Entnommen: https://linkezeitung.de/2021/10/17/lenin-als-utopist/
Lenin als Utopist
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 17. OKTOBER 2021
von
Willy Huhn – https://aufruhrgebiet.de
Vorbemerkung: Wir
stellen hier einen weiteren Text von Willy Huhn (1919-70) aus dem
Jahr 1948 vor, der unsere Serie über den „vergessenen“
Theoretiker abschließt. Darin zeigt Huhn einige methodische Wurzeln
des Leninschen Substitutionalismus, der Unterordnung der Klasse unter
die Partei (und den mit ihr verbundenen Staat) auf, der letztlich zum
Stalinismus führte. Er verweist damit auch auf die konzeptionellen
Differenzen in der Parteifrage zwischen Marx und Lenin. Die
Redaktion
Das wichtigste Merkmal des utopischen Sozialismus
besteht in dem Aberglauben an die Macht der Wissenschaft. Ein
rationales System soll die gesellschaftliche Welt so entscheidend
verändern, dass etwas ethisch Besseres und sozial Vernünftiges
bewirkt wird. Die praktische Konsequenz aus dieser Überzeugung
besteht darin, dass die Gelehrten das Schicksal des
Menschengeschlechts selbst in die Hände oder vielmehr auf die Köpfe
nehmen müssen.
So stehen an der Spitze des Staates bei den
ersten Utopisten der abendländischen Geschichte, Platon, die
Philosophen und die Insel „Utopia“ des Thomas Morus wird von
einer „Gelehrtenklasse“ regiert. Wird nicht in unserer Zeit ein
ähnlicher Anspruch von den Intellektuellen erhoben – einst von der
juristischen Intelligenz (Engels hat sich einmal ausführlich mit
diesem „Juristensozialismus“ auseinandergesetzt), jetzt von der
technischen oder gar von der ökonomischen (Technokratie und
Bürokratie)? Die Utopisten suchen nach einer „sozialen
Wissenschaft“, um mit ihrer Hilfe neue soziale Bedingungen zu
schaffen. Diese Aktion geht von ihrer intellektuellen Initiative aus,
beruht auf der Einsicht und Tatkraft der Intelligenz, während sie
„auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche
Selbsttätigkeit, keine ihm eigentümliche politisch Bewegung
erblicken“, wie es im „Kommunistischen Manifest“
heißt.
„Wissenschaftlicher
Sozialismus“
Ist deshalb der
„wissenschaftliche Sozialismus“ selbst Utopismus? Nein, er ist
gerade im Gegensatz zu dieser Auffassung entstanden. Er stellt die
Wissenschaft nicht der gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber mit
dem Anspruch, dass sich die letztere nach ihr zu richten habe, indem
die wissenschaftliche Einsicht „verwirklicht“ werden müsse.
Umgekehrt „soll die Wissenschaft aus der kritischen Erkenntnis der
geschichtlichen Bewegung schöpfen“ (Marx). So haben Marx und
Engels im Laufe ihres Lebens den Marxismus aus der Geschichte West-
und Mitteleuropas abgeleitet. Auch die Rolle der Intellektuellen
bestimmte Marx gegenüber der utopistischen Auffassung bedeutend
bescheidener: da „es sich nicht um Durchführung irgendeines
utopischen Systems handele“, müsse er sich mit der
„selbstbewussten Teilnahme an dem unter unseren Augen vor sich
gehende geschichtlichen Umwälzungsprozess der Geschichte“ begnügen
(Marx: „Herr Vogt“). Indem die Wissenschaft aus der tatsächlich
vor sich gehenden Geschichte abgeleitet wird, wird sie „ein
bewusstes Erzeugnis der historischen Bewegung und hört auf,
doktrinär zu sein“ („Das Elend der Philosophie“).
Für
den Utopismus existiert das Proletariat nur unter dem Gesichtspunkte
der leidenden, also passiven Klasse, der von oben und von außen
geholfen werden muss. Der Marxismus geht von der selbstständigen
Aktivität der Arbeiterschaft aus. Für die Utopisten wird alle
künftige Geschichte zu einer bloßen „Propaganda“ und
„praktischen Ausführung“ ihrer „systematischen
Gesellschaftspläne“, Marx hingegen verwirft im „Kommunistischen
Manifest“ alle Systeme und verlässt sich, wie Engels 1890
versichert, für den schließlichen Sieg der im Manifest
aufgestellten Thesen einzig und allein auf die geistige Entwicklung
der Arbeiterklasse, „wie sie aus der vereinigten Aktion und der
Diskussion notwendig hervorgehen musste“. Entsprechend seiner
rationalistischen Herkunft nimmt also der utopistische Sozialist
gegenüber der Geschichte eine schulmeisterliche Haltung ein, während
Marx und Engels in ihr unsere einzige Lehrmeisterin
sahen.
