Sondierungspapier der Ampel: Eine Kampfansage an die Arbeiterklasse
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅
20. OKTOBER 2021
von Peter Schwarz –
http://www.wsws.org
Die Konturen einer zukünftigen
Ampel-Koalition zeichnen sich ab. Unter den Parolen Modernisierung,
Innovation und Klimaschutz planen SPD, Grüne und FDP „eine
umfassende Erneuerung unseres Landes“, an deren Ende von den
Rechten und Errungenschaften, die sich die Arbeiterklasse in den
Nachkriegsjahrzehnten erkämpft hat, nichts übrig bleiben wird.
Am
gestrigen Freitag haben die Vorsitzenden der drei Parteien sowie der
designierte Kanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD) ein zwölfseitiges
Papier vorgestellt, das die Ergebnisse der Sondierungsgespräche der
vergangenen Tage zusammenfasst. „Wir sind davon überzeugt, dass
wir einen ambitionierten und tragfähigen Koalitionsvertrag schließen
können,“ heißt es darin. Nach der Zustimmung der zuständigen
Parteigremien am Wochenende, die als reine Formsache gilt, sollen am
Montag die eigentlichen Koalitionsverhandlungen beginnen.
Das
Sondierungspapier besteht größtenteils aus unverbindlichen Phrasen,
nebulösen Bekenntnissen, Auslassungen und schlichten Lügen. So,
wenn sich die Koalitionäre ganz am Schluss zur „humanitären
Verantwortung“ in der Flüchtlingspolitik bekennen. Zur
Corona-Pandemie und ihren 95.000 Todesopfern in Deutschland findet
sich – außer einem Lippenbekenntnis zu „mehr Pflegepersonal“ –
keine Silbe. Auch die rechtsextremen Terrornetzwerke und die AfD
werden nicht erwähnt.
Trotz seiner Phrasenhaftigkeit schlägt
das Sondierungspapier einige Pflöcke ein. Liest man es im
Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Realität, ist es eine Kampfansage an die Arbeiterklasse, die die
Agenda 2010 der letzten rot-grünen Bundesregierung von Gerhard
Schröder weit in den Schatten stellt.
Am deutlichsten zeigt
sich das im Kapitel über „nachhaltige Staatsfinanzen“. Das
Papier bekennt sich ausdrücklich zur Einhaltung der Schuldenbremse,
die eine Neuverschuldung von Ländern und Kommunen strikt verbietet
und die des Bundes eng beschränkt. Nur die Milliardensummen, die die
EZB jeden Monat in die Finanzmärkte pumpt, um die Aktienkurse nach
oben zu treiben, sind davon nicht betroffen.
Gleichzeitig
lehnt das Papier jede Besteuerung der gewaltigen Vermögen und
Einkommen ab, die während der Pandemie zusammengerafft wurden. „Wir
werden keine neuen Substanzsteuern einführen und Steuern wie zum
Beispiel die Einkommen-, Unternehmens- oder Mehrwertsteuer nicht
erhöhen,“ heißt es darin.
Was dies bedeutet, lässt sich
leicht ausrechnen. Auf den Bundeshaushalt kommen gewaltige
zusätzliche Ausgaben zu – die Rückzahlung der hohen Schulden, mit
denen die „Corona-Hilfen“ an die Großkonzerne finanziert wurden;
zahlreiche neue Geldgeschenke an Unternehmen, die als
„Zukunftsinvestitionen“ deklariert werden; und eine massive
Steigerung der Rüstungsausgaben. Ohne Neuverschuldung oder höhere
Besteuerung der Reichen lässt sich das nur durch drastische
Einschnitte bei den Sozialausgaben finanzieren.
Hier bleibt
das Sondierungspapier äußerst vage und beschränkt sich auf
Andeutungen. So soll die bisherige Grundsicherung (Hartz IV) durch
ein „Bürgergeld“ abgelöst werden, das „die Würde des und der
Einzelnen achtet, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigt“ und
die „Rückkehr in den Arbeitsmarkt in den Mittelpunkt“ stellt.
Mit ähnlichen Worten war vor zwanzig Jahren die Ablösung der
Sozialhilfe durch Hartz IV begründet worden, das sich dann als Hebel
für Zwangsarbeit und die massenhafte Einführung von Niedriglöhnen
entpuppte.
