Die Friedensbewegung – zerstritten, gespalten, zergliedert
Nein zu Krieg und Konfrontation
Von Wolfgang Bittner
Ein Freund schrieb mir zum Jahreswechsel, ihn erfülle Angst und Sorge, und er zitierte dazu den geblendeten Grafen Gloster aus Shakespeares „König Lear“: „Das ist die Seuche dieser Zeit: Verrückte führen Blinde“ („Tis the times plague, when madmen lead the blind“). Auch mich treibt es um, denn wir leben wieder in einer Zeit des Kalten Krieges und der West-Ost-Konfrontation, in der es jederzeit zu einem militärischen Schlagabtausch der Atommächte USA und Russland mit unabsehbaren Folgen kommen könnte. Wäre es in dieser heutigen politischen Situation nicht dringend geboten, dass Millionen Menschen für den Frieden auf die Straße gingen, um eine Änderung der Politik zu bewirken? Stattdessen ist die deutsche Friedensbewegung zerstritten und in einzelne Gruppen gespalten.
Im Wesentlichen lassen
sich zurzeit in Deutschland drei Protestbewegungen unterscheiden:
Erstens die herkömmliche Friedensbewegung, wie sie in Form des
Friedenswinters 2014/2015 auftritt; zweitens die Mahnwachen oder auch
Montagsdemonstrationen; drittens die Pegida, die aber nichts mit dem
Anliegen der Friedensbewegung gemein hat. Des Weiteren gibt es neben
den seit Langem existierenden Bündnissen gegen Rechtsextremismus
seit einigen Wochen zahlreiche Anti-Pegida-Bewegungen, Kundgebungen
gegen Rassismus und Ausgrenzungen oder – nach den Terroranschlägen
in Paris – Pro-Charlie-Demonstrationen.
Friedenswinter
2014/2015
Die einst mächtige
Friedensbewegung hat in Deutschland eine lange Tradition. Vereinzelt
bereits im 19. Jahrhundert und verstärkt in den 1950er Jahren aus
den Kriegserfahrungen entstanden, tritt sie zum Beispiel immer noch
jedes Jahr bei den Ostermärschen öffentlichkeitswirksam in
Erscheinung. Da wurde gegen die Wiederbewaffnung, den Vietnamkrieg,
gegen Atomkraft und Atomwaffen, gegen die Stationierung von Raketen
in Deutschland oder gegen den Irakkrieg von 2003 demonstriert, und
zeitweise nahmen Hunderttausende an diesen Kundgebungen teil,
darunter Persönlichkeiten wie Heinrich Böll, Willy Brandt oder
Günter Grass.
In dieser Tradition ist
meines Erachtens der Friedenswinter 2014/2015 zu sehen. Am 13.
Dezember 2014 versammelten sich in Berlin über 4.000 Bürger vor dem
Amtssitz des Bundespräsidenten, und auch diesmal nahmen wieder viele
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens an der Kundgebung teil.
Anlass waren die besorgniserregende Situation in der Ukraine wie auch
die Aussagen von Politikern, insbesondere des Bundespräsidenten
Gauck und der Kanzlerin Merkel, Deutschland müsse mehr Verantwortung
in der Welt übernehmen, auch militärisch.
Das Motto war: „Verantwortung für unser Land heißt: Nein zu Krieg und Konfrontation.“ Ich habe eine beeindruckende Rede des bekannten Theologen Eugen Drewermann gehört, der absolut nicht im Verdacht steht, irgendwie ferngesteuert zu sein. Wie auch andere Redner, trat er überzeugend und vehement für Frieden und Abrüstung ein, für zivile Konfliktlösungen sowie gegen eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Das ist die aktuelle Friedensbewegung: Kooperation statt Konfrontation, eine Politik der gemeinsamen Sicherheit, in die auch Russland einbezogen werden muss. Keine militärischen Interventionen mehr, keine Atomwaffen …
Die Mahnwachen
oder auch Montagsdemonstrationen
Daneben gibt es die
Mahnwachen oder Montagsdemonstrationen. Sie sind nach eigenem
Verständnis eine politisch unabhängige Bewegung, und die
Organisatoren sehen sich in der Tradition der Montagsdemonstrationen
von 1989 und 1990 in der damaligen DDR, aber auch der
antimilitaristischen und pazifistischen deutschen Friedensbewegung
zugehörig. Vor allem geht es gegen die Verschärfung des Krieges in
der Ukraine, gegen die Ausspähung der Bevölkerung durch die
US-amerikanische National Security Agency (NSA) und auch gegen die
Einseitigkeit der Medien.
Solche Kundgebungen finden
in zahlreichen Orten statt, und die Beteiligung wie auch die Anliegen
sind manchmal sehr unterschiedlich. Oft stimmen Programm und Realität
nicht überein. Zwar gibt es durchaus seriöse, engagierte
Teilnehmer, die sich von inhumanen Ansichten abgrenzen; aber nicht
wenige Demonstranten gehören unter dem Motto „Bei uns gibt es alle
Farben“ ganz offensichtlich der rechten Szene an. Dadurch ist diese
Bewegung in Verruf geraten. Hinzu kommt eine äußerst kritische, zum
Teil bösartige Berichterstattung in den Medien.