Nationalpolitische
Widersprüche
Der Marxismus wollte nach
der (selbst erst geschichtlich gewachsenen und vertieften) Ansicht
seiner Begründer nichts anderes sein als die Erkenntnis der
gesellschaftlichen Entwicklung der fortgeschrittensten europäischen
Länder, an der sie selbstbewusst teilgenommen hatten. Für sie war
es eine Ableitung aus der geschichtlichen Bewegung ihrer Zeit und
ihres eigenen praktischen Mittuns. Es ist Trotzki gewesen, der dieses
Problem in aller Schärfe gesehen hat. Vor rund vierzig Jahren zeigte
er, dass die Sozialisten und Intellektuellen rückständigerer
Länder, die in sich den Übergang vom utopistischen zum
wissenschaftlichen Sozialismus noch nicht erlebt und den Kampf
zwischen beiden Haltungen noch nicht durchgefochten hatten, in Gefahr
waren, die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Marx und Engels im
Sinne des Utopismus, also dogmatisch und „orthodox“ aufzufassen.
Eben davor warnte Trotzki, wenn er für Russland folgerte: „Jene
inneren Widersprüche in der Konstruktion des Sozialismus, die der
Marxismus theoretisch überwunden hatte, kehren bei der praktischen
Anwendung des Marxismus in der Form national-politischer Widersprüche
zurück. Selbst die beste soziale Doktrin, d.h. diejenige, die die
Welterfahrung am richtigsten wiedergibt, kann die Erfahrung selbst
nicht ersetzen. Jedes Land musste und muss für sich aufs neue den
Marxismus erwerben, um ihn zu besitzen. Der internationale Charakter
der sozialistischen Bewegung zeigt sich nicht nur darin, dass jedes
Land aus der Erfahrung des fortgeschritteneren Landes Lehren für
sich zieht, sondern auch darin, dass es dessen Fehler
wiederholt.“
Im alten feudal-absolutistischen, überwiegend
agrarischen Russland mit seinem unterentwickelten Handel, seiner
schwachen und zudem meistens auf fremdem Kapitalimport beruhenden
modernen Industrie fehlten die wesentlichen Voraussetzungen für eine
auf marxistischen Erkenntnissen fußende Arbeiterorganisation. Als im
Jahre 1883 die erste marxistische „Gruppe zur Befreiung der Arbeit“
sich bildete, behauptete ihr Mitbegründer Plechanow, dass in
Russland weder die Basis noch die objektiven sozialen Bedingungen für
eine sozialistische Organisation gegeben seien. Wenn trotzdem die
revolutionäre Intelligenz Russlands die fortgeschrittensten
Wissenschaften und Ideen West- und Mitteleuropas studierte und
übernahm, so musste dieser „nationalpolitische Widerspruch“ aus
der revolutionären Bewegung Russlands in jeder Hinsicht einen „Typus
aller Ideologen-Bewegungen machen“ (Kritschewsky).
Zehn
Intellektuelle und ein Arbeiter
Gerade der
bolschewistische Historiker Pokrowski hat auf die revolutionäre
Intelligenz um die Mitte des 19. Jahrhunderts als den geistigen
Vorläufer des Bolschewismus hingewiesen. So vertrat Tschernischewsky
die Meinung, die „gebildeten Klassen“ Russlands könnten durch
ihre Aktion die politischen Verhältnisse ändern und die aus Kreisen
seiner Anhänger und Schüler stammende „Proklamation des Jungen
Russlands“ forderte schon die Diktatur der Partei der
revolutionären Intelligenz. Deren politisches Ziel war eine
„aufgeklärte Despotie“, die von oben eine „ökonomische
Umwälzung“ vollziehen sollte, um – ganz utopistisch – durch
diese erst jene Bedingungen zu schaffen, welche die Voraussetzungen
der Befreiung vom sozialen Elend sind.
