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Zu Ehren des 71. Jahrestages der DDR: Karl Eduard von Schnitzler
Karl Eduard von Schnitzler und Marta Rafael: Ein Rückblick – Die DDR in der deutschen Geschichte.
Veröffentlicht am 17. Februar 2016 von sascha313
Wenn man zurückblickt auf
die deutsche Geschichte, so wird später vor allem ein Abschnitt
unauslöschlich in Erinnerung bleiben – und zwar in äußerst
positiver Hinsicht: die Geschichte der DDR! Wer könnte besser
darüber referieren als der langjährige, brillante und scharfzüngige
Fernsehkommentator der DDR, der Kommunist Karl-Eduard von Schnitzler.
In diesem, einem seiner letzten Beiträge umreißt er vierzig
unvergängliche und unvergessene Jahre deutscher Geschichte. Was für
viele Spätergeborene unverständlich sein mag, nämlich daß man
dieses vielgescholtene und vielgeschmähte Land lieben konnte, und
daß dies auch noch ein Adliger tat, zeugt von seiner besonderen
Bedeutung. Die DDR, so schrieb Schnitzler, war „das Beste, was in
der Geschichte den Deutschen, den Völkern Europas und der Welt aus
Deutschland widerfahren ist!“
Die DDR in der deutschen
Geschichte
von Marta Rafael und Karl-Eduard von
Schnitzler
Wir waren kürzlich
aufgefordert, zwei Jubiläen zu begehen: Die Gründung der BRD und
die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Jubiläum kommt
von „jubilieren“ – oder umgekehrt. Worüber sollen wir
jubilieren? Daß die DDR zugrunde ging? Darüber später. Die DDR ist
so wenig „ehemalig“ wie das Kaiserreich oder die Weimarer
Republik. Für sie gilt merkwürdigerweise kein „ehemalig“. Aber
wir werden sehen. Sollten wir darüber jubeln, daß in der
Adenauer-Regierung des ersten deutschen Nachkriegsstaates mehr Nazis
saßen als in der ersten Hitler-Regierung vom Januar 1933? Daß die
Konzerne, Monopole und Banken, die Hitler die Regierungsgewalt –
nicht etwa die Macht! – in den Schoß gelegt hatten, weiterbestehen
(offen oder getarnt) und neue Macht besitzen und ausüben –
gleichgültig, ob die Kanzler Kohl oder Schröder heißen?
Die
Deutsche und die Dresdner Bank, die Commerz- und Privatbank oder/und
Krupp, Flick, Thyssen, AEG, Wintershall, Bosch, Portland, IG Farben,
Norddeutscher Lloyd, Rheinmetall – sie alle und noch viele mehr und
ihre Nachkommen haben Hitlers Krieg betrieben und an ihm verdient,
haben die Hochrüstung in Gang gesetzt (schon vor Hitler!), den Krieg
geführt, andere Völker ausgeplündert, Konzentrationslager
installiert und an ihnen verdient wie am Holocoust – und nun haben
sie ganze 5 Milliarden Mark im Angebot, die sie auch noch von der
Steuer absetzen können, den Rest zur Summe von 10 Mrd. gibt der
Staat, die Allgemeinheit, dazu – zu dem, was sie „Wiedergutmachung“
nennen. Sie sind wieder der Staat im Staate.
Über all das
jubilieren?? Oder über die Staatsoberhäupter? Heuss, der im März
1933 im Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zustimmte – alle Gewalt
für den Faschismus und gegen das Volk! Oder Heinrich Lübke, der für
Himmler KZs baute! Oder Carstens, einst Verbindungsmann zwischen
Ribbentrops Außenministerium und Goebbels
Reichspropagandaministerium! Oder Weizsäcker, der in Hamburg das
Gift Agent Orange entwickeln ließ, mit dem dann die amerikanischen
Übermenschen in Vietnam Wälder und Kinder, Frauen, Männer, Alte
und Junge, ja auch eigene Soldaten vergiften ließen! Alles
Oberhäupter des Staates, den es nun zu bejubeln galt!? Oder 2.300
Namen von Bonner Staatsfunktionären – von Globke, Adenauers
Schreibtischmörder an Juden, bis zu Kiesinger, v. Eckardt,
Oberländer, Grebe und Fränkel oder 1.118 Namen von hohen
Justizbeamten, Staatsanwälten und Blutrichtern, bei denen heutige
Nachkommen gelernt haben, was „Recht“ ist (Völkerrecht und
Strafrecht).
