Neugier die Polizisten schmunzelnd beobachtet ob ihres ängstlichen Getues, grübelt er, ob er diesen Namen „Denke-MAL“ schon einmal vernommen hatte. Es muss schon viele Jahre her sein. Zu einer Zeit, als Goethe wohl mit seinem Spruch, „freies Volk auf freiem Grund“ breitesten Widerhall bei vielen Menschen gefunden hatte. Als Geist spürte FAUST seit jeher, wie er in dem bekannten FAUSTBUCH von Goethe gelesen und verstanden wurde, was ja mitunter in den Jahren des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht selbstverständlich war. Und so blitzte es in seinem alten Hirn als angenehme Erinnerung auf. Tatsächlich, dieser Bogenschütze las den FAUST sogar in Arbeitspausen, hatte das kleine Reclameheft gar in der Hosentasche verstaut. Insgeheim hatten beide wohl eine innige geistige Freundschaft geschlossen.

Soeben will FAUST sich wieder auf den Weg begeben, um einen Unterschlupf zu suchen, unbehelligt von irgendwelchen Maskensuchern, da hört er das bereits hinter ihm liegende Denke-Mal rufen: “Ich habe sie erkannt, lieber FAUST. Kann doch wohl nicht wahr sein, dass sie aus ihrer Gruft hervorgekrochen sind, um etwa unsere moderne Gesellschaft kennen zu lernen? Es gibt viel zu erzählen. Aber das wird schwierig sein, denn man will meine Wenigkeit als DENKE-MAL völlig isolieren und möglicherweise einen Zaun um mich herum als steinerne Mauer errichten. Deshalb gebe ich ihnen, lieber Herr Dr. FAUSTUS, den Rat, sich ganz alleine umzuschauen, zu beobachten, zu erkennen, zu urteilen. Gehen sie auf die Straße. Und wenn Sie Lust und Zeit haben, dann kommen sie zu mir, und wir sprechen über alles. Der Drahtzaun oder die Mauer soll kein Hindernis sein, genau so wenig wie eine einstige Mauer manche davon nicht abhielt, sie trotz Verbote und im Glauben, das Paradies zu finden, zu überwinden. Ich lasse mich nicht einschüchtern und bin bereit, ihnen neben ihren eigenen Erfahrungen und Beobachtungen die Wahrheit über unsere Geschichte ab dem 19. Jahrhundert zu sagen. Nur ein Tipp: Suchen sie Freunde, Gleichgesinnte. Nur gemeinsam macht es schließlich Spaß, Neues zu entdecken.“



FAUST bedankt sich, stellt dem Bogenschützen allerdings vorläufig noch eine letzte Frage: „Warum spannst du den Bogen und gegen wen richtet sich der Pfeil?“


Das DENKE-MAL vertröstet ihn auf ein späteres Gespräch, denn das sei eine der wichtigsten Fragen, die in Ruhe besprochen und durchdacht sein müssen. FAUST solle auf die Straße gehen, viel beobachten, sich auch amüsieren und viel nachdenken. „Man sieht sich“, verspricht FAUST dem steinernen Monument, nicht ahnend, das auch diese Erinnerung, ebenso wie ein einstiges „Gespenst“, das nach wie vor in der Welt warnend seine Stimme erhebt, bald wieder einmal rücksichtslos verteufelt werden würde.

Dr. FAUST, aufgeschreckt durch die bisherigen Erlebnisse mit den Polizisten, die auf der Jagd nach Menschen ohne Masken seien, erbittet wissbegierig und mit Nachdruck um Auskunft, was denn nun in der Welt los sei. Er nimmt den Rat gerne an, sich im Volk um zu sehen, in der täglichen Praxis das Geschehen zu erkennen und zu beurteilen.

„Gut“, erwidert der Bogenschütze, „dann will ich Dir, wir können doch Du zueinander sagen, eine persönliche Beobachtung erzählen, die noch aus alten guten Zeiten stammt. Von einem Ehepaar will ich kurz erzählen, das ich oft beobachtet habe in diesem schönen Park, willst du das hören?“

FAUST nickt. Aber ja, das sei interessant, nichts ist wichtiger, als die Menschen kennen zu lernen, die hier leben oder im Park spazieren gegangen sind. Vergangenes ist immer interessant. So odr so. Es kommt doch wohl auf die Sicht darauf an. „Ich höre...“

Der Bogenschütze senkt den steinernen Kopf und erinnert sich: Er denke an den Anfang seiner beruflichen Laufbahn. Tatsächlich, da sah er gerne in den FAUST Teil 1, und er vermerkte im Laufe der Zeit, dass er mit der Gesellschaft gut im politischen Einklang stand. Widersprüche - ob persönliche oder gesellschaftliche - , die es immer gibt, mussten gesehen, gründlich beachtet und gemeistert werden, was aber leider nicht immer gelingt.

Und später, als er zum Denkmal gekürt wurde, sieht er oft dieses schöne Bild vor sich: Sooft sie Zeit haben, spazieren zwei junge Leute am Denkmal vorüber in diesem herrlichen und weitläufigen Park. Und immer, wenn sie an ihm, den Bogenschützen, vorbeikommen, verharrt Greta, so nennt er seine Geliebte, schweigend und versonnen vor ihrer wunderschönen Lieblingsskulptur. Und wenn ihr Blick auf den muskulösen Waden haften bleibt, dann kann sie nicht anders, dann stellt sie Vergleiche an, und die fallen recht schmeichelhaft aus für den Buchnarr, gesteht sie. Du bist mein Bogenschütze, du musst mich beschützen, glaubt er in ihren schalkhaften Augen und in ihrem stillen Lächeln zu lesen …

Ja, so war das, erinnert sich der Schütze und FAUST hört interessiert zu. Also damals - der Bogenschütze sieht den beiden träumend hinterher: Greta, die „Plauener–Spitzen-Frau“ und ihr „Buchnarr“, wandern weiter auf ihren so sehr vertrauten Wegen im Park von Sanssouci und schweigen und reden und reden und schweigen. Und dann und wann sprechen sie auch darüber, erzählte er später – irgendwann wird ihr Glücksweg abbrechen, wird ein Pfad abzweigen, und den muss einer alleine gehen, während der andere hoffnungslos zurückbleiben muss. Was dann? Alleine, einsam, durch die Landschaft schleichen wie ein geprügelter Elch? Was zu tun bleibt, das wissen sie. Sie werden es denen da oben gleichtun, denn dort am blauen Herbsthimmel ziehen weiße Schwäne wieder in langer Kette nach Süden. Greta und der Alte werden in der Erinnerung ihrer Kinder bleiben... Sehr lange Zeit.

FAUST nimmt sich vor: Er wird sehen, bedenken und erkennen. Er will nicht mehr rettungslos weder wildem Streben noch irgendwelchen Verlockungen von modernen Mephistos erliegen. Man wird sehen: Er will an sich arbeiten, sich selbst ändern und – wenn möglich – den heutigen Menschen des 21. Jahrhunderts eigene Erfahrungen übermitteln. Aber welche? Das ist ihm völlig unklar. Umso gründlicher muss er mit viel Geduld und Mühe hinschauen was Sache ist. Dabei freut er sich schon darauf, gute Freunde zu finden.

In ihm ist die Neugier für diesen Buchnarr und seine gleichgesinnten Bekannten geweckt und er fragt sich, ob er ihn und seine Greta, diesen Namen erinnert ihn an sein Gretchen in Goethes „FAUST“, irgendwo noch sehen kann, die doch inzwischen beide über 80 Jahre alt sein müssten. Der Bogenschütze nickt, er solle nur suchen, aber Buchnarren gäbe es im Lande trotz allem recht viele... Und außerdem wohl auch eine Helena...


FAUST aber grübelt, weshalb wohl dieser Bogenschütze von der Obrigkeit so gemieden wird? Woher komme diese Angst vor eine Staut? Was und wen symbolisiert sie? Er will es herauskriegen.

Harry Popow: "DER MENSCH IM TEUFELSKREIS", Sprache: Deutsch, ISBN: 9783754166666, Format: DIN A5 hoch, Seiten: 384, Erscheinungsdatum: 18.09.2021

https://www.epubli.de/shop/buch/MENSCH-IM-TEUFELSKREIS-Harry-Popow-9783754166666/118378 


  


Mittwoch, 27. Oktober 2021

KRIEG OHNE FRONTEN - junge Welt

 Entnommen: https://www.jungewelt.de/artikel/413075.imperialismustheorie-dieser-krieg-kennt-keine-fronten-mehr.html


IMPERIALISMUSTHEORIE
»Dieser Krieg kennt keine Fronten mehr«


Über den Weg zu einem faschistischen Staat, die Konstruktion seiner »Feinde« und Lenins Analysen. Ein Gespräch mit Achim Szepanski


Interview: Andrei Doultsev
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Achim Szepanski …… wurde 1957 in der Nähe von Karlsruhe geboren und studierte Sozialökonomie an der Universität Frankfurt am Main. Er ist Musiker und Publizist. Szepanski veröffentlichte eine Reihe von Aufsätzen zur modernen Imperialismustheorie. 2014 veröffentlichte er im Laika-Verlag den Doppelband »Kapitalisierung« und 2018 das Buch »Imperialismus, die Faschisierung des Staates und die Kriegsmaschinen des Kapitals«

Unter dem Titel »Imperialismus, Staatsfaschisierung und Kriegsmaschinen des Kapitals« erschien 2018 eine Sammlung dreier Essays von Ihnen im Laika-Verlag. Was bewegte Sie dazu, die Texte zu veröffentlichen?

In den letzten Jahren wurde die Debatte um den Begriff des Imperialismus wieder aufgenommen – allerdings in einem ganz anderen Sinn, als Lenin oder Hilferding den Imperialismus des zwanzigsten Jahrhunderts noch diskutiert hatten. Heute bildet eine kleine Anzahl von imperialistischen Staaten eine hierarchische Allianz auf dem Weltmarkt, der zugleich mittels ihrer großen multinationalen Unternehmen, die enorme Mengen an Waren und Dienstleistungen in die globalen Lieferketten einspeisen, konstituiert wird. Die ökonomischen Machtzentren am Weltmarkt beruhen also auf einem komplexen Zusammenspiel zwischen den imperialistischen Staaten, die aufgrund der Bereitstellung materieller und sozialer Infrastrukturen die Ausgangsplattformen für das entwickelte Kapital darstellen, und den großen transnationalen Unternehmen, deren Geldkapital ständig rund um den Globus fließt.

Dabei gehören Austerität und Autoritarismus zusammen. Oder, um es anders zu sagen, Markt und starker Staat schließen sich zwar in der neoliberalen Doktrin, nicht aber in der Praxis gegenseitig aus. Die neuartige strukturelle Staatsfaschisierung entsteht nicht ausschließlich als eine Reaktion auf regressive Entwicklungstendenzen und Krisenprozesse, sondern sie antizipiert die kommenden Trends, die ökonomischen, sozialen und politischen Krisen und Konfliktpotentiale. Das wird in entsprechenden offiziellen Verlautbarungen auch klar benannt.