Auch der agrarische,
auf der Bauerngemeinde zu errichtende Sozialismus der Narodniki wies
jene utopistischen Züge auf. „Die revolutionäre Intelligenz müsse
die Diktatur erobern und mittels derselben eine soziale Umwälzung
durchführen (…) Aus einer politischen Vorbedingung zur Befreiung
der arbeitenden Klasse verwandelt sich auf diese Weise in den Köpfen
der Intelligenz der bevorstehende Zusammenbruch des Absolutismus in
ein Mittel, unmittelbar eine sozialistische Revolution
herbeizuführen.“ (Paul Axelrod im Jahre 1892). Tatsächlich war
die russische Sozialdemokratie selbst zu der Zeit, als Axelrod diese
Sätze schrieb, noch keine selbstständige Arbeiterorganisation
sondern nichts anderes als eine Partei der revolutionären
Intelligenz: „Man kann wohl sagen“, bemerkte einer jener wenigen
Arbeiter, die ihr damals schon angehörten, „dass in den neunziger
Jahren auf je zehn Intellektuelle ein einziger Arbeiter kam“
(Schapowalow, „Auf dem Wege zum Marxismus“).
In diesen
neunziger Jahren begann der theoretische und politische Weg Lenins.
Von Anfang an erblickte er in der Arbeiterschaft lediglich die
Klasse, die elementar erwache, und auf die sich der russische
Revolutionär „stützen“, mit der sich der russische
Intellektuelle – er nennt ihn bezeichnender Weise „Jakobiner“!
– „verbinden“ könne. Diese beiden Ausdrücke verraten, dass es
sich immer noch um eine Bewegung der Intellektuellen, um eine Aktion
der „Wissenden“ handelt, die sich der Arbeiterbewegung lediglich
als Mittel zum Sturz des Zarismus in einer großen, alle
unzufriedenen Klassen der Bevölkerung umfassenden, nationalen
Revolution bedienen will, einer geschichtlichen Bewegung also, wie
sie seit der Ausbreitung der demokratischen Ideen nach Osten ab 1900
etwa auch für ganz Asien aktuell ist.
Drei
Arten von Menschen
Dieser Umstand bewog
Lenin, schon 1913 die These aufzustellen, dass nicht mehr Europa,
sondern Asien der Träger des geschichtlichen Fortschritts sei. Diese
Ideologie zeigt sich in China in einer auffälligen Parallele:
Sun-Yat-sen, den man den „chinesischen Lenin“ genannt hat,
unterscheidet in seinem Werke „Der Plan zum Aufbau des Reiches“
drei Arten von Menschen: „Erstens: die zuerst Wissenden, die
Erfinder; zweitens: die spät Wissenden, die Erweiterer oder
Propagandisten, drittens: die nichts Wissenden, die Mitarbeiter oder
Praktiker.“
Besonders deutlich wird diese Analogie in Lenins
„System der Zahnräder“. Es handelt sich 1. um die Masse der
Ausgebeuteten und Unterdrückten; d.h. um die Bauern und
Industriearbeiter; 2. um den Vortrupp dieser Masse, d.h. um das
städtische Industrieproletariat; 3. um die Vorhut des
Industrieproletariats, die „Kommunisten“ wie sich die
bolschewistische Intelligenz seit 1918 nannte. Die drei Zahnräder
„Masse“, „Vortrupp“ und „Vorhut“ sollen nicht
demokratisch in dieser Reihenfolge aufeinander einwirken, sondern
entsprechend dem Leninschen Organisationsprinzip „von oben nach
unten“! Die eigentliche historische Initiative geht von der Partei
der revolutionären Intelligenz aus. Schon Lenins Ausgangsstellung
ist eine utopistische: 1894 vertritt er die Meinung, dass sich „die
gesamte Geschichte (…) aus Handlungen der Persönlichkeiten
zusammensetze“, und wirft die Frage auf, worin die Garantie dafür
bestünde, „dass diese (öffentliche) Tätigkeit (einer
Persönlichkeit) kein vereinzelter Akt bleibt, der in einem Meer
entgegengesetzter Akte untergeht?“
Das klingt nicht nach
einer Geschichtsauffassung, die vor allem Masseninitiative und
Klassenaktivität ins Auge fasst! Jene aktiven Persönlichkeiten
stehen vor dem Problem, „auf welche Weise“ ihre „auf die
Verwirklichung der sozialistischen Ordnung gerichtete Tätigkeit die
Massen heranziehen soll, damit sie ernste Ergebnisse zeitige?“ Der
Utopismus stand also vor dem Dilemma, auf der einen Seite die Massen
gewinnen und heranziehen zu müssen, damit die Handlungen der
Persönlichkeiten keine vereinzelten Akte blieben, auf der anderen
Seite aber dafür sorgen, dass diese Handlungen der einzelnen
historischen Aktivisten nicht in einem Meer entgegengesetzter
Aktionen der Masse untergingen.