Das ist ein Problem für
diese Bewegung, wie ja auch aus Stellungnahmen der Vereinigung der
Verfolgten des Naziregimes / Bund des Antifaschisten (VVN/BdA), der
Partei DIE LINKE und gewerkschaftlicher Organisationen hervorgeht,
die vor einer Teilnahme an den Kundgebungen warnen. Hier droht meines
Erachtens eine Spaltung der Friedensbewegung, weil an den
Montagsdemonstrationen in den verschiedenen Orten Pazifisten,
Ostermarschierer, Linke, Sozialdemokraten oder Gewerkschafter
teilnehmen, was ihnen dann zum Vorwurf gemacht wird.
Aber auch der
Friedenswinter wurde von vielen Medien mit Häme, böswilligen
Unterstellungen und Beschuldigungen begleitet. Dabei ist nicht
auszuschließen, dass subversive Kräfte an der Spaltung und
Diskreditierung der gesamten Friedensbewegung beteiligt sind. Denn
eine starke Bewegung für Frieden, Abrüstung und zivile
Konfliktlösungen ist mit Sicherheit nicht im Interesse der
Regierenden in diesem Land, nicht in Europa und nicht in den USA.
Die
PEGIDA-Bewegung und deren Ursachen
PEGIDA bedeutet:
Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes. Schon
die Bezeichnung macht deutlich, dass Pegida nichts mit der
Friedensbewegung zu tun hat, zumal bei den Kundgebungen
fremdenfeindliche und nationalistische Ansichten vertreten werden.
Insofern warnen viele beunruhigte Mitbürger zu Recht vor einer
Teilnahme an den Aufmärschen dieser Protestbewegung. Andere rufen zu
Besonnenheit und Differenzierung auf, weil an den
PEGIDA-Demonstrationen Menschen unterschiedlichster Orientierung
teilnehmen, also auch Menschen, die ein oftmals nur diffuses
Unbehagen mit der Politik empfinden, was sich dann – statt gegen
die herrschende Politik – gegen die Ausländer und den Islam
richtet. Hier führen Populisten das Wort. Am 22. Dezember 2014 haben
in Dresden 17.000, am 12. Januar sogar 25.000 Menschen demonstriert,
und es ist nicht auszuschließen, dass sich diese Bewegung zu einer
neonazistischen Gefahr entwickelt könnte.
Viele Bürger merken heute
mehr oder weniger – oft nur intuitiv – dass etwas nicht stimmt,
dass sie von den amtierenden Politikern und den nahezu einheitlich
agierenden Massenmedien nicht ernst genommen und sogar belogen und
betrogen werden. Die Menschen leiden unter der Entsolidarisierung in
der Gesellschaft, die durch eine verantwortungslose Politik
verursacht wird: Arbeitslosigkeit, zunehmende Altersarmut, übermäßig
teure Mieten, mangelnde Krankenversorgung, soziale Unsicherheit …
Ein Viertel der deutschen Bevölkerung, das sind etwa zwanzig
Millionen, leben unterhalb oder am Rande des Existenzminimums, und
das in einem der reichsten Länder der Welt.
Während Schwimmbäder,
Jugendzentren, Bibliotheken, Theater und andere Kultur- und
Sozialeinrichtungen geschlossen werden und Hartz-4-Empfänger nicht
mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, wachsen
Einkommen und Vermögen gar nicht so Weniger auf Kosten der großen
Mehrheit ins Unermessliche. Zugleich gehen Milliarden in die Rüstung,
an Banken oder jetzt an die Kiewer Ukraine, wo eine von den USA
unterstützte kriminelle Regierung Krieg gegen die eigene
ostukrainische Bevölkerung führt und den Militärhaushalt soeben
auf 2,4 Milliarden Euro verdoppelt hat.
Das ist eine
brandgefährliche Situation, und das macht sich unreflektiert Luft in
einer Bewegung wie der PEGIDA. Aber dadurch ändert sich nichts, denn
die Demonstranten fordern nicht ihre in der Verfassung verbürgten
Rechte ein, sondern sie verlangen ein starkes Deutschland ohne Islam,
sie wenden sich gegen Menschen, denen es noch schlechter geht als
ihnen. Und die Politiker fragen bisher nicht nach den Motiven so
einer Protestbewegung, sie ignorieren zum Beispiel die Ursachen der
Flüchtlingsströme aus den zerstörten Ländern (zerstört von wem
und warum?).
Das bedeutet: Wenn die
Politik – im Einvernehmen mit korrumpierten Medien – weitermacht
wie bisher und sich nicht den existenziellen Fragen der Bevölkerung
stellt, braucht sich niemand darüber zu ereifern, dass PEGIDA und
eine Partei wie die Alternative für Deutschland (AfD) zu einer
ernsten Gefahr für die – ohnehin mehr und mehr ruinierte –
Demokratie anwachsen.