Dazu entwickelt der Staat eine Reihe von Techniken, wie etwa neue Kontroll- und Überwachungsinstrumente, die Daten aufzeichnen, akkumulieren und auswerten; zudem Techniken zur weiteren Quantifizierung und Vermessung der Bevölkerung und solche polizeilicher und militärischer Art. Die Transformation des gewöhnlichen zu einem faschisierten Staat ergibt sich heute nicht unbedingt durch einen spektakulären Bruch, sondern durch die schleichende, aber beständig vorangetriebene Akkumulation, Verschiebung und Verdichtung restriktiver Operationen; durch Umbauten und Maßnahmen, die nicht zwangsläufig zu einem faschistischen Staat führen müssen, aber einen Bruch auch nicht ausschließen.

Lenin betrachtete den Imperialismus als höchstes Stadium des ­Kapitalismus. Welche Entwicklung hat es seit dieser Analyse gegeben?

Vor allem veränderte sich unsere Vorstellung vom staatsmonopolistischen Kapitalismus. Lenin hat den Imperialismus nicht im Hinblick auf die Finanzialisierung, die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals oder die Tendenz der sinkenden Profitrate theoretisiert. Die Erfahrungswerte von heute gab es damals nicht.

Die großen Unternehmen der imperialistischen Länder besitzen wichtige ökonomische Vorteile am Weltmarkt – auch aufgrund ihrer intensiven Beziehungen zum eigenen Staat. Die imperialistischen Staaten schützen die Eigentumsrechte ihrer Unternehmen vehement und verstärken durch eine Reihe von politischen Maßnahmen deren ökonomische Macht im internationalen Handel sowie bei der Ausweitung ausländischer Direktinvestitionen. Nicht zuletzt sichern sie gerade in Krisen die Solidität der eigenen Währung und agieren damit als öffentliche Versicherungseinrichtungen für das Kapital.

Die ökonomische Macht der großen Unternehmen an den Weltmärkten entfaltet sich heute insbesondere über die globalen Lieferketten. Die Logistik transformiert die Fabrik in geteilte und über den Globus gestreute Netzwerke der Produktion und der Zirkulation, die die Territorien der Nationalstaaten zwar nicht eliminieren, sie aber neu gestalten. Wir haben es heute zudem mit einer Superexploitation der Arbeit in der südöstlichen Hemisphäre des Globus zu tun, die von bestimmten transnationalen Unternehmen inszeniert wird, wobei die Gewinne beständig in die nördlichen imperialistischen Länder transferiert werden. Große Teile der globalen industriellen Produktion wurden aus dem Norden in den Süden verlegt, seien es die in Bangladesch hergestellten T-Shirts oder die neuesten elektronischen Gadgets in China.

Es muss bei der Analyse des Weltmarktes immer auch der jeweilige Zugang der multinationalen Unternehmen zur international agierenden Finanzindustrie berücksichtigt werden. Die global operierenden Konzerne benötigen unbedingt deren finanziellen Service – man denke an die Stabilität der internationalen Zahlungssysteme, an die Rolle der Devisen im internationalen Handel, an die langfristigen Investments, den Wertpapier- und Derivatehandel, die kurzfristigen Kredite und generell an den Austausch von Geld gegen Geld.

Es gibt drei wichtige Faktoren, die anzeigen, dass der finanzielle Sektor eine dominante Rolle in der Ökonomie eines imperialistischen Landes und insbesondere auch in der Weltökonomie spielt. Der erste ist die Inanspruchnahme von Geldmitteln aus dem Ausland, um diese an einheimische Unternehmen und an den Staat zu verleihen. Dies können heute insbesondere US-Finanzunternehmen (aufgrund des Dollars in seiner Funktion als weltweite Reservewährung, jW) und das in London ansässige Bankensystem leisten. Zweitens der Umstand, dass die im Ausland getätigten Investitionen einheimischer Unternehmen finanziert werden, um im Ausland mehrwerterzeugende Produktionsprozesse in Gang zu setzen. Dies kann durch die Bankenfinanzierung oder durch die Aktienmärkte erfolgen, was eine weitere Konzentration des Kapitals über nationale Grenzen hinweg ermöglicht. Drittens: die Aneignung eines Teils des global produzierten Surplus.

Was stellt der globalisierte Kapitalismus heute dar?

Die Finanzmärkte besitzen heute eine duale Funktion. Zum einen werden dort die ökonomischen Akteure – Unternehmen, Staaten und Haushalte – mittels statistischer und stochastischer Machttechnologien bewertet. Zum anderen fungieren sie als eine funktionale Instanz der Kapitalisierung von zukünftigen Zahlungsversprechen, wobei diese inzwischen auf globaler Ebene in Lichtgeschwindigkeit gehandelt werden. Während die Bilanzierung im »Realsektor« lange Zeit vergangenheitsorientiert vonstatten ging, mutierte ab den 1970er Jahren die an der Zukunft ausgerichtete Kapitalisierung, das heißt die Kalkulation bzw. die Diskontierung zukünftig erwarteter Zahlungsströme und -versprechen, zur wichtigsten Methode des kapitalistischen Finanzsystems. Damit findet die Erlangung von monetären Profiten entweder ganz real statt oder wird zumindest finanziert. Die Derivate und alle weiteren exotischen Finanzinstrumente sind heute eine notwendige Bedingung für die ständig stattfindende Implementation der Finanzialisierung in das gesamte ökonomische Feld.

Die Metapher »zentrales Nervensystem des Kapitals« deutet zutreffend diese Entwicklung der kapitalistischen Ökonomien an. Wenn das Kapitalprinzip der Motor des atmenden Monsters namens Gesamtkapital ist, dann ist das finanzielle System dessen Gehirn und Zentralnervensystem. Das Finanzsystem exekutiert zu einem nicht unerheblichen Teil die Konkurrenz, die Koordination und die Regulation der Unternehmen, denen wiederum das Apriori des Gesamtkapitals vorausgesetzt ist, das sich über die reale Konkurrenz der Unternehmen, die für Marx allemal kein Ballett, sondern ein Krieg ist, aktualisiert. Das Finanzkapital moduliert andauernd die Konkurrenz aller Unternehmen und entfacht sie neu. Es ist also ein integraler Teil der Kapitalökonomie und kein Krebsgeschwür, das ein Arzt entfernt, um dem Kapitalkörper wieder zur Gesundheit zu verhelfen.

Welche Rolle haben heute Staaten im Zusammenspiel mit dem globalen Kapitalismus?

Die transnationale Funktionsweise von Finanzen und Logistik schwächt den Staat gegenüber dem Kapital. In diese Richtung argumentiert William I. Robinson in seinem Buch »The Global Police State«. Für ihn sind die Hauptvertreter des Kapitals eine neue transnationale Kapitalistenklasse, die aus den führenden kapitalistischen Gruppen in der industrialisierten Welt hervorgegangen ist. Diese betont die Bedeutung der globalen Märkte und stellt somit die hegemoniale Fraktion des Kapitals im globalen Maßstab dar. Diese Unternehmen haben die Märkte durch Netzwerke internationalisiert, die über nationale Grenzen hinausgehen.

Doch jenseits aller neoliberalen Theorien des Marktfundamentalismus braucht das Kapital weiterhin den kapitalistischen Staat, während umgekehrt der Staat strukturell vom Kapital abhängig ist. Er muss gute Standortbedingungen für diese Art der Kapitalakkumulation schaffen, das heißt einerseits ein Klima für Profite und andererseits repressive Regeln für das Proletariat, die dem Kapital dienen. Die Staaten sind jedoch keine transnationalen politischen Instanzen, auch wenn die neue transnationalistische Klasse immer wieder versucht, die strukturelle Macht der globalen Ökonomie in eine supranationale politische Instanz zu übersetzen. Dabei handelt es sich vielmehr um ein institutionelles Netzwerk, in dem die Nationalstaaten nicht verschwinden, weil sie einerseits die nationalen Bedingungen für die globale Kapitalakkumulation herstellen müssen und andererseits ihre politische Legitimation als Nation dabei nicht verlieren sollen.

In dem Zusammenhang wird auch von neuer staatlicher »Governance« gesprochen. Was sind ihre wesentlichen Merkmale?

Die neuen Kriegsmaschinen des Kapitals entsprechen dem Zusammenspiel von ziviler und repressiver Macht im Staat und machen beide Komponenten tendenziell ununterscheidbar. Der Staat tendiert längst zur Privilegierung der Exekutivmacht, die mit dem Rückgang der legislativen Macht verbunden ist und zu einer tiefen Transformation seiner administrativen und juridischen (Herleitung des Rechts nach moralisch-sittlichem Standpunkt, jW) Funktionen führt.

Carl Schmitt hat den Staat als einen motorisierten Gesetzgeber bezeichnet und eine wachsende Motorisierung der exekutiven Maschinerie konstatiert. Die Transaktionen und Krisenschübe des finanziellen Kapitals gehen heute mit Geschwindigkeiten und Reaktionen einher, die es erfordern, dass insbesondere Gesetze, die der parlamentarischen Untersuchung und Absegnung bedürfen, durch schnelle Dekrete ersetzt werden müssen. Diese Art der Technologisierung der Staatsapparate erfolgt durch den Einsatz von privaten, informellen und staatlichen »Expertenregimen«, die über den Einsatz von Techniken zudem einen statistischen Volkskörper erschaffen, der ständig überwacht, bewertet und zugleich mobilisiert werden muss, gerade indem auf ihn Macht ausgeübt wird.

Die Machtverschiebung von der Legislative zur Exekutive, der Bedeutungsverlust der Parteien, die Ausdehnung der Bürokratie und die Verlagerung der Entscheidungsfindung zu informellen und neben dem offiziellen Staat parallel operierenden Machtnetzen hat schon Nicos Poulantzas zur Kennzeichnung des autoritären Etatismus herangezogen – für ihn ein Begleitspiel der Intensivierung der ökonomischen Intervention des Staates, der nun nicht nur im Rahmen einer kurzfristigen Wirtschaftspolitik und der technischen Rationalität andauernd Regeln, Direktiven und Verordnungen gemäß den Konjunkturen, Frakturen und Zyklen der Kapitalbewegungen erlassen muss, sondern selbst als Unternehmen agieren muss. Der Staat selbst wird zu einem Unternehmen.

Die Staatsfaschisierung zielt nicht nur auf die Ausweitung der Repression und der autoritären, rassistischen und nationalistischen Diskurse und Meinungssysteme, sondern erfordert vielmehr den Einsatz hochtechnologisierter Machttechniken. Sie zielt nicht mehr auf die Kontrolle freier Bürger ab, sondern deutet die Bevölkerung zum potentiellen Gefahrenherd um und führt schließlich zu einer nachhaltigen Veränderung der Materialität der Staatsapparate und ihrer Interventionen. Man kann von einem neuen Dispositiv der Faschisierung sprechen.

Welche Elemente des Faschismus trägt das neoliberale Modell des Kapitalismus in sich? Was sind seine Unterschiede zum »alten« Faschismus der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts?

Schon Adorno hat ja angedeutet, dass der neue Faschismus keineswegs mit Uniformen, Stiefeln und Nazisymboliken daherkommen muss. Für Maurizio Lazzarato ist der neue Faschismus eine Mutation des historischen Faschismus auch in dem Sinne, dass er nationalliberal statt »nationalsozialistisch« auftritt. Die politischen Bewegungen, die aus ’68 hervorgegangen sind, seien heute so schwach, dass die Faschisten es nicht einmal nötig hätten, ihre Forderungen aufzugreifen und sie zu verdrehen, wie es eben die Faschisten und die Nazis in den 1930er Jahren taten. Der neue Faschismus bedarf der sozialistischen Verbrämungen nicht mehr, er ist im Gegenteil ultraliberal: Er ist für den Markt, das Kapital und die individuelle Initiative, auch wenn er einen starken Staat zur Ausgrenzung der Minderheiten und »der Ausländer« einfordert; einen Staat, der gleichzeitig den Markt, das Geschäft und vor allem das Kapital sichern soll.