Bis zu den 520 Diplomaten, Botschaftern und
Konsuln – eins im Dienste des Hitlerschen, nun des heutigen
Auswärtigen Amts (warum sollten sie auch den Namen dieser
Repressionsbehörde ändern)! 300 hohe und höchste Polizeischergen
der Faschisten in der Bonner Polizei und im Amt für
Verfassungsschutz (nun natürlich nach Berlin, ihrem alten Standort,
zurückgekehrt)! 180 Admirale und Generale die Hitlers
verbrecherischen Krieg führten, in die Bundeswehr überwechselten
und dann ihren Nachwuchs ausbildeten! Allesamt mitverantwortlich für
Hitler und Himmler, für Faschismus über Europa, für Kriege und
Vernichtungslager. Kein Wunder, daß sie bei Antifaschismus ROT sehen
und all ihren Haß aussondern. Über die jubilieren? Das ist ja wohl
nicht das Deutschland geworden, das Bertolt Brecht sich gewünscht
hat – 1947 mit seiner Kinderhymne…
Armut
sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß
ein gutes Deutschland blühe
wie ein andres gutes Land.
Daß
die Völker nicht erbleichen
wie vor einer Räuberin
Sondern
ihre Hände reichen
uns wie andern Völkern hin.
Und nicht
über und nicht unter
andern Völkern wolln wir sein
Von der
See bis zu den Alpen
von der Oder bis zum Rhein.
Und weil
wir dies Land verbessern
lieben und beschirmen wir’s
Und das
liebste mag’s uns scheinen
so wie andern Völkern ihrs.
Ein
solches Deutschland ist nur auf einem Drittel deutschen Bodens etwas
geworden – zwischen Oder und Elbe. Und dessen Ziel und Inhalt hat
Johannes R. Becher 1949 besungen, und wir erhoben es vor 50 Jahren
nach der Melodie von Hanns Eisler zur Nationalhymne.
Alte
Not gilt es zu zwingen,
und wir zwingen sie vereint,
denn es
muß uns doch gelingen,
daß die Sonne schön wie nie
über
Deutschland scheint.
Glück und Frieden sei
beschieden
Deutschland, unserm Vaterland!
Alle Welt sehnt sich
nach Frieden!
Reicht den Völkern Eure Hand!
Wenn wir
brüderlich uns einen
schlagen wir des Volkes Feind.
Laßt das
Licht des Friedens scheinen,
daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn
beweint!
Dieses Motto – zur
Staatsdoktrin erhoben – wird unsterblich sein in der deutschen
Geschichte – unauslöschlich – wie jene unbesiegliche Inschrift,
die Bertolt Brecht in seinen Svendborger Gedichten zu jener Parabel
erhob:
Zur Zeit des Weltkriegs in einer
Zelle des italienischen Gefängnisses San Carlo, voll von verhafteten
Soldaten, Betrunkenen und Dieben, kratzte ein sozialistischer Soldat
mit Kopierstift in die Wand:
HOCH LENIN! Ganz oben, in der
halbdunklen Zelle, kaum sichtbar, aber mit ungeheuren Buchstaben
geschrieben. Als die Wärter es sahen, schickten sie einen Maler mit
einem Eimer Kalk, und mit einem langstieligen Pinsel übertünchte er
die drohende Inschrift. Da er aber mit seinem Kalk nur die
Schriftzüge nach fuhr, stand oben in der Zelle nun in Kalk: HOCH
LENIN!
Erst ein zweiter Maler überstrich das Ganze mit
breitem Pinsel, so daß es für Stunden weg war, aber gegen Morgen,
als der Kalk trocknete, trat darunter die Inschrift wieder hervor:
HOCH LENIN!
Da schickten die Wärter einen Maurer mit einem
Messer gegen die Inschrift vor. Und er kratzte Buchstabe für
Buchstabe aus, eine Stunde lang, und als er fertig war, stand oben in
der Zelle, jetzt farblos, aber tief in die Mauer geritzt, die
unbesiegliche Inschrift: HOCH LENIN!
