NRhZ_ErfindungRAF
Roman
von Frank Witzel: „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch
einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“
Die
ausradierte Botschaft
Buchtipp
von Harry Popow
Oh
je!!! Was für eine Sprache? Mitunter mutet sie an wie ein sehr
einfacher jugendlicher Straßenjargon, gemixt mit banalem Gewäsch
aus dem Blickwinkel eines 14-Jährigen, dann aber dies: Seite 9:
„...Claudia kramt im Handschuhfach nach einer Waffe. (…) Wo ist
denn die Erbsenpistole? Vergessen, aber die Wasserpistole ist echt
gut, die hat vorne `nen Ring, da kannste um die Ecke schießen.“
Oder auf Seite 209: „Die Zunge befühlt den schmerzenden Zahn. Das
Weltall befühlt die Erde. Der Wind greift einen jungen Apfel aus dem
Baum, dreht ihn an seinem Stiel um sich selbst und schleudert ihn auf
den Kiesweg. (…) Die Welt ist ein Mosaik aus Tabletten und Pillen
und dem Lächeln einer klaffenden Wunde, die sie mit Klammern
auseinanderhalten und unter das Mikroskop schieben. Jemand streichelt
mein Haar.“ Dann stellt der 14-Jährige auf Seite 281 fest, dass
die Tiere in beständiger Flucht die Erde vermessen, zu Land, zu
Wasser und in der Luft. Und mit dem Speer fest an den Grund gebunden,
entstehen dem Menschen Götter, „um bloßzulegen, was der gefrorene
Boden birgt... „Warum glauben wir, Dinge hin und her zu schieben
bestimme deren Sinn und unseren?“
Im großen Sack von
Emotionen, Abstraktem, fingierten Gesprächen, Momentaufnahmen der
Wirklichkeit, religiösen Betrachtungen, formulierten Sehnsüchten
und Träumen, Geschichten vom Ich auch Perlen der Sprachkunst wie
diese: „Eine kleine Wolke jagt die Straße entlang, spiegelt sich
im schwarzen Auto, dann im regennassen Kopfsteinpflaster.“ (S. 52)
Und auf Seite 251: „Der späte Nachmittag rutscht immer wieder müde
an den gekachelten Wänden der Hinterhöfe ab.“ Seite 385: „Die
Fenster der Reihenhäuser starren mit geschwollenen Lidern in den
Abend.“
Der Autor Frank Witzel versetzt sich in die Seele
eines Teenagers und versucht mit dessen Augen und Herz die Welt zu
verstehen. Der heute über 60-Jährige schrieb den Roman „Die
Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven
Teenager im Sommer 1969“. Es ist ein breit gefächerter kritischer
Blick auf die BRD der 60-er Jahre. Also von heute auf damals. Der
Autor benutzt den Jugendlichen, um die Empfindlichkeit eines
suchenden jungen Menschen in einer Welt des Konsums und der
bürgerlichen Einfalt und Aussichtslosigkeit bis in den kleinsten
Winkel des Gemüts auszuleuchten. Da fehlt nichts. Weder Politik,
Psychologie, Gedankensprünge ohnegleichen, Religion,
Gesellschaftskritik, Geschichte, Nazizeit, Spießbürgertum in der
BRD und Rebellion durch die RAF. Die Form ist vielfältig: So stehen
der wissenschaftliche Exkurs und der philosophische Essay neben dem
Fragebogen oder dem Verhör, neben Kurzgeschichten, Träumen, inneren
Monologen, Interviews, Reden, Vorreden, Lehrsätzen auch das
Theaterstück.
Was sich zwischen diesen 802 Seiten aus dem
Blickwinkel des Teenagers hineingemogelt hat, wurde offiziell mit
einem „maßlosen Romankonstrukt“ bezeichnet, mit einer Mischung
aus Wahn und Witz, mit einem zeitgeschichtlichen Panoramatik, mit
einem hybriden Kompendium aus Popp, Politik und Paranoia. Dafür gab
es 2015 den „Deutschen Buchpreis“.
Auch heißt es, der
Roman zeige das politische Erwachen der alten BRD und deren Befreiung
aus dem Muff der Nachkriegszeit. Dieser Satz wird in keiner Weise dem
inhaltlichen Anliegen des Autors gerecht. Wie auch, wenn auch in der
Zeit nach dem Jahr 1989 die alte Elite des Kapitals weder etwas mit
der ernsthaften Analyse der RAF noch mit den von der DDR aus dem
armen Nachkriegsdeutschland gestampften ökonomischen, kulturellen,
internationalen und sozialen Erfolgen etwas anzufangen weiß. So
wurde der RAF im Jahr 1998 aufgelöst. Seitdem wird vom deutschen
Staat die Geschichte im Sinne der politischen Eliten umgeschrieben.