Die neuen reaktionären Libertären gehen bei der Einschränkung der Rolle des Staates weiter als die Neoliberalen: Dem Staat sollen nicht nur das Bildungswesen, das Gesundheitssystem und die Infrastrukturen entzogen werden, sondern auch hoheitliche Befugnisse, indem die Privatisierung sogar der Armee, Polizei und Justiz weiter vorangetrieben werden soll.

Sie schreiben unter anderem vom »Präventionsmodell« und der globalen Überwachung. Wie definieren Sie das Modell?

Wir haben es, wenn man das politische Feld und den Staat beobachtet, mit einer Art der permanenten Verpolizeilichung oder Versicherheitlichung von Unsicherheit zu tun, wobei die diesbezüglichen Procedere voraussetzen, dass man ständig neue Bedrohungslagen, Gefahren und Risikofaktoren aufspüren kann. Die wiederum ermöglichen erst die Notwendigkeit und Legitimation präventiven staatlichen Handelns, und diese Präventionspolitik wird dann auch umgesetzt und kann gerade im Falle der staatlichen Prävention bis hin zur Liquidierung vermeintlicher »Volksschädlinge« oder Klassenfeinde reichen.

Um heute Verdacht zu erregen, braucht es keine konkreten Symptome der Abnormität. Es reicht schlichtweg aus, Eigenschaften aufzuweisen, die von den Experten und Technokraten als Risikofaktor eingestuft werden. Dabei will man nicht nur einzelne unerwünschte Handlungen antizipieren, sondern die objektiven Bedingungen des Entstehens von Gefahren konstruieren und analysieren, um dann neue Interventionsstrategien zu entwerfen. Auf jeden Fall benötigt diese Art der Prävention eine umfassende staatliche Datenerhebung und -verarbeitung, um zum einen die Bevölkerung zu konstituieren und zugleich zu kontrollieren und zum anderen Unsicherheiten jeglicher Art in kalkulierbare wahrscheinliche Risiken zu übersetzen. Darauf aufbauend lassen sich spezifische Apparate des Gefahren- oder Sicherheitsstaates errichten.

Zum 11. September 2001: Die Ausrichtung auf Präventionspolitik setzte schon davor ein, aber sie beschleunigte sich nach »9/11« mit dem »Krieg gegen den Terror« zunehmend. Der Feind ist nun weniger ein fremder Staat, sondern es geht um die Einkreisung eines unspezifischen und nicht sichtbaren Gegners, der inmitten der Bevölkerung agiert. Anders gesagt: Es geht um Interventionen gegen einen irregulären Feind, der insbesondere in den Milieus oder den Umgebungen der globalisierten Armut vermutet wird. Wobei hier das bedrohliche Terrain eindeutig die Ghettos oder Vorstädte der Surplus-Bevölkerung sind.

All diese politischen Narrative des Präventivstaates operieren auch über die mediale Konstruktion von inneren und äußeren Feinden: Russland und China werden beispielsweise von den privaten sowie den Staatsmedien als besonders autoritäre Staaten eingestuft. Demnach bedrohen sie den »Westen« inzwischen auch durch ihre Kapitalmacht, während ihr Autoritarismus nach wie vor durch Kommunismus begründet wird. Im Namen der Terrorismusbekämpfung baut man Lager für die »Orientalen«, und die Frage des Islam wird mit der aller Flüchtlinge kurzgeschlossen. Der daraus resultierende mögliche Krieg ist ein irregulärer, der keine Fronten mehr kennt und letztendlich dann doch wieder die Bevölkerung einkreisen und treffen muss


Montag, 25. Oktober 2021

USA-Krieg gegen China wegen Taiwan? - LZ

 Entnommen: https://linkezeitung.de/2021/10/25/biden-usa-werden-krieg-gegen-china-fuehren-um-taiwan-zu-verteidigen/


Biden: USA werden Krieg gegen China führen, um Taiwan zu verteidigen


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 25. OKTOBER 2021


von Peter Symonds – http://www.wsws.org

Am Donnerstag erklärte US-Präsident Biden bei einer Bürgerversammlung ganz offen, die USA seien bereit, zur Verteidigung Taiwans Krieg gegen China zu führen. Diese Erklärung ist ein weiterer Akt der Provokation, der die Grundlage der diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und China aushöhlt und die bereits akuten Spannungen zwischen den beiden Ländern verschärft.

Biden wurde aus dem Publikum gefragt, was er tun würde, um militärisch mit China mitzuhalten, und ob er schwören könne, Taiwan zu verteidigen. Seine Antwort lautete: „Ja und ja.“ Er wies die Behauptung zurück, China werde die USA militärisch übertreffen und erklärte: „Die Welt weiß, dass wir das stärkste Militär der Weltgeschichte haben.“

Der Moderator der Veranstaltung, Anderson Cooper, war sich offensichtlich bewusst, dass Bidens bedingungslose militärische Unterstützung für Taiwan einen fundamentalen politischen Kurswechsel der USA bedeutet und versuchte in folgendem Wortwechsel, die Äußerungen zu klären:

Cooper: Sie sagen also, die USA würden Taiwan zu Hilfe kommen, wenn –
Biden: Ja.
Cooper: – wenn es von China angegriffen wird?
Biden: Ja, wir sind dem verpflichtet.


Das Weiße Haus versuchte anschließend, die Äußerungen herunterzuspielen. In einer Erklärung hieß es, Biden habe keinen Kurswechsel angekündigt: „[Wir] werden Taiwans Selbstverteidigung weiterhin unterstützen und jede unilaterale Änderung des Status quo bekämpfen.“

Doch Bidens Worte waren nicht einfach ein Versprecher. Er war 12 Jahre lang der ranghöchste Demokrat im Senatsausschuss für Außenpolitik und ist sich daher der diplomatischen Auswirkungen und potenziellen Gefahren einer unmissverständlichen Erklärung zur militärischen Unterstützung Taiwans durchaus bewusst.

Der Aufbau diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und China im Jahr 1979, sieben Jahre nach Präsident Nixons Besuch in Peking 1972, basierte auf der so genannten Ein-China-Politik, laut der Washington Peking faktisch als legitime Regierung von ganz China einschließlich Taiwans anerkennt. Die USA brachen die diplomatischen Beziehungen mit Taipeh ab, beendeten das Militärbündnis und zogen alle Streitkräfte von der Insel ab.

Mehr als 40 Jahre lang war die Haltung der USA gegenüber Taiwan durch den Taiwan Relations Act geprägt, in dessen Rahmen Washington Defensivwaffen an Taipeh lieferte und gleichzeitig Peking vor jedem Versuch einer Invasion der Insel warnte. Doch unterließ es Washington, Taiwan militärische Unterstützung im Fall eines Kriegs mit China zuzusagen, was als „strategische Zweideutigkeit“ („strategic ambiguity“) bezeichnet wurde.

Die „strategische Zweideutigkeit“ sollte nicht nur Peking im Zaum halten, sondern Taipeh auch davon abhalten, sich formell von China unabhängig zu erklären – ein Schritt, der einen Krieg auslösen könnte. Bidens Äußerungen heben die „strategische Zweideutigkeit“ de facto zugunsten einer Politik der „strategischen Klarheit“ auf – zugunsten einer bedingungslosen Verpflichtung, wegen Taiwan Krieg gegen China zu führen.

Im Vorfeld seiner Erklärung von letzter Woche hatte sich Biden bereits häufiger ähnlich geäußert. So hatte er gleich nach seiner Amtsübernahme im Januar das „felsenfeste“ Eintreten seiner Regierung für Taiwan bekundet.

Laut einer vorläufigen sicherheitspolitischen Richtlinie (National Security Strategic Guidance), die Anfang März veröffentlicht wurde, würden die USA „Taiwan – eine führende Demokratie und ein wichtiger wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Partner – gemäß der seit Langem bestehenden US-Verpflichtungen unterstützen“. Die Bezeichnung Taiwans als „sicherheitspolitischer Partner“ ist ein eindeutiger Bruch mit früheren Übereinkünften der USA mit Peking, in denen Taiwan als Teil Chinas anerkannt wurde.

Im August, kurz nachdem seine Regierung den ersten Waffenverkauf an Taiwan bewilligt hatte und Biden wegen des Debakels in Afghanistan in der Kritik stand, erklärte er, die USA könnten alle ihre Verpflichtungen erfüllen. In einem Interview mit ABC News erklärte er: „Wir sind eine heilige Verpflichtung gegenüber Artikel 5 eingegangen, zu reagieren, wenn jemand unsere Nato-Verbündeten überfällt oder gegen sie aktiv wird. Das Gleiche gilt für Japan, Südkorea – und Taiwan.“

Das Weiße Haus versuchte zwar, auch diese Äußerungen herunterzuspielen, doch sie liefen eindeutig darauf hinaus, dass Taiwan die gleiche militärische Unterstützung im Kampf erhalten würde wie formelle militärische Verbündete der USA wie die Nato, Japan und Südkorea.

China reagierte erbost auf Bidens jüngste Äußerungen. Der chinesische UN-Botschafter Zhang Jun wies die Vorwürfe „chinesischer Aggression“ gegen Taiwan zurück und erklärte: „Wir sind nicht die Unruhestifter. Vielmehr haben sich einige Länder, vor allem die USA, auf einen gefährlichen Kurs begeben, der die Lage in der Taiwanstraße in eine gefährliche Richtung lenkt. Es ist definitiv in niemandes Interesse, Taiwan in einen Krieg zu ziehen.“

Taiwan ist in der Konfrontation zwischen den USA und China rasch in den Fokus gerückt und hat andere gefährliche Krisenherde wie die koreanische Halbinsel und das Südchinesische Meer verdrängt. Die Biden-Regierung hat sich über die etablierten diplomatischen Protokolle hinweggesetzt und stärkere Beziehungen zu Taiwan aufgebaut, bei provokanten Operationen für die „Freiheit der Seefahrt“ US-Kriegsschiffe durch die enge Taiwanstraße geschickt und bei ihren Provokationen gegen China die Unterstützung von Verbündeten wie Großbritannien mobilisiert.

Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.

Bidens jüngste Äußerungen erfolgten vor dem Hintergrund einer Debatte in strategischen und militärischen Kreisen, die Politik der „strategischen Zweideutigkeit“ aufzugeben.

Trumps ehemaliger nationaler Sicherheitsberater, der Kriegstreiber John Bolton, ging am Mittwoch in einer Kolumne im Wall Street Journal sogar noch weiter. Er erklärte, die Biden-Regierung müsse Taiwan nicht nur unmissverständlich in einem Krieg gegen China unterstützen, sondern sollte Taiwan auch als „souveränes, sich selbst regierendes Land“ unterstützen und formelle diplomatische Beziehungen etablieren. Er forderte, Taiwan in Washingtons System von formellen und informellen Militärbündnissen in der Region aufzunehmen, etwa durch ein Ostasien-Quad (aus Taiwan, Japan, Südkorea und den USA) als Ergänzung zum bestehenden Quad-Bündnis aus Japan, Indien, Australien und den USA.