Wie mit der
Propaganda umgehen?
Selbstverständlich muss
sich eine Friedensbewegung, die den Namen verdient, gegen inhumane
Ansichten und Parolen abgrenzen. Was aber ist davon zu halten, wenn
durchaus gutwillige, antimilitaristisch und pazifistisch orientierte
Bürger, die an Friedensmärschen oder Mahnwachen teilnehmen,
pauschal als Nazis, Antiamerikaner, Putinfreunde oder Querfrontler
diffamiert werden? Waren etwa die Millionen, die nach den Anschlägen
von Paris demonstriert haben, sämtlich lupenreine Demokraten? Wer
von den Politikern und Journalisten, die diese Demonstrationen zum
Anlass für ihre Propaganda machten, hat danach gefragt, ob
Teilnehmer mehr rechts oder links orientiert waren?
Zu registrieren ist, dass
in letzter Zeit mehr und mehr ehrabschneiderisch gegen Menschen
polemisiert wird, die sich für Frieden und gegen Militarisierung
wenden. Da sollen offensichtlich auch kritische Publizisten zum
Schweigen gebracht werden, indem man ihnen durch Diffamierungen die
Existenz entzieht. Einer der Kampfbegriffe ist Antiamerikanismus. Der
Soziologe und Politikwissenschaftler Arno Klönne hat dazu kürzlich
in der Zeitschrift Ossietzky (Nr. 1/2015) wie folgt Stellung
genommen: „Eine geopolitische ‚Führungsmacht‘, deren Regierung
immer wieder Feldzüge unternimmt, um andere Staaten zu ruinieren;
die geheimdienstlich einen weltweiten Big-Brother-Betrieb unterhält,
sich massenmediale Beihilfe für ihre Operationen out of area kauft,
zerstörerische ‚Revolutionen‘ anzettelt, per Drohne illegal
Widersacher tötet, auch Folterungen nicht scheute – wenn ich
dieser US-amerikanischen Politik widerspreche, ziehe ich mir
hierzulande leicht den Vorwurf zu, ich sei ‚Antiamerikaner‘, ein
Feind der ‚westlichen Wertewelt‘, vermutlich ideologisch
infiziert von nazistischen Hinterlassenschaften.“
Arno Klönne hat sich
geprüft, er kommt zu dem Schluss: „Nationen haben keine kollektive
Identität. Keineswegs in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, nur in
der Propaganda von Machteliten. ‚Antiamerikaner‘? Bin ich nicht.“
Ich stimme ihm
uneingeschränkt zu, seine Einschätzung gilt für viele
Intellektuelle, die jetzt angefeindet werden. Aber ich möchte das
Spektrum der Argumente noch erweitern: Ist jemand ein Antiamerikaner,
Verschwörungstheoretiker, Putinversteher, Querfrontler oder was auch
immer, wenn er die Frage stellt: Müssen wir, die wir für Frieden
eintreten, jemanden maßregeln, der neben uns „undifferenziert“,
„einseitig“, „platt“ oder „simpel“ gegen die
Ungeheuerlichkeiten demonstriert, die uns geboten werden? Wer will
hier wem das verbürgte Recht zu demonstrieren aberkennen, soweit
nicht offensichtlich gegen die Grundsätze der Verfassung verstoßen
wird? Ich bin kein Meinungswächter in einer Atmosphäre geschürter
Terrorismushysterie, die offensichtlich von den eigentlichen
Problemen unserer Gesellschaft ablenken soll.
Allerdings fühle mich
dazu verpflichtet, mich jeglicher Form von Gewalt entgegenzustellen
und von Mitdemonstranten zu distanzieren, die neonazistische,
menschenverachtende Ansichten vertreten. Dagegen bin ich bereit, mit
Mitdemonstranten darüber zu diskutieren, ob sich die israelische
Regierung völkerrechtswidrig verhält, ob Deutschland ein
Einwanderungsland ist, ob das Schlagwort von der „Willkommenskultur“,
nur die Phrase einer saturierten Politikerkaste und ihrer Sprachrohre
ist und ob sich die deutsche Politik nicht gegen das aggressive,
verbrecherische Machtstreben US-amerikanischer Wirtschaftseliten
abgrenzen müsste. Im Übrigen halte ich es für an der Zeit, dass
Millionen auf die Straße gingen, alle, die intellektuell oder
intuitiv begriffen haben, worum es geht: Um die Bewahrung des akut
gefährdeten Friedens. (PK)
Wolfgang Bittner ist
Jurist und Schriftsteller. Eine Erstveröffentlichung dieses Artikels
gab es vergangene Woche bei www.hintergrund.de.
Kürzlich erschien sein Buch „Die Eroberung Europas durch die USA“.
Eine Rezension finden Sie in der NRhZ unter
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=21117
Online-Flyer Nr. 495 vom 28.01.2015