Alles wird aus den Köpfen ausradiert, was sich seinerzeit fast 30
Jahre lang unter dem Banner der RAF gegen das herrschende System
aufgelehnt hatte.
Trauma
der Nachkriegsgeneration
Um so wichtiger dieses Buch.
Zumal der Autor keine Möglichkeit in seinen 98 Abschnitten auslässt,
dem Trauma der Nachkriegsgeneration unter der Fuchtel von Inflation,
steigender Arbeitslosigkeit, zunehmenden Widersprüchen im sozialen
Gefüge, Ende des Wirtschaftswunders, Protesten gegen den
Vietnamkrieg, atomarer Aufrüstung, Notstandsgesetzen und einer
zunehmenden Radikalisierung im öffentlichen Leben sowie der inneren
Aufrüstung gegen die Linke mit scharfen Worten und beißender Ironie
in die Parade zu fahren: Gegen die Verleugnung von Vergangenheit, von
Nazizeit, Kolonialherrschaft und Völkermord. (S. 98) „Aber von
einem wirklichen Neuanfang war nie die Rede, und das ist das
wirkliche Erbe der Nazis, dass das, was sie verbrochen haben, einfach
nicht aufhört, über ihr eigenes Ableben hinauszuwirken.“ (S. 233)
Auf Seite 288 berichtet Frank Witzel von einem Gremium des Deutschen
Zentralinstituts für soziale Fragen, dass das Unpolitische in der
Haltung von Jugendlichen lobt, „während man umgekehrt den Beitrag
der Oberstufler, der sich mit den zwingenden Gesetzen des
kapitalistischen Arbeitsmarktes und den Reproduktionsweisen des
Schweinestaates auseinandersetzt, als eine `an die niederen Instinkte
appelierende Philippika` brandmarkt.“
Liest man die 98 Teile
des 802 Seiten langen Buches, dann wird einem schnell bewusst: Der
Autor versetzt sich in die damalige Zeit und unternimmt in zahllosen
Detailaufnahmen den Versuch, die innere Bedrängnis, die seelische
Verfasstheit, ja, die kränklich-seelische Situation eines
Noch-Nicht-Erwachsenen ins Bild zu setzen. Wie der Jugendliche trotz
religiöser Bindungen und trotz Schwierigkeiten in der eigenen
Familie – der Vater war gestorben – mit allen Unbilden der
gesellschaftlichen Verhältnisse zurechtkam, wie er davon träumt,
aus den verwirrenden Fremdeinflüssen durch Schule und Kirche
auszubrechen.
Eindeutig geht es dem Autor nicht darum, ein
vollständiges Geschichtsbild der 60er Jahre in der BRD zu entwerfen,
sondern darum, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln das nervöse
Vorwärtstasten in eine ziemlich sinnentleerte Zukunft zu markieren.
Dabei wirft er den Blick in alle Richtungen, von der ersten Liebe,
über Sexualität, Freundschaften, Kirchenleuten, Geschichte,
Architektur, Nachkriegszeit und deren Versäumnisse in der BRD sowie
auf die allenthalben gefährliche und verdummende Medienpolitik
gegenüber der DDR, die als Zone bezeichnet wird und von der alles
Böse komme.
Auf Seite 18 ermahnt der Autor in vordergründig
ironischer Weise, das, was man so im geistigen Bereich von den
Herrschenden flötet: Man solle gar nicht in den Osten gehen, denn
dort müsse man als 14-Jähriger jeden Mittag nach der Schule zur
Armee, wo du mit alten russischen Maschinengewehren rumballern musst.
Auch darfst du keine langen Haare tragen, und es ist verboten, Musik
zu hören. An anderer Stelle schreibt Frank Witzel von
Fleckentfernern, die dazu dienen sollten, während der Nachkriegszeit
den Nazis gegenseitig Persilscheine auszuschreiben, denn, so der
Autor, Sünden seien nun einmal Bestandteil des
Weltengangs.
Denkende und aufmüpfige junge Menschen suchen
nach Auswegen
Das Buch offenbart ein gesellschaftliches
Verhältnis, in dem denkende und aufmüpfige junge Menschen nach
Auswegen suchen – zum Beispiel in revolutionären Taten, wie sie
die Rote-Armee-Fraktion praktiziert hat. Und so bleibt es auch dem
Autor als jungem Menschen nicht verborgen, dass sich politische
Unruhe in diesem kapitalistischen Staat breitmacht, auch wenn die
Morde der RAF in keiner Weise gut zu heißen waren und sind.