Bolton ist sich durchaus bewusst, dass der Schritt, Taiwan entweder formell oder informell zu einem Verbündeten der USA gegen China zu machen, die Gefahr eines Kriegs deutlich vergrößern würde. Peking betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz und hat gewarnt, jeder Schritt zur formellen Unabhängigkeit würde mit Gewalt beantwortet. Bidens Kurs, ganz zu schweigen von Boltons Plänen, ermutigt die amtierende, für Unabhängigkeit eintretende Demokratische Fortschrittspartei in Taipeh nur dazu, genau das zu tun und die Region in die Krise zu stürzen.

Die Aussicht auf einen Krieg zwischen China und den USA löst in internationalen Kreisen spürbare Sorge aus. Die Financial Times veröffentlichte beispielsweise am Freitag einen besorgten Leitartikel mit dem Titel „Wie lässt sich das nächste atomare Wettrüsten vermeiden?“. Vor weniger als zwei Wochen hatte sie bereits in einem Artikel geschrieben: „Die akuten Gefahren eines Konflikts um Taiwan“.

Der Leitartikel wies darauf hin, dass Chinas Test einer hochmodernen atomwaffenfähigen Überschallrakete im Juli im US-Militär einen Schock ausgelöst habe. Die FT verglich das Ereignis mit der Kubakrise von 1962, die die Welt an den Rand eines Atomkriegs gebracht hatte und richtete einen zahnlosen Appell an Washington, von einem atomaren Wettrüsten mit Peking abzurücken und sich „hinzusetzen und über Waffen zu reden, die den Planeten zerstören könnten“.

Doch statt sich zurückzuziehen, verschärft die Biden-Regierung rücksichtslos die Konfrontation mit China, die vor zehn Jahren unter der Obama-Regierung begann und in der Biden als Vizepräsident diente. Bidens Maßnahmen in Bezug auf Taiwan zielen darauf ab, China dazu zu provozieren, den ersten Schritt zur Auslösung eines Konflikts zu machen.

Für den Kriegskurs der USA gibt es zwei miteinander verbundene Faktoren: den historischen Niedergang des amerikanischen Imperialismus und die Furcht in den herrschenden Kreisen der USA, China könnte zu einer Gefahr für seine globale Hegemonie werden. Dazu kommt die zusehends ausufernde wirtschaftliche, soziale und politische Krise in den USA, die die Arbeiterklasse in den Kampf treibt. Biden setzt die bösartige antichinesische Propaganda Trumps mit dem gleichen politischen Ziel fort: die immensen sozialen Spannungen nach außen gegen einen „fremden Feind“ umzulenken. Das logische Ergebnis, auf das dieses Vorhaben zuläuft, ist ein Krieg.

Das Wiederaufleben des Klassenkampfs in den USA – dem Zentrum des Weltimperialismus – verdeutlicht gleichzeitig, wie sich die Gefahr eines katastrophalen Atomkriegs aus der Welt schaffen ließe. Arbeiter in den USA, China, Taiwan und der ganzen Welt sind mit dem gleichen Klassenfeind konfrontiert: den herrschenden Klassen und dem kapitalistischen System, das nicht nur in der Corona-Pandemie, sondern auch im Krieg Profiten Vorrang vor Menschenleben gibt. Die einzige Möglichkeit, den Kriegskurs zu beenden, ist ein vereinter Kampf der internationalen Arbeiterklasse mit einem sozialistischen Programm zur Abschaffung des Profitsystems und der Aufteilung der Welt in rivalisierende Nationalstaaten.

https://www.wsws.org/de/articles/2021/10/24/taiw-o24.html


siehe auch  https://linkezeitung.de/2021/10/25/nato-masterplan-fuer-russland-washington-sucht-immer-nach-einem-weiteren-krieg/   


Sonntag, 24. Oktober 2021

Russland teilt der NATO mit, dass die missbräuchliche Beziehung beendet wird - LZ

 

Entnommen: https://linkezeitung.de/2021/10/24/russland-teilt-der-nato-mit-dass-die-missbraeuchliche-beziehung-beendet-wird/


Russland teilt der NATO mit, dass die missbräuchliche Beziehung beendet wird


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 24. OKTOBER 2021

von Finian Cunningham – http://www.antikrieg.com

Russland hat Recht, wenn es der Illusion von Dialog und Partnerschaft ein Ende setzt, wenn in Wirklichkeit die andere Partei zynisch anbietet, die Hand zu schütteln, während sie versucht, einem ans Bein zu pissen.

Russland hat der von den USA geführten Nordatlantikpakt-Organisation gesagt, sie solle ihre Scheindiplomatie ad acta legen und damit rund 30 Jahre Gespräche und Delegationen nach dem Ende des Kalten Krieges beenden, die im Hinblick auf eine Normalisierung der Beziehungen wenig bis gar nichts gebracht haben.

Moskau mag die Tür zugeschlagen haben, aber sie ist nicht verschlossen. Russland erklärte, dass es von nun an der NATO obliege, den ersten Schritt zur Verbesserung der Beziehungen zu tun, und deutete damit an, dass Moskau irgendwann in der Zukunft offen für eine neue Beziehung sein würde.

Die NATO drückte ihr „Bedauern“ über die Entscheidung Russlands aus, die diplomatischen Kanäle zu kappen. Der deutsche Außenminister Heiko Maas erklärte, Russland verschlimmere die bereits angespannten Beziehungen und werfe die Kommunikation in die eisigen Tiefen des Kalten Krieges zurück.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow kündigte diese Woche an, dass Russland seine Vertretung bei der NATO in der belgischen Hauptstadt Brüssel, dem Hauptsitz des von den USA geführten Militärbündnisses, schließen werde. Russland teilte der NATO außerdem mit, dass es ihr Informationsbüro in Moskau schließen werde. Jede weitere Kommunikation, die erforderlich ist, kann über das Büro des russischen Botschafters in Belgien abgewickelt werden.

Ein solcher Abbau von Kommunikationsverbindungen mag in einer Zeit erhöhter Spannungen zwischen der NATO und Russland als leichtsinniger Schritt erscheinen. Wäre es nicht besser, so viele Kommunikationswege wie möglich offen zu halten, um Missverständnisse und Fehleinschätzungen zu vermeiden?

Die Wahrheit ist jedoch, dass die Beziehungen zwischen der NATO und Russland schon vor langer Zeit auf das erbärmliche Niveau einer missbräuchlichen Beziehung gesunken sind. In Anbetracht der Umstände hat Moskau daher Recht, wenn es sich zurückzieht. Ein Festhalten daran würde nur noch mehr Verachtung von Seiten der NATO hervorrufen. Das wäre noch gefährlicher.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 vereinbarten Russland und die NATO die Aufnahme eines Dialogs und einer Partnerschaft. Dies gipfelte in der Russland-NATO-Grundakte von 1997. Delegationen wurden in den jeweiligen Hauptstädten empfangen.

Entgegen früherer Zusagen hat sich das NATO-Bündnis jedoch nach Osten erweitert und mehrere ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten, die an russisches Hoheitsgebiet grenzen, als Mitglieder aufgenommen. Die NATO hat ein Auge auf die ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine geworfen, um dem 30 Mitglieder zählenden Block beizutreten, was Moskau als „rote Linie“ bezeichnet hat, die seine nationale Sicherheit gefährdet.

Die unaufhaltsame Ausdehnung der NATO an die westlichen Grenzen Russlands hat das strategische Gleichgewicht, das einen Atomkrieg verhindern soll, erheblich gestört. Die Lage ist sogar noch prekärer als auf dem Höhepunkt des früheren Kalten Krieges.

Darüber hinaus haben die Vereinigten Staaten im Zuge ihres Vordringens auf russisches Territorium Verträge über nukleare Rüstungskontrolle aufgekündigt. Der Vertrag über den Schutz vor ballistischen Raketen wurde von den USA 2002 einseitig aufgekündigt, ebenso wie der Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen im Jahr 2019 und der Vertrag über den Offenen Himmel im Jahr 2020.

Dies alles kommt einer groben Missachtung der Russland-NATO-Grundakte durch die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Verbündeten gleich.

Um die Situation noch zu verschlimmern, hat die NATO die Kommunikation mit Russland auf einseitige Anschuldigungen über angebliches russisches bösartiges Verhalten reduziert. Moskau wird beschuldigt, Europa und die westlichen Demokratien zu „bedrohen“, in die Ukraine „einzumarschieren“ und die „Krim zu annektieren“, neben anderen Anschuldigungen, wie dem „Abschuss“ eines malaysischen Flugzeugs, der „Ermordung“ von Gegnern mit chemischen Waffen und der Sprengung von Munitionslagern in der Tschechischen Republik. Das offensichtliche Muster hier ist, Propaganda zu verbreiten, um zu verärgern.

Würde die NATO ihre Beziehungen zu Russland als echte Partnerschaft führen, wären die Vertretungen in der Lage, Behauptungen in einer begründeten Debatte mit Beweisen und Gegenbeweisen zu erörtern. So aber hat sich die NATO in den letzten Jahren nicht einmal ansatzweise mit russischen Vertretern auseinandergesetzt. Anschuldigungen werden als vollendete Tatsachen hingestellt, ohne dass Russland die Möglichkeit hat, sie zu widerlegen. Die Kommunikation der NATO mit Russland gleicht eher einer mittelalterlichen Inquisition, bei der dem Angeklagten ein ordnungsgemäßes Verfahren und das Recht auf ein Kreuzverhör der Ankläger verwehrt wird.

Der letzte Tropfen, der das Fass für Russland zum Überlaufen brachte, war die Ausweisung von acht russischen Diplomaten aus der Brüsseler NATO-Mission Anfang dieses Monats. Ohne jede Begründung beschuldigte die NATO die russischen Beamten, „nicht gemeldete Spione“ zu sein, und schloss sie kurzerhand aus.

Die vollständige Schließung der NATO-Mission in Brüssel und des NATO-Büros in Moskau durch Russland in dieser Woche wurde vom russischen Außenministerium als „reine Vergeltung“ bezeichnet. Der deutsche Außenminister Heiko Maas täte gut daran, den Kopf aus dem Sand zu ziehen und über die historische Realität nachzudenken, anstatt Russland auf absurde Weise zu beschuldigen, „die Beziehungen zu verschlechtern“. War es etwa Russland, das 2014 den Staatsstreich in Kiew unterstützte, der den Ukraine-Konflikt auslöste? Installiert Russland Raketensysteme an der mexikanischen Grenze zu den USA?

Russland für das Einfrieren der Beziehungen verantwortlich zu machen, ist ein klassischer Rückschritt. Washington und seine NATO-Verbündeten sind diejenigen, die den Thermostat immer weiter nach unten gedreht haben und arrogant davon ausgingen, dass dies keine eisigen Konsequenzen haben würde.

Seit Jahren gibt es von der NATO keine gegenseitige Kommunikation mehr, sondern nur noch unerbittliche Russophobie und haltlose Anschuldigungen. Neben der psychologischen Kriegsführung hat der hybride Krieg zwischen den USA und der NATO durch die Installation neuer Raketensysteme in Polen und Rumänien zu einer zunehmenden nuklearen Bedrohung der nationalen Sicherheit Russlands geführt.

Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigui wies diese Woche darauf hin, dass die Flüge von NATO-Kampfflugzeugen in der Nähe der russischen Grenzen im Vergleich zum letzten Jahr um 30 Prozent zugenommen haben. In dieser Woche wurden russische Flugzeuge eingesetzt, um zwei atomwaffenfähige US-Bomber vom russischen Luftraum über dem Schwarzen Meer abzuwehren.

Die Realität ist, dass Washington und seine NATO-Verbündeten Russland zunehmend mit einer respektlosen, irrationalen Haltung behandelt haben. Wenn Russland einen Scheindialog mit einer Organisation aufrechterhält, die von einer angeblichen Partnerschaft zu einer feindseligen, ja offen feindlichen Haltung übergegangen ist, lädt das nur zu weiterer Verachtung ein. Es ist gefährlicher, in einer solchen Beziehung zu bleiben, als sie zu verlassen.

Die Entscheidung Russlands, aus der NATO auszutreten, gefährdet keineswegs die Sicherheit, sondern ist richtig. Es ist richtig, sich von der Illusion eines Dialogs und einer Partnerschaft zu verabschieden, wenn die Realität darin besteht, dass die andere Partei zynisch anbietet, die Hand zu schütteln, während sie versucht, einem ans Bein zu pinkeln.

erschienen am 21. Oktober 2021 auf > Strategic Culture Foundation > Artikel

http://www.antikrieg.com/aktuell/2021_10_23_russlandteilt.htm


siehe auch Pressekonferenz:

https://linkezeitung.de/2021/10/24/worueber-kann-man-mit-solchen-leuten-reden-das-russische-aussenministerium-ueber-das-verhaeltnis-zur-nato/

Freitag, 22. Oktober 2021

IM STILLEN PARK - Textauszug (1) aus "Der Mensch im Teufelskreis"

 Aus dem Buch "Der Mensch im Teufelskreis - Dr. Faustus Auferstehung" / Autor: Harry Popow


IM STILLEN PARK

Diese Geschichte begab sich, sagen Zeitzeugen, als sich in jüngster Zeit (2020/2021) über Land und Leute, gar über den ganzen Planeten, eine unheimliche Stille ausbreitete – eine tödliche. Ein Virus ging um, und die Menschen verschanzten sich hinter Mundmasken und hinter den Mauern ihrer Häuser. Wie so oft in Gefahrensituationen beschlich den einen oder anderen diese oder jene Erinnerung, als es noch menschengemachte tödliche und maschinell betriebene Abschlachtungen gab.


Erster Textauszug (S. 23-27):

Eine verdächtige Gestalt


Ein schriller Telefonanruf. Eilig hebt Polizist-1 den Hörer ab, im Mund noch eine glimmende Zigarette. Ein Schnüffler, der in der Nähe des alten Friedhofs bei Sanssouci Posten bezogen hat, um eventuelle Zwischenfälle beim Begraben der Pandemie-Opfer und die Absperrung des geschmähten steinernen Denkmals aus vergangenen Zeiten an die Obrigkeit zu melden, teilt mit aufgeregter Stimme mit, dass ein Unbekannter in ältlicher Kleidung gesichtet wurde. Offenbar, so die Meldung der Friedhofsverwaltung, sei er soeben einer Gruft entstiegen. Was sei also nun zu tun?

Polizist: „Sofort festhalten, Personalien feststellen, Wohnort, Geburt, Motiv, verstanden?“

Schnüffler: „Er eilt wie ein Betrunkener durch den Park, auffallend bekleidet mit einer alten Oberbekleidung, wie aus dem letzten oder vorletzten Jahrhundert. Zweifellos, er will zu diesem komischen Denkmal, das ja seit geraumer Zeit umzäunt ist und dem sich niemand nähern solle.“

Der Polizist brüllt aufgeregt in den Telefonhörer zurück: „Was soll denn das? Niemand hat das Recht, sich diesem Denkmal zu nähern. Etwa ein Linker? Sofort festnehmen. Wir melden das sofort dem Geheimdienst, schließlich müssen wir unsere Demokratie schützen, oder wollen wir alle unsere Posten verlieren?“

Der Schnüffler fasst sich ans Herz und tippt sich an die Stirn: Müssen wir denn gleich einsperren? Bei Hitler konnte man noch Bücher verbrennen und Leute sofort einsperren, wenn sie aufmuckten. Wir aber leben in einer Demokratie. Das schützt unsere Macht.

Wörtlich schnauzt er zurück: „Die Leute sollen wenigstens spüren, dass sie ihre Meinung sagen dürfen, verstanden? Desto notwendiger ist die heimliche Überwachung, ob auf den Straßen oder im Internet. Überall muss unser Ohr sein, ohne, dass jemand etwas merkt, kapiert?“

Stunden später: Aufruhr im Kriegsministerium. Ein neuer Feind sei entdeckt. Dieser FAUST, erst recht dieser Urfaust, wurden als Oppositionelle bereits im 16. Jahrhundert als den Ketzern nahestehend entlarvt. Der Urfaust hetzte, so gab ein Literaturexperte vor den Uniformierten bekannt, gegen die orthodoxe Kirche. Er wurde des Teufels bezichtigt.

Gefährlicher aber,so heißt es, war der von Goethe am Ende des 17. Jahrhunderts aus der Taufe gehobene Dr. FAUSTUS. Der wollte gegen die feudale Ordnung opponieren und beschritt, mit Hilfe von Mephisto, den Weg eines angeblich modernen Menschen. Obwohl er selbst letztendlich Kapitalist wurde, ließ Goethe ihn retten vor dem Untergang, um so den Weg in die bürgerliche Gesellschaft zu ebnen. Im Grunde, dabei legte der Redner im Kriegsministerium den Finger bedeutungsvoll an den Mund, warnte Goethe, da machen wir uns nichts vor, vor den Gefahren einer von Geld bestimmten habgierigen Gesellschaft. Was folgt daraus? Dieser plötzlich aus seiner Gruft entstiegene Dr. FAUSTUS will wohl die braven Bürger zu Ketzern gegen unsere bürgerliche Macht aufputschen. Deshalb müssen wir ihn überwachen, Tag und Nacht. Und mit wem er Kontakt hat. Notfalls werden unsere Sicherheitsleute ihn unter dem Verdacht der Corona-Krankheit ins Krankenhaus exportieren. Der Redner ruft: „Es geht um Sein oder Nichtsein der weltweiten Macht, um Profit und Macht. Wollt ihr den totalen Krieg gegen sämtliche Verschwörer und Widersacher, ob links, rechts oder Antisemiten?“ Der Jubel im Saal des Kriegsministeriums lässt die Ordnungskräfte vorsichtshalber alle Fenster schließen.

Mit Recht...

FAUST steuert indessen, nicht ahnend, dass er bereits auf dem Schirm der Abwehr gegnerischer Aktivitäten erfasst wurde, auf eine Parkbank zu, auf der offensichtlich ein Liebespaar sitzt, in angeregter Unterhaltung vertieft. Plötzlich tauchen an dieser Bank einige wild gestikulierende Männer auf, in komischer Bekleidung, ähnlich den Uniformen der kaiserlichen Armee. Sie schreien die beiden auf der Parkbank an. Soviel versteht FAUST: Sie sollen schnellstens ihre Masken aufsetzen und auf der Bank auseinanderrücken.

FAUST erschrickt. Er versteht gar nichts. Wohin ist er geraten? Da er versucht, schnell diesen Ort zu verlassen, brüllen die Uniformierten hinter ihm her, er solle gefälligst ebenfalls seine Maske aufsetzen, oder komme er aus dem Ausland mit diesem alten Gewand, desto schlimmer sei dies.

Der Verbindungsmann der Polizei taucht im Laufschritt auf und übernimmt das Verhör: „Woher kommen sie? Warum steigen sie plötzlich aus der Gruft?“

FAUST stellt sich als Dr. FAUSTUS vor, er müsse sich zunächst einmal zurechtfinden. „Was soll das?“, brüllt der Verbindungsmann der Polizei. „Wollen sie mich verscheissern. Ich kenne keinen Dr. FAUSTUS.“ Ein zweiter Mann stößt dem Ersteren in die Rippen und flüstert ihm zu, dass dieser FAUST ein von Goethe geschaffener literarischer Held sei. Egal, schimpft der erste Polizist, er soll mitkommen zur Polizeiwache, da müsse man seine Identität feststellen.

Haltet inne, seid ihr des Teufels, lasst den Herrn sofort frei, er ist tatsächlich Goethes Literaturgestalt und nennt sich Dr. FAUSTUS“. Die energische Aufforderung kommt aus einer Richtung hinter wildem Gebüsch. Bückend schleichen die Beamten vor und entdecken das zu bewachende großartige Denkmal, allerdings umringt von allerlei staunendem Volk.

Erschrocken weichen die Männer der Polizei zurück. „Der Bogenschütze“, flüstert einer der Beamten. „Wir müssen diesen Kontakt melden“, meint ein anderer. Der winkt ab, das bringe nur Ärger, man müsse sich rechtfertigen, zu einem Unverbesserlichen gar bewusst Verbindung aufgenommen zu haben. Das bliebe nicht ohne politische und personelle Folgen. Die rettende Idee: Man wird schweigen. Sodann lassen sie den bisher widerrechtlich fest gehaltenen FAUST frei und schleichen sich wie geprügelte Hunde durch den weiten und stillen Park von dannen.

Beide haben eine Gestalt hinter Büschen übersehen, die über Sprechfunk den Bundesnachrichtendienst über unliebsames Volk an dem berüchtigten Denke-Mal informiert. Sogleich alarmierte diese Stelle den Verfassungsschutz und der – für alle Fälle – die Bundeswehr. Wegen zu erwartender Provokationen während der Ansammlung im Park als auch wegen weiterer Demonstrationen gegen die Zwänge zur Niederhaltung von Pandemie-Zweiflern. Dem anrufenden Verbindungsmann wird empfohlen, diesem angeblichen Dr. FAUSTUS, den kaum jemand aus den Reihen der Beamten kennt, bei passender Gelegenheit ein überwachendes Smartphone unauffällig – sozusagen als Willkommensgruß - zu überreichen. Was keiner ahnen konnte: In den nächsten Tagen soll, so flüstert man in Beamtenkreisen, das Denke-Mal, bekannt als „Bogenschütze“, mit Stacheldraht umgeben und mit einem Verbotsschild versehen werden: „Achtung – politische Ansteckungsgefahr – Betreten und Kontaktaufnahme strengstens untersagt!“ Doch die Obrigkeit ging noch raffinierter vor, wie der Leser später staunend noch erfahren wird.

Harry Popow: "DER MENSCH IM TEUFELSKREIS", Sprache: Deutsch, ISBN: 9783754166666, Format: DIN A5 hoch, Seiten: 384, Erscheinungsdatum: 18.09.2021

https://www.epubli.de/shop/buch/MENSCH-IM-TEUFELSKREIS-Harry-Popow-9783754166666/118378



Vita des Autors:

Der Autor: Geboren 1936 in Berlin-Tegel, erlebte der Autor noch die letzten Kriegsjahre. Ab 1953 war er Berglehrling im Zwickauer Steinkohlenrevier und ab Herbst 1954 Offiziersschüler in der KVP, später NVA. Dort diente er bis 1986 als Zugführer, später als Militärjournalist. Den Titel Diplomjournalist erwarb er sich im fünfjährigen Fernstudium an der Karl-Max-Universität in Leipzig. Nach Beendigung der fast 32-jährigen Dienstzeit arbeitete Harry Popow bis Ende 1991 als Journalist und Berater im Fernsehen der DDR. Er betreibt als Rentner einen Blog, schreibt Buchrezensionen und Erinnerungen vor allem für die „Neue Rheinische Zeitung“ und für die „Linke Zeitung“. Er ist glücklich verheiratet seit 60 Jahren.



