Matthias Krauß hat der »Aufarbeitungsindustrie« aufgeschrieben, was sie nicht lesen will
Von Arnold Schölzel
Matthias Krauß: Die große Freiheit ist es nicht geworden. Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2019, 255 Seiten, 14,99 Euro
Der Autor stellt sein Buch am morgigen Dienstag, dem 26. März 2019, um 19 Uhr in der jW-Ladengalerie (Torstr. 6, 10119 Berlin) vor
Der französische Schriftsteller Vladimir Pozner schrieb zum Verhör Brechts von 1947 durch den US-Kongressausschuss »für unamerikanische Aktivitäten«, man könne meinen, »ein Zoologe sei Gefangener von Affen«. Nach fast 30 Jahren westdeutschen Herrenvolkumgangs mit der DDR lässt sich sagen: Fachleute haben immer noch keine Chance. Und die Aussichten stehen gut, dass das so bleibt. Halluzinationen wie die von »Stasi« und »Unrechtsregime« sind heute Drehachsen von Filmproduktionen (CDU-Kulturstaatsministerin Monika Grütters, Kosponsorin vom »Gundermann« des Regisseurs Andreas »Es gibt keine Absolution« Dresen, nominierte »ihren« Film am Mittwoch gleich zehnmal für den Deutschen Filmpreis »Lola«) oder von Zeitungen wie der der Roten Hilfe, das Staats-TV entkommunisiert Brecht zum gefühlt 50. Mal. In Zeiten von Aufrüstung, Kriegsvorbereitung und Neufaschisten ist der Bedarf an Antikommunismus besonders groß, vor allem an dem von links bis liberal.
Ein Buch mit dem Titel »Die große Freiheit ist es nicht geworden. Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat« hat da wenig Erfolgsaussichten. Verfasser ist Matthias Krauß, freier Journalist in Potsdam und jW-Autor. Leser seiner Texte wissen, dass sie es bei ihm nicht mit polternder oder sentimentaler Rechthaberei, sondern mit trockenem Witz, leiser Ironie und genauer Kenntnis Ostdeutschlands zu tun haben. Ein preußischer Lakoniker. Das schließt Engagement ein, angefangen bei der Wahl des Titels, der einem Gedicht Erich Kästners von 1951 auf die BRD entnommen ist. Krauß stellt einen Auszug seinem Text voran und kommentiert: »Diese Zeilen sind inzwischen auch Ostdeutschland wie auf den Leib geschrieben«. In der Süddeutschen Zeitung stand zu so etwas: »Matthias Krauß nörgelt über den Stand der deutschen Einheit«. Was Unfug ist, aber als Primatenurteil gnädig. Krauß (geb. 1960) schreibt im ersten der 25 Abschnitte seines Buches zur Klärung, er kämpfe seit 30 Jahren »um den postumen Ruf der DDR«, ohne »dunkle Seiten zu bestreiten und bedenkliche oder fragwürdige Dinge zu verharmlosen«. Es gehe ihm »allein darum, dem einseitigen Mainstream etwas entgegenzusetzen«. Vergebliche Mühe? Nun, es gibt Gundermann jenseits von Dresen, Brecht jenseits der ARD und hartnäckige Tatsachen jenseits der, wie Krauß sie nennt, »tief gestaffelten Aufarbeitungsindustrie«. Beidem widmet er sich.
Krauß beginnt mit der Wiedereinführung von Krieg und schreibt, der DDR-Bürger habe in einem Land gelebt, »das Frieden hielt und dessen Politik Friedenspolitik war«. Er sei jetzt »Bürger eines deutschen Staates, der Kriege führt«. Und weiter: »Der Fall der Berliner Mauer markierte das Ende der längsten Friedensphase, die Europa in seiner Geschichte erlebt hatte.« Das Bauwerk sei »steingewordenes Symbol für den europäischen Frieden« gewesen.
Krauß durchforstet und kommentiert auf diese Weise viele Politikfelder, seine Befunde sind nicht schön: In der DDR herrschte soziale Durchmischung, Spaltung und Entsolidarisierung dominieren heute, vom Bevölkerungsschwund durch Abwanderung (er zählt 2,3 Millionen Weggezogene, eine neuere Stu die 5,2 Millionen) ganz zu schweigen. Die »Nischengesellschaft«, als welche die DDR in den »deutschen Heldensagen« auftauche, begann für Ostdeutsche 1990. Die These, die SED habe »das Bürgertum« beseitigt und die Bevölkerung »proletarisiert«, ist ein albernes Märchen: Vor 1990 Bildungs- und Aufstiegschancen für fast alle, danach Abwicklung, Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne für fast alle. Spürbar grimmig wird der Autor beim Kapitel über die aus dem Westen importierte, durch Geldgier und Privilegiengeilheit aufgefallene Beamtenschaft. Deren Pensionen liegen im Durchschnitt viermal so hoch wie ostdeutsche Renten. Das sind Welten. Er schildert weitere »Erfolge« auf dem Land, in der Wohnungs-, Finanz- und Bildungspolitik, in der Justiz, die Auschwitz mit dem DDR-Gefängnis Bautzen gleichsetzte, und schreibt zur Situation ostdeutscher Frauen: 1990 hatten mehr als 90 Prozent der DDR-Frauen über 25 Jahren einen Berufs- oder akademischen Abschluss gegenüber 35 Prozent in der BRD – das »wirkliche Erbe von DDR-Bildungsministerin Margot Honecker«.
Den Abschnitt zu »Verfolgung als Daseinsweise« überschreibt Krauß mit »Hexe, Jude, Stasi-IM«. Sein Argument: Es sei »nicht illegitim, bestürzende Parallelen herauszuarbeiten und gleichzeitig die völlige Verschiedenheit in ihren Auswirkungen herauszustellen« – keine Gleichsetzung. Er nennt neun Gemeinsamkeiten, darunter Verfolgung ohne Straftat, Berufung auf Moral, staatliche Sondergesetze, fundamentalistischen Reinheitsfimmel und die disziplinierende Warnung an alle. Deutschland sei mit der Jagd auf IM lange vor Donald Trump »im ›postfaktischen Zeitalter‹ angekommen«.
Krauß hat eine exemplarische Studie über die »Vorkriegszeit«, deren Beginn er richtig auf 1990 datiert, geschrieben. Das Verhör Brechts in Washington 1947 fand – zwei Jahre nach Hiroshima und Nagasaki – unter der Drohung statt, das US-Atombombenmonopol gegen die Sowjetunion auszunutzen. Das Wissen darum machte Brecht zum Experten. Krauß ist auch einer.
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