Es
stimmt, was auch andere Rezensenten kritisch angemerkt haben, der
Autor verliert sich in tausende Details, beobachtet sehr genau,
beschreibt und berichtet, vollführt allerdings eine mit scharfer
Zunge geführte Gedankenakrobatik bis zum Skurillen, sodass man nicht
gewillt ist, seinen Interpretationen der Wirklichkeitsausschnitte in
jedem Fall zu folgen. So entstehen vor den Augen der Leser kluge
Konstruktionen, manch sehr gute Beobachtung – aber verstehen kann
sie offenbar nur der Autor. Mit einem Wort: Vom Anfang dieses
umfangreichen Werkes bis zum Ende gibt es keinen inneren
Zusammenhang, jeder große oder kleine Textabschnitt lebt und stirbt
für sich allein. Das erschwert die Kommunikation zwischen Autor und
Lesern. Nicht in jedem Text, aber in den meisten Abschnitten. Erst
wenn man es bis zum Ende geschafft hat, die 800 Seiten in der oft
akrobatischen und außergewöhnlichen und naturalistischen Schreibart
zu durchschauen, geht einem vielleicht ein Licht auf: Der Mensch im
Kapitalismus ist schlimm dran, der Jugendliche, der suchende und
hoffende – er wird sich spießbürgerlich anpassen müssen. Oder er
sehnt sich nach Ausbruch, nach Gewalt, was das Allerschlimmste an
Entwürdigung des Menschen durch den Menschen wäre.
Ich bin
nicht der Meinung, dass diese raffinierte und spitzfindige
Textkonstruktion nur von geübten Leser zu verstehen ist, obwohl viel
Verständnis und Liebe zum Wort dazugehören. Sicher, der Autor hat
seinen Buchpreis verdientermaßen bekommen, und es scheint, dass sich
zahlreiche Leser nach diesem Wälzer gerissen haben – aber
Verständnis für die damalige Situation in der BRD mit den
Protestbewegungen gegen die herrschende Macht wird wohl kaum
aufkommen, schon gar nicht die Erkenntnis, dass junge Menschen, die
mehr in der Gesellschaft suchen als nur das Geldverdienen, die keine
Arbeit bekommen, die nach Auswegen suchen, nicht Schuld sind an
diesem Dilemma und deshalb zu kriminellen Taten getrieben werden.
Erst recht unter den Umständen des Jahres 2016, unter den
katastrophalen Weltverhältnissen, der wachsenden Kluft zwischen Arm
und Reich sowie der Osterweiterung der NATO und der zunehmenden
Faschisierung – auch im Ergebnis der Flüchtlingsbewegung.
Es
scheint, als habe sich der Autor mit diesem großen Werk selbst
übertroffen, denn wohl kaum hätte er annehmen können, genau mit
diesem Abbild der Wirklichkeit den Nerv der Zeit des Jahres 2016 zu
treffen. Und wenn schon die bürgerliche Gesellschaft
Westdeutschlands der 60er und 70er Jahre im Visier der RAF und
Sympathisanten stand, so erst Recht im Jahre 2016 von zunehmenden
Protesten aus allen Bevölkerungsschichten. Dank kommt – wie kann
es anders sein - von den Machteliten. Sie würdigen den Autor mit dem
„Deutschen Buchpreis“. Doch die eigentliche Botschaft des Romans
von Frank Witzel – sie bleibt ausradiert.
Noch einmal
ganz von vorn anfangen
Als ich mühevoll das Ende des
802-Seiten–Romans erreicht hatte, las ich auf der Seite 801
folgenden sehr ermutigenden Satz des Autors Frank Witzel: „Ich habe
gerade das Gefühl, wir sollten noch einmal ganz von vorn anfangen.“
Auf der folgenden Seite: „Das ist dann wieder die schöne Seele,
die in sehnsüchtiger Schwindsucht zerfließt, aber nicht zum Dasein
gelangt und nichts in der Welt bewirkt. (…) Und `bewirken`, was war
das noch mal?
Frank
Witzel: „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen
manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“, Roman, Format: Kindle
Edition, Seitenzahl der Print-Ausgabe: 817 Seiten, Verlag: Matthes &
Seitz Berlin; Auflage: 1 (23. Februar 2015), Verkauf durch: Amazon
Media EU S.à r.l., Sprache: Deutsch, ASIN:
B00UJTCEM4
Erstveröffentlichung dieser Rezension in der
Neuen Rheinischen Zeitung.
Weitere
Texte des Rezensenten: http://cleo-schreiber.blogspot.com
Harry
Popow: „WETTERLEUCHTEN - Platons erzürnte Erben haben das Wort“.
Rezensionen, Essays, Tagebuch- und Blognotizen, Briefe – ein
Zeitdokument“, Verlag: epubli GmbH, Auflage: 1 (18. Dezember 2015),
Berlin, 392 Seiten, www.epubli.de , ISBN-10: 3737580650, ISBN-13:
978-3-7375-8065-6, Preis: 21.99 Euro
Harry Popow: „In die
Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“ Engelsdorfer Verlag,
Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3