Lenin als Utopist - Willy Huhn - LZ

 Entnommen: https://linkezeitung.de/2021/10/17/lenin-als-utopist/


Lenin als Utopist


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 17. OKTOBER 2021


von Willy Huhn – https://aufruhrgebiet.de

Vorbemerkung: Wir stellen hier einen weiteren Text von Willy Huhn (1919-70) aus dem Jahr 1948 vor, der unsere Serie über den „vergessenen“ Theoretiker abschließt. Darin zeigt Huhn einige methodische Wurzeln des Leninschen Substitutionalismus, der Unterordnung der Klasse unter die Partei (und den mit ihr verbundenen Staat) auf, der letztlich zum Stalinismus führte. Er verweist damit auch auf die konzeptionellen Differenzen in der Parteifrage zwischen Marx und Lenin. Die Redaktion

Das wichtigste Merkmal des utopischen Sozialismus besteht in dem Aberglauben an die Macht der Wissenschaft. Ein rationales System soll die gesellschaftliche Welt so entscheidend verändern, dass etwas ethisch Besseres und sozial Vernünftiges bewirkt wird. Die praktische Konsequenz aus dieser Überzeugung besteht darin, dass die Gelehrten das Schicksal des Menschengeschlechts selbst in die Hände oder vielmehr auf die Köpfe nehmen müssen.

So stehen an der Spitze des Staates bei den ersten Utopisten der abendländischen Geschichte, Platon, die Philosophen und die Insel „Utopia“ des Thomas Morus wird von einer „Gelehrtenklasse“ regiert. Wird nicht in unserer Zeit ein ähnlicher Anspruch von den Intellektuellen erhoben – einst von der juristischen Intelligenz (Engels hat sich einmal ausführlich mit diesem „Juristensozialismus“ auseinandergesetzt), jetzt von der technischen oder gar von der ökonomischen (Technokratie und Bürokratie)? Die Utopisten suchen nach einer „sozialen Wissenschaft“, um mit ihrer Hilfe neue soziale Bedingungen zu schaffen. Diese Aktion geht von ihrer intellektuellen Initiative aus, beruht auf der Einsicht und Tatkraft der Intelligenz, während sie „auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm eigentümliche politisch Bewegung erblicken“, wie es im „Kommunistischen Manifest“ heißt.

„Wissenschaftlicher Sozialismus“
Ist deshalb der „wissenschaftliche Sozialismus“ selbst Utopismus? Nein, er ist gerade im Gegensatz zu dieser Auffassung entstanden. Er stellt die Wissenschaft nicht der gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber mit dem Anspruch, dass sich die letztere nach ihr zu richten habe, indem die wissenschaftliche Einsicht „verwirklicht“ werden müsse. Umgekehrt „soll die Wissenschaft aus der kritischen Erkenntnis der geschichtlichen Bewegung schöpfen“ (Marx). So haben Marx und Engels im Laufe ihres Lebens den Marxismus aus der Geschichte West- und Mitteleuropas abgeleitet. Auch die Rolle der Intellektuellen bestimmte Marx gegenüber der utopistischen Auffassung bedeutend bescheidener: da „es sich nicht um Durchführung irgendeines utopischen Systems handele“, müsse er sich mit der „selbstbewussten Teilnahme an dem unter unseren Augen vor sich gehende geschichtlichen Umwälzungsprozess der Geschichte“ begnügen (Marx: „Herr Vogt“). Indem die Wissenschaft aus der tatsächlich vor sich gehenden Geschichte abgeleitet wird, wird sie „ein bewusstes Erzeugnis der historischen Bewegung und hört auf, doktrinär zu sein“ („Das Elend der Philosophie“).

Für den Utopismus existiert das Proletariat nur unter dem Gesichtspunkte der leidenden, also passiven Klasse, der von oben und von außen geholfen werden muss. Der Marxismus geht von der selbstständigen Aktivität der Arbeiterschaft aus. Für die Utopisten wird alle künftige Geschichte zu einer bloßen „Propaganda“ und „praktischen Ausführung“ ihrer „systematischen Gesellschaftspläne“, Marx hingegen verwirft im „Kommunistischen Manifest“ alle Systeme und verlässt sich, wie Engels 1890 versichert, für den schließlichen Sieg der im Manifest aufgestellten Thesen einzig und allein auf die geistige Entwicklung der Arbeiterklasse, „wie sie aus der vereinigten Aktion und der Diskussion notwendig hervorgehen musste“. Entsprechend seiner rationalistischen Herkunft nimmt also der utopistische Sozialist gegenüber der Geschichte eine schulmeisterliche Haltung ein, während Marx und Engels in ihr unsere einzige Lehrmeisterin sahen.

Nationalpolitische Widersprüche
Der Marxismus wollte nach der (selbst erst geschichtlich gewachsenen und vertieften) Ansicht seiner Begründer nichts anderes sein als die Erkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklung der fortgeschrittensten europäischen Länder, an der sie selbstbewusst teilgenommen hatten. Für sie war es eine Ableitung aus der geschichtlichen Bewegung ihrer Zeit und ihres eigenen praktischen Mittuns. Es ist Trotzki gewesen, der dieses Problem in aller Schärfe gesehen hat. Vor rund vierzig Jahren zeigte er, dass die Sozialisten und Intellektuellen rückständigerer Länder, die in sich den Übergang vom utopistischen zum wissenschaftlichen Sozialismus noch nicht erlebt und den Kampf zwischen beiden Haltungen noch nicht durchgefochten hatten, in Gefahr waren, die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Marx und Engels im Sinne des Utopismus, also dogmatisch und „orthodox“ aufzufassen. Eben davor warnte Trotzki, wenn er für Russland folgerte: „Jene inneren Widersprüche in der Konstruktion des Sozialismus, die der Marxismus theoretisch überwunden hatte, kehren bei der praktischen Anwendung des Marxismus in der Form national-politischer Widersprüche zurück. Selbst die beste soziale Doktrin, d.h. diejenige, die die Welterfahrung am richtigsten wiedergibt, kann die Erfahrung selbst nicht ersetzen. Jedes Land musste und muss für sich aufs neue den Marxismus erwerben, um ihn zu besitzen. Der internationale Charakter der sozialistischen Bewegung zeigt sich nicht nur darin, dass jedes Land aus der Erfahrung des fortgeschritteneren Landes Lehren für sich zieht, sondern auch darin, dass es dessen Fehler wiederholt.“

Im alten feudal-absolutistischen, überwiegend agrarischen Russland mit seinem unterentwickelten Handel, seiner schwachen und zudem meistens auf fremdem Kapitalimport beruhenden modernen Industrie fehlten die wesentlichen Voraussetzungen für eine auf marxistischen Erkenntnissen fußende Arbeiterorganisation. Als im Jahre 1883 die erste marxistische „Gruppe zur Befreiung der Arbeit“ sich bildete, behauptete ihr Mitbegründer Plechanow, dass in Russland weder die Basis noch die objektiven sozialen Bedingungen für eine sozialistische Organisation gegeben seien. Wenn trotzdem die revolutionäre Intelligenz Russlands die fortgeschrittensten Wissenschaften und Ideen West- und Mitteleuropas studierte und übernahm, so musste dieser „nationalpolitische Widerspruch“ aus der revolutionären Bewegung Russlands in jeder Hinsicht einen „Typus aller Ideologen-Bewegungen machen“ (Kritschewsky).

Zehn Intellektuelle und ein Arbeiter
Gerade der bolschewistische Historiker Pokrowski hat auf die revolutionäre Intelligenz um die Mitte des 19. Jahrhunderts als den geistigen Vorläufer des Bolschewismus hingewiesen. So vertrat Tschernischewsky die Meinung, die „gebildeten Klassen“ Russlands könnten durch ihre Aktion die politischen Verhältnisse ändern und die aus Kreisen seiner Anhänger und Schüler stammende „Proklamation des Jungen Russlands“ forderte schon die Diktatur der Partei der revolutionären Intelligenz. Deren politisches Ziel war eine „aufgeklärte Despotie“, die von oben eine „ökonomische Umwälzung“ vollziehen sollte, um – ganz utopistisch – durch diese erst jene Bedingungen zu schaffen, welche die Voraussetzungen der Befreiung vom sozialen Elend sind.

Auch der agrarische, auf der Bauerngemeinde zu errichtende Sozialismus der Narodniki wies jene utopistischen Züge auf. „Die revolutionäre Intelligenz müsse die Diktatur erobern und mittels derselben eine soziale Umwälzung durchführen (…) Aus einer politischen Vorbedingung zur Befreiung der arbeitenden Klasse verwandelt sich auf diese Weise in den Köpfen der Intelligenz der bevorstehende Zusammenbruch des Absolutismus in ein Mittel, unmittelbar eine sozialistische Revolution herbeizuführen.“ (Paul Axelrod im Jahre 1892). Tatsächlich war die russische Sozialdemokratie selbst zu der Zeit, als Axelrod diese Sätze schrieb, noch keine selbstständige Arbeiterorganisation sondern nichts anderes als eine Partei der revolutionären Intelligenz: „Man kann wohl sagen“, bemerkte einer jener wenigen Arbeiter, die ihr damals schon angehörten, „dass in den neunziger Jahren auf je zehn Intellektuelle ein einziger Arbeiter kam“ (Schapowalow, „Auf dem Wege zum Marxismus“).

In diesen neunziger Jahren begann der theoretische und politische Weg Lenins. Von Anfang an erblickte er in der Arbeiterschaft lediglich die Klasse, die elementar erwache, und auf die sich der russische Revolutionär „stützen“, mit der sich der russische Intellektuelle – er nennt ihn bezeichnender Weise „Jakobiner“! – „verbinden“ könne. Diese beiden Ausdrücke verraten, dass es sich immer noch um eine Bewegung der Intellektuellen, um eine Aktion der „Wissenden“ handelt, die sich der Arbeiterbewegung lediglich als Mittel zum Sturz des Zarismus in einer großen, alle unzufriedenen Klassen der Bevölkerung umfassenden, nationalen Revolution bedienen will, einer geschichtlichen Bewegung also, wie sie seit der Ausbreitung der demokratischen Ideen nach Osten ab 1900 etwa auch für ganz Asien aktuell ist.