Der Kampf gegen die Spontanität
„Dazu
war ein verzweifelter Kampf gegen die Spontaneität notwendig!“,
schreibt Lenin acht Jahre später, in dem er sich auf die
Organisationsprinzipien Lassalles beruft! Hierzu muss man sich
vergegenwärtigen, dass Marx in einem Brief vom 13. Oktober 1868 an
Schweitzer, den Nachfolger Lassalles, bemerkte, der letztere sei in
den Fehler Proudhons verfallen, die wirkliche Grundlage seiner
Agitation nicht in den „wirklichen Elementen der Klassenbewegung zu
suchen, sondern letzterer nach einem gewissen doktrinären Rezept
ihren Verlauf vorschreiben zu wollen.“ Drei Jahre später betont
Marx in einem Briefe vom 23. November 1871 an Bolte nochmals, dass
die Organisation Lassalles „eine bloße Sektenorganisation“ sei
und „als solche der von der Internationalen angestrebten
Organisation der wirklichen Arbeiterbewegung feindlich ist.“ Da
Lenin gerade den Kampf Lassalles gegen die selbstständige deutsche
Arbeiterbewegung diesem als historisches Verdienst anrechnet, zielt
die Polemik von Marx in diesem entscheidenden Punkt gegen Lenin
selbst!
Ein sozialdemokratisches Bewusstsein kann nach Lenin
den Arbeitern „nur von außen gebracht werden“. Die Geschichte
aller Länder beweise, dass sie aus eigener Kraft nur zu einem
trade-unionistischen Bewusstsein gelangten, während der Sozialismus
von den gebildeten Vertretern der Bourgeoisie, der Intelligenz,
ausgearbeitet worden sei: „Ebenso entstand auch in Russland die
theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem
spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches
und unvermeidbares Ergebnis der Ideenentwicklung der
revolutionär-sozialistischen Intelligenz.“
Die
Diktatur der Jakobiner
Die russische
Sozialdemokratie konnte demnach nur ein Kartell, ein Bündnis der
führenden Intelligenz mit den ihr folgenden Massen sein: „Der
Jakobiner, der untrennbar verbunden ist mit der Organisation des
Proletariats, das sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist
– das ist eben der revolutionäre Sozialdemokrat.“ Nun, die
Diktatur der Jakobiner in der großen französischen Revolution war
auch eine Herrschaft der Intelligenz, der einzigen regierungsfähigen
Klasse nach dem Sturz des Hofadels und der mit ihm verbündeten hohen
Finanz, ein „Advokatenregiment“, wie Kautsky es treffend
bezeichnete. Rosa Luxemburg wies im Hinblick auf dieses Bekenntnis
darauf hin, dass Lenin damit „seinen Standpunkt vielleicht
scharfsinniger gekennzeichnet“ habe, „als es irgendeiner seiner
Opponenten tun könnte“.
Deutlich kommt gerade in dieser
Äußerung die alte Idee des russischen Utopismus zum Ausdruck, dass
die Revolution das Werk der radikaldemokratischen Intelligenz sein
müsse mit dem Ziel der Diktatur ihrer konspirativen Organisation,
der jakobinischen Partei. Denn die spontane geschichtliche Bewegung
führt zu keiner Revolution: „Ohne revolutionäre Theorie kann es
auch keine revolutionäre Bewegung geben.“ Nur die revolutionären
Theoretiker und Intellektuellen garantieren die Revolution, „die
Weisen, die die Wahrheit entdecken“, sind die eigentlichen
geschichtlichen „Persönlichkeiten“, die allerdings der
Propagandisten bedürfen, der „Verkünder, die die Wahrheit
verbreiten“. Die Arbeiter aber sind auch für die leninistische
Ideologie nur „die Ausführenden“, welche die eigentliche
„Wahrheit nicht kennen“
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