In der Gesundheitspolitik will die Ampel zwar für
mehr Pflegepersonal sorgen, gleichzeitig aber das System der
Fallpauschalen zur Krankenhausfinanzierung „weiterentwickeln“,
das maßgeblich zur Misere in Krankenhäusern und Pflege beigetragen
hat. Die Gesetzliche Rentenversicherung soll von der bisherigen
Umlagefinanzierung teilweise auf Anlagen am Kapitalmarkt umgestellt
werden, was der Finanzindustrie zusätzliche Einnahmen verschafft und
die Renten weiter unterhöhlt.
Auch der Klimaschutz, der im
Papier weit vorne steht, wird ganz in den Dienst der Profitanhäufung
gestellt. In der Bewältigung der Klimakrise lägen „große Chancen
für unser Land und den Industriestandort Deutschland“, heißt es
im Sondierungspapier. „Neue Geschäftsmodelle und Technologien
können klimaneutralen Wohlstand und gute Arbeit schaffen.“
Das
Papier verspricht den Energiekonzernen, „alle Hürden und Hemmnisse
aus dem Weg zu räumen“, die den beschleunigten Ausbau der
Erneuerbaren Energien behindern. Deutschland soll „zum Leitmarkt
für Elektromobilität“ werden. Im Interesse der Autolobby
verzichtet die Ampel auch auf die Einführung eines generellen
Tempolimits auf den Autobahnen.
Zentrale Achse des Papiers
bildet die Umgestaltung der Industrie und Arbeitswelt. Unter dem
zynischen Titel „Respekt und Chancen in der modernen Arbeitswelt“
wird einer vollständigen Flexibilität das Wort geredet, die
Arbeiter zwingt, dem Unternehmen rund um die Uhr zur Verfügung zu
stehen.
„Flexibilität ermöglicht, dass sich ein kreatives
Klima für Innovationen entfalten kann,“ heißt es im Papier. Unter
anderem sollen „flexible Arbeitszeitmodelle“ gefördert und
„Möglichkeiten zur Abweichung von den derzeit bestehenden
Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der
Tageshöchstarbeitszeit“ geschaffen werden.
Dabei zählen
die Koalitionäre fest auf die Unterstützung der Gewerkschaften:
„Eine historisch gewachsene Sozialpartnerschaft und die darauf
gründende Fähigkeit zum Kompromiss sind zentrale Voraussetzungen
dafür, dass dieser Veränderungsprozess gelingen kann. … Die
Mitbestimmung werden wir weiterentwickeln.“
Während die
Arbeiter die „Transformation“ durch unbegrenzte „Flexibilität“
unterstützen sollen, verspricht die Ampel den Konzernen großzügige
Hilfen. „Die Industrie steht vor einer weitreichenden
Transformation, dabei werden wir sie unterstützen,“ heißt es in
dem Papier. Die „Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes
Deutschland“ soll erhöht, „Innovation“ gefördert und „neues
Zutrauen in Gründergeist, Innovation und Unternehmertum“
geschaffen werden.
Vertreter der Wirtschaft reagierten
begeistert. „Insgesamt ein gutes Paket“, twitterte Ifo-Präsident
Clemens Fuest. Er verwies auf das Festhalten an der Schuldenbremse,
den Verzicht auf Steuererhöhungen sowie die Zusage der Förderung
von Investitionen. Der Chefvolkswirt der ING-Bank Carsten Brzeski
sprach von einem „verheißungsvollen Start“, er sei „definitiv
ein Schritt in die richtige Richtung“.
SPD, Grüne und FDP
sind sich bewusst, dass ihr Regierungsprogramm auf heftigen
Widerstand stoßen wird. Und während sie sich der Unterstützung der
Gewerkschaften sicher sind, sind sie sich weniger sicher, ob die
Gewerkschaften diesen Widerstand unter Kontrolle halten können.
Deshalb haben sie „eine Generalrevision der Sicherheitsarchitektur“
vereinbart.
„Wir wollen unser sicheres Land noch sicherer
machen,“ heißt es in dem Papier. „Jede und jeder in Deutschland
soll sich sicher fühlen – ob auf der Straße, zu Hause oder im
Netz. Dafür kommt es vor allem auf mehr präventive Sicherheit an.