Drei Arten von Menschen
Dieser Umstand bewog Lenin, schon 1913 die These aufzustellen, dass nicht mehr Europa, sondern Asien der Träger des geschichtlichen Fortschritts sei. Diese Ideologie zeigt sich in China in einer auffälligen Parallele: Sun-Yat-sen, den man den „chinesischen Lenin“ genannt hat, unterscheidet in seinem Werke „Der Plan zum Aufbau des Reiches“ drei Arten von Menschen: „Erstens: die zuerst Wissenden, die Erfinder; zweitens: die spät Wissenden, die Erweiterer oder Propagandisten, drittens: die nichts Wissenden, die Mitarbeiter oder Praktiker.“

Besonders deutlich wird diese Analogie in Lenins „System der Zahnräder“. Es handelt sich 1. um die Masse der Ausgebeuteten und Unterdrückten; d.h. um die Bauern und Industriearbeiter; 2. um den Vortrupp dieser Masse, d.h. um das städtische Industrieproletariat; 3. um die Vorhut des Industrieproletariats, die „Kommunisten“ wie sich die bolschewistische Intelligenz seit 1918 nannte. Die drei Zahnräder „Masse“, „Vortrupp“ und „Vorhut“ sollen nicht demokratisch in dieser Reihenfolge aufeinander einwirken, sondern entsprechend dem Leninschen Organisationsprinzip „von oben nach unten“! Die eigentliche historische Initiative geht von der Partei der revolutionären Intelligenz aus. Schon Lenins Ausgangsstellung ist eine utopistische: 1894 vertritt er die Meinung, dass sich „die gesamte Geschichte (…) aus Handlungen der Persönlichkeiten zusammensetze“, und wirft die Frage auf, worin die Garantie dafür bestünde, „dass diese (öffentliche) Tätigkeit (einer Persönlichkeit) kein vereinzelter Akt bleibt, der in einem Meer entgegengesetzter Akte untergeht?“

Das klingt nicht nach einer Geschichtsauffassung, die vor allem Masseninitiative und Klassenaktivität ins Auge fasst! Jene aktiven Persönlichkeiten stehen vor dem Problem, „auf welche Weise“ ihre „auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung gerichtete Tätigkeit die Massen heranziehen soll, damit sie ernste Ergebnisse zeitige?“ Der Utopismus stand also vor dem Dilemma, auf der einen Seite die Massen gewinnen und heranziehen zu müssen, damit die Handlungen der Persönlichkeiten keine vereinzelten Akte blieben, auf der anderen Seite aber dafür sorgen, dass diese Handlungen der einzelnen historischen Aktivisten nicht in einem Meer entgegengesetzter Aktionen der Masse untergingen.


Der Kampf gegen die Spontanität

„Dazu war ein verzweifelter Kampf gegen die Spontaneität notwendig!“, schreibt Lenin acht Jahre später, in dem er sich auf die Organisationsprinzipien Lassalles beruft! Hierzu muss man sich vergegenwärtigen, dass Marx in einem Brief vom 13. Oktober 1868 an Schweitzer, den Nachfolger Lassalles, bemerkte, der letztere sei in den Fehler Proudhons verfallen, die wirkliche Grundlage seiner Agitation nicht in den „wirklichen Elementen der Klassenbewegung zu suchen, sondern letzterer nach einem gewissen doktrinären Rezept ihren Verlauf vorschreiben zu wollen.“ Drei Jahre später betont Marx in einem Briefe vom 23. November 1871 an Bolte nochmals, dass die Organisation Lassalles „eine bloße Sektenorganisation“ sei und „als solche der von der Internationalen angestrebten Organisation der wirklichen Arbeiterbewegung feindlich ist.“ Da Lenin gerade den Kampf Lassalles gegen die selbstständige deutsche Arbeiterbewegung diesem als historisches Verdienst anrechnet, zielt die Polemik von Marx in diesem entscheidenden Punkt gegen Lenin selbst!

Ein sozialdemokratisches Bewusstsein kann nach Lenin den Arbeitern „nur von außen gebracht werden“. Die Geschichte aller Länder beweise, dass sie aus eigener Kraft nur zu einem trade-unionistischen Bewusstsein gelangten, während der Sozialismus von den gebildeten Vertretern der Bourgeoisie, der Intelligenz, ausgearbeitet worden sei: „Ebenso entstand auch in Russland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidbares Ergebnis der Ideenentwicklung der revolutionär-sozialistischen Intelligenz.“

Die Diktatur der Jakobiner
Die russische Sozialdemokratie konnte demnach nur ein Kartell, ein Bündnis der führenden Intelligenz mit den ihr folgenden Massen sein: „Der Jakobiner, der untrennbar verbunden ist mit der Organisation des Proletariats, das sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist – das ist eben der revolutionäre Sozialdemokrat.“ Nun, die Diktatur der Jakobiner in der großen französischen Revolution war auch eine Herrschaft der Intelligenz, der einzigen regierungsfähigen Klasse nach dem Sturz des Hofadels und der mit ihm verbündeten hohen Finanz, ein „Advokatenregiment“, wie Kautsky es treffend bezeichnete. Rosa Luxemburg wies im Hinblick auf dieses Bekenntnis darauf hin, dass Lenin damit „seinen Standpunkt vielleicht scharfsinniger gekennzeichnet“ habe, „als es irgendeiner seiner Opponenten tun könnte“.
Deutlich kommt gerade in dieser Äußerung die alte Idee des russischen Utopismus zum Ausdruck, dass die Revolution das Werk der radikaldemokratischen Intelligenz sein müsse mit dem Ziel der Diktatur ihrer konspirativen Organisation, der jakobinischen Partei. Denn die spontane geschichtliche Bewegung führt zu keiner Revolution: „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.“ Nur die revolutionären Theoretiker und Intellektuellen garantieren die Revolution, „die Weisen, die die Wahrheit entdecken“, sind die eigentlichen geschichtlichen „Persönlichkeiten“, die allerdings der Propagandisten bedürfen, der „Verkünder, die die Wahrheit verbreiten“. Die Arbeiter aber sind auch für die leninistische Ideologie nur „die Ausführenden“, welche die eigentliche „Wahrheit nicht kennen“


Mittwoch, 20. Oktober 2021

Sondierungspapier der Ampel: Eine Kampfansage an die Arbeiterklasse - Peter Schwarz - LZ

 

Entnommen: https://linkezeitung.de/2021/10/20/sondierungspapier-der-ampel-eine-kampfansage-an-die-arbeiterklasse/


Sondierungspapier der Ampel: Eine Kampfansage an die Arbeiterklasse



VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 20. OKTOBER 2021


von Peter Schwarz – http://www.wsws.org 

Die Konturen einer zukünftigen Ampel-Koalition zeichnen sich ab. Unter den Parolen Modernisierung, Innovation und Klimaschutz planen SPD, Grüne und FDP „eine umfassende Erneuerung unseres Landes“, an deren Ende von den Rechten und Errungenschaften, die sich die Arbeiterklasse in den Nachkriegsjahrzehnten erkämpft hat, nichts übrig bleiben wird.

Am gestrigen Freitag haben die Vorsitzenden der drei Parteien sowie der designierte Kanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD) ein zwölfseitiges Papier vorgestellt, das die Ergebnisse der Sondierungsgespräche der vergangenen Tage zusammenfasst. „Wir sind davon überzeugt, dass wir einen ambitionierten und tragfähigen Koalitionsvertrag schließen können,“ heißt es darin. Nach der Zustimmung der zuständigen Parteigremien am Wochenende, die als reine Formsache gilt, sollen am Montag die eigentlichen Koalitionsverhandlungen beginnen.

Das Sondierungspapier besteht größtenteils aus unverbindlichen Phrasen, nebulösen Bekenntnissen, Auslassungen und schlichten Lügen. So, wenn sich die Koalitionäre ganz am Schluss zur „humanitären Verantwortung“ in der Flüchtlingspolitik bekennen. Zur Corona-Pandemie und ihren 95.000 Todesopfern in Deutschland findet sich – außer einem Lippenbekenntnis zu „mehr Pflegepersonal“ – keine Silbe. Auch die rechtsextremen Terrornetzwerke und die AfD werden nicht erwähnt.

Trotz seiner Phrasenhaftigkeit schlägt das Sondierungspapier einige Pflöcke ein. Liest man es im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität, ist es eine Kampfansage an die Arbeiterklasse, die die Agenda 2010 der letzten rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder weit in den Schatten stellt.

Am deutlichsten zeigt sich das im Kapitel über „nachhaltige Staatsfinanzen“. Das Papier bekennt sich ausdrücklich zur Einhaltung der Schuldenbremse, die eine Neuverschuldung von Ländern und Kommunen strikt verbietet und die des Bundes eng beschränkt. Nur die Milliardensummen, die die EZB jeden Monat in die Finanzmärkte pumpt, um die Aktienkurse nach oben zu treiben, sind davon nicht betroffen.

Gleichzeitig lehnt das Papier jede Besteuerung der gewaltigen Vermögen und Einkommen ab, die während der Pandemie zusammengerafft wurden. „Wir werden keine neuen Substanzsteuern einführen und Steuern wie zum Beispiel die Einkommen-, Unternehmens- oder Mehrwertsteuer nicht erhöhen,“ heißt es darin.

Was dies bedeutet, lässt sich leicht ausrechnen. Auf den Bundeshaushalt kommen gewaltige zusätzliche Ausgaben zu – die Rückzahlung der hohen Schulden, mit denen die „Corona-Hilfen“ an die Großkonzerne finanziert wurden; zahlreiche neue Geldgeschenke an Unternehmen, die als „Zukunftsinvestitionen“ deklariert werden; und eine massive Steigerung der Rüstungsausgaben. Ohne Neuverschuldung oder höhere Besteuerung der Reichen lässt sich das nur durch drastische Einschnitte bei den Sozialausgaben finanzieren.

Hier bleibt das Sondierungspapier äußerst vage und beschränkt sich auf Andeutungen. So soll die bisherige Grundsicherung (Hartz IV) durch ein „Bürgergeld“ abgelöst werden, das „die Würde des und der Einzelnen achtet, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigt“ und die „Rückkehr in den Arbeitsmarkt in den Mittelpunkt“ stellt. Mit ähnlichen Worten war vor zwanzig Jahren die Ablösung der Sozialhilfe durch Hartz IV begründet worden, das sich dann als Hebel für Zwangsarbeit und die massenhafte Einführung von Niedriglöhnen entpuppte.

In der Gesundheitspolitik will die Ampel zwar für mehr Pflegepersonal sorgen, gleichzeitig aber das System der Fallpauschalen zur Krankenhausfinanzierung „weiterentwickeln“, das maßgeblich zur Misere in Krankenhäusern und Pflege beigetragen hat. Die Gesetzliche Rentenversicherung soll von der bisherigen Umlagefinanzierung teilweise auf Anlagen am Kapitalmarkt umgestellt werden, was der Finanzindustrie zusätzliche Einnahmen verschafft und die Renten weiter unterhöhlt.

Auch der Klimaschutz, der im Papier weit vorne steht, wird ganz in den Dienst der Profitanhäufung gestellt. In der Bewältigung der Klimakrise lägen „große Chancen für unser Land und den Industriestandort Deutschland“, heißt es im Sondierungspapier. „Neue Geschäftsmodelle und Technologien können klimaneutralen Wohlstand und gute Arbeit schaffen.“

Das Papier verspricht den Energiekonzernen, „alle Hürden und Hemmnisse aus dem Weg zu räumen“, die den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien behindern. Deutschland soll „zum Leitmarkt für Elektromobilität“ werden. Im Interesse der Autolobby verzichtet die Ampel auch auf die Einführung eines generellen Tempolimits auf den Autobahnen.

Zentrale Achse des Papiers bildet die Umgestaltung der Industrie und Arbeitswelt. Unter dem zynischen Titel „Respekt und Chancen in der modernen Arbeitswelt“ wird einer vollständigen Flexibilität das Wort geredet, die Arbeiter zwingt, dem Unternehmen rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen.

„Flexibilität ermöglicht, dass sich ein kreatives Klima für Innovationen entfalten kann,“ heißt es im Papier. Unter anderem sollen „flexible Arbeitszeitmodelle“ gefördert und „Möglichkeiten zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit“ geschaffen werden.

Dabei zählen die Koalitionäre fest auf die Unterstützung der Gewerkschaften: „Eine historisch gewachsene Sozialpartnerschaft und die darauf gründende Fähigkeit zum Kompromiss sind zentrale Voraussetzungen dafür, dass dieser Veränderungsprozess gelingen kann. … Die Mitbestimmung werden wir weiterentwickeln.“

Während die Arbeiter die „Transformation“ durch unbegrenzte „Flexibilität“ unterstützen sollen, verspricht die Ampel den Konzernen großzügige Hilfen. „Die Industrie steht vor einer weitreichenden Transformation, dabei werden wir sie unterstützen,“ heißt es in dem Papier. Die „Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland“ soll erhöht, „Innovation“ gefördert und „neues Zutrauen in Gründergeist, Innovation und Unternehmertum“ geschaffen werden.

Vertreter der Wirtschaft reagierten begeistert. „Insgesamt ein gutes Paket“, twitterte Ifo-Präsident Clemens Fuest. Er verwies auf das Festhalten an der Schuldenbremse, den Verzicht auf Steuererhöhungen sowie die Zusage der Förderung von Investitionen. Der Chefvolkswirt der ING-Bank Carsten Brzeski sprach von einem „verheißungsvollen Start“, er sei „definitiv ein Schritt in die richtige Richtung“.

SPD, Grüne und FDP sind sich bewusst, dass ihr Regierungsprogramm auf heftigen Widerstand stoßen wird. Und während sie sich der Unterstützung der Gewerkschaften sicher sind, sind sie sich weniger sicher, ob die Gewerkschaften diesen Widerstand unter Kontrolle halten können. Deshalb haben sie „eine Generalrevision der Sicherheitsarchitektur“ vereinbart.

„Wir wollen unser sicheres Land noch sicherer machen,“ heißt es in dem Papier. „Jede und jeder in Deutschland soll sich sicher fühlen – ob auf der Straße, zu Hause oder im Netz. Dafür kommt es vor allem auf mehr präventive Sicherheit an. Dazu brauchen wir motivierte, gut ausgebildete und ausgestattete Polizistinnen und Polizisten. Ihre Präsenz und Bürgernähe macht sie für uns zu einem unerlässlichen Partner. … Wir wollen dafür sorgen, dass sie die verdiente Anerkennung und den Respekt für ihre wichtige Arbeit erfahren.“

Das letzte Kapitel des Sondierungspapiers trägt den Titel „Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt“. Es tritt für eine europäische Großmachtpolitik unter deutscher Führung sowie eine beschleunigte militärische Aufrüstung ein und knüpft direkt an die entsprechende Politik der Großen Koalition an.

„Wir wollen die Europäische Union stärken, um Deutschland zu stärken,“ heißt es dort. „Wir werden deshalb deutsche Interessen im Lichte der europäischen Interessen definieren.“ Die Partnerschaft mit Frankreich und Polen und die „Zusammenarbeit der nationalen europäischen Armeen“ sollen gestärkt werden. Das transatlantische Bündnis sei „dabei zentraler Pfeiler und die NATO unverzichtbarerer Teil unserer Sicherheit“.

Die deutsche Außenpolitik soll „künftig aus einem Guss agieren und ressortübergreifend gemeinsame Strategien erarbeiten“. Dazu soll „eine Nationale Sicherheitsstrategie“ vorgelegt werden.

Auch die Zensur des Internets soll europaweit angegangen werden: „Wir befähigen die liberalen Demokratien Europas dazu, Desinformation, Fake-News- Kampagnen, Propaganda sowie Manipulationen aus dem In- und Ausland besser abwehren zu können.“ Und die berüchtigte Austeritätspolitik des früheren Finanzministers Wolfgang Schäuble soll neu belebt werden: „Wir wollen dafür Sorge tragen, dass Europa auf der Grundlage solider und nachhaltiger Staatsfinanzen gemeinsam wirtschaftlich stark aus der Pandemie herauskommt.“

Das Sondierungspapier wird nicht nur von Vertretern der Wirtschaft, sondern auch von den meisten Medien positiv bewertet. Die meisten Vertreter der herrschenden Klasse halten eine Ampel-Koalition derzeit für am besten geeignet, die Angriffe auf die Arbeiterklasse und die militärische Aufrüstung durchsetzen.

Die FDP und die Grünen, die sich früher in gegenseitiger Abneigung begegneten, sind plötzlich engste Freunde. Beide stützen sich auf begüterte Mittelschichten, die auf die wachsende Wut der Arbeiterklasse mit einem Rechtsruck reagieren. Die SPD ist eng mit den Gewerkschaften verbunden und Expertin für Sozialabbau und andere soziale Angriffe.

Auch die Linke ist indirekt in die Ampel eingebunden. Es ist bezeichnend, dass sich die SPD sowohl in Berlin als auch Mecklenburg-Vorpommern, wo zeitgleich mit dem Bundestag die Landesparlamente neu gewählt wurden, für ein Regierungsbündnis mit der Linkspartei entschieden hat. In Berlin setzt sie die Koalition mit Linkspartei und Grünen fort, obwohl die SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey eine Ampel vorgezogen hätte. In Mecklenburg-Vorpommern, wo sie 15 Jahre mit der CDU regierte, bildet sie ein Zweierbündnis mit der Linken.

Wie zuvor die Große Koalition wird auch die Ampel im Kern das Programm der rechtsextremen AfD in die Tat umsetzen, die nach dem Rückzug ihres langjährigen Vorsitzenden Jörg Meuthen immer stärker unter den Einfluss ihres offen faschistischen Flügels gerät. Bezeichnenderweise wird im Sondierungspapier der „Linksextremismus“ als „Form der Menschenfeindlichkeit“ denunziert und auf eine Stufe mit „Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus“ gestellt.

Die Arbeiterklasse wird unweigerlich in Konflikt mit Scholz‘ Ampel geraten. Diese Auseinandersetzung muss politisch vorbereitet werden. Darin besteht die Bedeutung des Wahlkampfs der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP), die als einzige Partei für ein internationales, sozialistisches Programm eintritt.

https://www.wsws.org/de/articles/2021/10/15/ampe-o15.html


Dienstag, 19. Oktober 2021

Deutschland über alles - Patrik Köbele - LZ

 

Entnommen: https://linkezeitung.de/2021/10/19/deutschland-ueber-alles/


Deutschland über alles


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 19. OKTOBER 2021

Patrik Köbele, Vorsitzender der DKP, zu den Sondierungsergebnissen von SPD, Grünen und FDP

Es empfiehlt sich die Sondierungsergebnisse von SPD, Grünen und FDP von hinten zu lesen. Im zehnten Kapitel mit der Überschrift „Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt“ wird die Generallinie der möglichen Ampel-Koalition deutlich. Sie heißt: Stärkung der Stellung des deutschen Imperialismus.

Die außenpolitische Hauptorientierung ist die Stärkung der EU – ohne Aufweichen der Zusammenarbeit mit der NATO. Die Orientierung auf neue Kriege ist ungeschönt. Es gehe um die „verstärkte Zusammenarbeit der nationalen europäischen Armeen“ sowie die „praxisnahe“ und „zukunftsgerichtete“ Auswertung des Afghanistan-Einsatzes, damit die Erkenntnisse „in die Gestaltung zukünftiger deutscher Auslandseinsätze“ einfließen könnten.

Es tauchen zwei Stichwörter auf, die weitgehend unbekannt sein dürften. Das „Weimarer Dreieck“ soll als Instrument der „aktiven Europapolitik“ gestärkt werden. Gemeint ist die Zusammenarbeit von Deutschland, Frankreich und Polen. Damit ist die Stoßrichtung gegen die russische Föderation klar. Ebenfalls gestärkt werden soll die „Allianz der Demokratien“. Gemeint sind Pläne des US-Präsidenten Joe Biden, der eine Allianz weit über die NATO hinaus bilden will, um die Russische Föderation und die VR China militärisch einzukreisen und zu isolieren. Auch das palästinensische Volk hat nichts Gutes zu erwarten: „Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson.“

Für die Konkurrenz mit dem US-Imperialismus, für den Kampf um die Vorherrschaft in der EU, im Kampf gegen Russland und den „systemischen Gegner“ China werden alle Kräfte auf die Stärkung des Monopolkapitals gerichtet. Dafür stehen die ersten neun Kapitel des Sondierungspapieres.

Für den Umbau der Produktion bei gleichzeitigem Greenwashing brauche es einen „modernen Staat“, „flexible Arbeitszeitmodelle“ und den Abbau „bürokratischer Hürden“. Die Abschaffung der EEG-Umlage wird als Senkung der Stromkosten verkauft, obwohl diese gerade über die CO2-Steuer verteuert werden. Die Warnung des Sozialverbandes VdK, dass im Winter viele Menschen vor der Entscheidung stünden, ob sie heizen oder essen können, ist real.

Solch ein Regierungskurs verlangt nach Einbindung der Gewerkschaften. Dafür steht die überfällige Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro, die für die Betroffenen wichtig, wenn auch nicht ausreichend, ist. Das war es aber mit sozialen Zugeständnissen. Das Bürgergeld als Ersatz für „Hartz IV“ ist nebulös, über die Höhe findet sich nichts. Klar ist, das Sanktionsregime wird fortgeschrieben. Die Renten sollen zwar nicht sinken, dafür werden die Rentenkassen dem Kapital vorgeworfen: Die Deutsche Rentenversicherung kann und soll „ihre Reserven am Kapitalmarkt reguliert“ anlegen.

Geld für Sozialklimbim ist nicht da. An der Schuldenbremse wird nicht gerüttelt. „Substanzsteuern“, also Vermögenssteuern, soll es nicht geben, die „Unternehmenssteuer“ soll nicht erhöht werden. Dem Kapital werden „Superabschreibungen“ bei „Klimaschutz und Digitalisierung“ versprochen. Mit anderen Worten: Die Steuerzahler werden zur Kasse gebeten. Die Spaltung wird weiter vorangetrieben: Einem Teil der Klasse werden Zugeständnisse mit dem Mindestlohn gemacht, die Abgehängten werden weiter abgehängt.

Perfide sind die Methoden, mit denen den Menschen vorgegaukelt wird, dass sie über die Dinge demokratisch mit entscheiden könnten. Das Wahlalter soll auf 16 Jahre gesenkt werden. Gleichzeitig gibt es eine Kampfansage an fortschrittliche Kräfte. Der „Linksextremismus“ wird „als Form der Menschenfeindlichkeit“ mit „Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus, Islamismus“ gleichgesetzt. Auch das trägt die Unterschriften von SPD, Grünen und FDP.

Die Ampel geht mit einem Papier, das für verschärfte Aggression nach innen und außen steht, in die Koalitionsverhandlungen. Vieles erinnert an die Verbrechen der Schröder-Fischer-Regierung. Damals gelang es nicht, ausreichend gegen Krieg und Hartz IV zu mobilisieren. Es ist höchste Zeit, vor allem auch gewerkschaftliche Bewegung gegen die erwartbaren Angriffe zu formieren, damit der gefährliche Kriegskurs gegen Russland und China gestoppt wird und die Menschen in diesem reichen Land im Winter heizen und essen können.