Dazu brauchen wir motivierte, gut ausgebildete und ausgestattete
Polizistinnen und Polizisten. Ihre Präsenz und Bürgernähe macht
sie für uns zu einem unerlässlichen Partner. … Wir wollen dafür
sorgen, dass sie die verdiente Anerkennung und den Respekt für ihre
wichtige Arbeit erfahren.“
Das letzte Kapitel des
Sondierungspapiers trägt den Titel „Deutschlands Verantwortung für
Europa und die Welt“. Es tritt für eine europäische
Großmachtpolitik unter deutscher Führung sowie eine beschleunigte
militärische Aufrüstung ein und knüpft direkt an die entsprechende
Politik der Großen Koalition an.
„Wir wollen die
Europäische Union stärken, um Deutschland zu stärken,“ heißt es
dort. „Wir werden deshalb deutsche Interessen im Lichte der
europäischen Interessen definieren.“ Die Partnerschaft mit
Frankreich und Polen und die „Zusammenarbeit der nationalen
europäischen Armeen“ sollen gestärkt werden. Das transatlantische
Bündnis sei „dabei zentraler Pfeiler und die NATO
unverzichtbarerer Teil unserer Sicherheit“.
Die deutsche
Außenpolitik soll „künftig aus einem Guss agieren und
ressortübergreifend gemeinsame Strategien erarbeiten“. Dazu soll
„eine Nationale Sicherheitsstrategie“ vorgelegt werden.
Auch
die Zensur des Internets soll europaweit angegangen werden: „Wir
befähigen die liberalen Demokratien Europas dazu, Desinformation,
Fake-News- Kampagnen, Propaganda sowie Manipulationen aus dem In- und
Ausland besser abwehren zu können.“ Und die berüchtigte
Austeritätspolitik des früheren Finanzministers Wolfgang Schäuble
soll neu belebt werden: „Wir wollen dafür Sorge tragen, dass
Europa auf der Grundlage solider und nachhaltiger Staatsfinanzen
gemeinsam wirtschaftlich stark aus der Pandemie herauskommt.“
Das
Sondierungspapier wird nicht nur von Vertretern der Wirtschaft,
sondern auch von den meisten Medien positiv bewertet. Die meisten
Vertreter der herrschenden Klasse halten eine Ampel-Koalition derzeit
für am besten geeignet, die Angriffe auf die Arbeiterklasse und die
militärische Aufrüstung durchsetzen.
Die FDP und die Grünen,
die sich früher in gegenseitiger Abneigung begegneten, sind
plötzlich engste Freunde. Beide stützen sich auf begüterte
Mittelschichten, die auf die wachsende Wut der Arbeiterklasse mit
einem Rechtsruck reagieren. Die SPD ist eng mit den Gewerkschaften
verbunden und Expertin für Sozialabbau und andere soziale
Angriffe.
Auch die Linke ist indirekt in die Ampel
eingebunden. Es ist bezeichnend, dass sich die SPD sowohl in Berlin
als auch Mecklenburg-Vorpommern, wo zeitgleich mit dem Bundestag die
Landesparlamente neu gewählt wurden, für ein Regierungsbündnis mit
der Linkspartei entschieden hat. In Berlin setzt sie die Koalition
mit Linkspartei und Grünen fort, obwohl die SPD-Spitzenkandidatin
Franziska Giffey eine Ampel vorgezogen hätte. In
Mecklenburg-Vorpommern, wo sie 15 Jahre mit der CDU regierte, bildet
sie ein Zweierbündnis mit der Linken.
Wie zuvor die Große
Koalition wird auch die Ampel im Kern das Programm der rechtsextremen
AfD in die Tat umsetzen, die nach dem Rückzug ihres langjährigen
Vorsitzenden Jörg Meuthen immer stärker unter den Einfluss ihres
offen faschistischen Flügels gerät. Bezeichnenderweise wird im
Sondierungspapier der „Linksextremismus“ als „Form der
Menschenfeindlichkeit“ denunziert und auf eine Stufe mit
„Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus“ gestellt.
Die
Arbeiterklasse wird unweigerlich in Konflikt mit Scholz‘ Ampel
geraten. Diese Auseinandersetzung muss politisch vorbereitet werden.
Darin besteht die Bedeutung des Wahlkampfs der Sozialistischen
Gleichheitspartei (SGP), die als einzige Partei für ein
internationales, sozialistisches Programm
eintritt.
https://www.wsws.org/de/articles/2021/10/15/ampe-o15.html
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