Jetzt entfernt die Mauer!
sagte der Soldat.
Mit der „Entfernung“
der Mauer ist es nicht getan – weder im italienischen San Carlo,
noch in Berlin. Nicht nur der Name LENIN ist nicht aus der Geschichte
zu entfernen, noch der Name des ersten deutschen Friedensstaates
„DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK“. Wir wollten immer ein
einheitliches antifaschistisches demokratisches Deutschland – wie
Bertolt Brecht es beschrieben hat: Vor dem „die Völker nicht
erbleichen“ und „nicht über und nicht unter anderen Völkern“,
weil wir es „verbessern“ wollten. Das ist uns nicht gelungen.
Heute steht das alte GROSSDEUTSCHLAND wieder, dem immer wieder der
Schreckensschrei in Europa vorausging: die Deutschen kommen! Und es
reicht wieder von Polen bis an die Grenzen Dänemarks, Hollands,
Belgiens, Frankreichs, Österreichs und der Schweiz. Und da sind
weder „Anmut“ noch „Verstand“ am Werk. Ist es nicht so: Erst
mußte die Mauer weg – dann, zweitens – die Deutsche
Demokratische Republik, damit – drittens – wieder eine deutsche
Regierung Soldaten ins Ausland schicken und – zunächst in
Jugoslawien – Krieg führen konnte? Alles unter tatkräftiger Hilfe
deutscher Außenminister wie Genscher und Fischer, deutscher Innen-
und Kriegsminister wie Kinkel und Scharping?
Denn wir hatten –
mit sowjetischer Hilfe – einen Staat geschaffen, der das Potsdamer
Abkommen verwirklichte und aus den Ruinen des Hitlerreiches und der
Banken und Monopole und deren Krieg einen Staat, der allen Völkern
die Hand reichte und dafür angetreten war, daß nie mehr eine Mutter
ihren Sohn beweint! Den ersten Staat auf deutschem Boden, der FRIEDEN
zum Regierungsprogramm erhoben hat! Solange er existierte, durfte
keine deutsche Regierung es wagen, das Wort KRIEG auch nur in den
Mund zu nehmen – oder gar im Fernsehen! So lange es die Deutsche
Demokratische Republik gab, gab es keinen Krieg von deutschem Boden
aus! Das alles weist dieser Deutschen Demokratischen Republik einen
hervorragenden, nicht auszulöschenden Platz in der deutschen
Geschichte zu!
„Die Deutsche Demokratische Republik war das
Beste, was in der Geschichte den Deutschen, den Völkern Europas und
der Welt aus Deutschland widerfahren ist!“ Mit diesem Satz begann
ich 1993 mein Buch „Provokation“. Und man ließ sich provozieren!
Von A bis Z, von ARD über BILD; SPIEGEL und STERN bis ZDF heulten
sie auf, weil ich in Erinnerung zu rufen gewagt hatte, daß der erste
Staatspräsident dieses verruchten Staates, Wilhelm Pieck, den Satz
geprägt hatte, den Walter Ulbricht aufgriff und Erich Honecker zur
innen- und außenpolitischen Maxime erhoben hatte: VON DEUTSCHEM
BODEN DARF NIE WIEDER KRIEG AUSGEHEN! Eine „Aufarbeitung der
Geschichte“ – wenn es denn offiziell so etwas gäbe – bräuchte
die DDR nicht zu scheuen. Aber sie war nur ein deutscher
Teilstaat.
Was Europa, Afrika und Vorderasien im Ablauf der
Geschichte immer wieder zu fürchten hatten, ihnen Zerstörung,
Leichenfelder und Unterdrückung gebracht hatte – es war in der
Neuzeit stets von einem einheitlichen Deutschland ausgegangen, von
einem REICH: Dem Kaiserreich und dem Großdeutschen Reich. Deshalb
könnte eine „Aufarbeitung der Geschichte“ nicht auf die Deutsche
Demokratische Republik beschränkt bleiben und nicht auf die Zeit von
1949 bis 1989 (und schon gar nicht auf „Mauer“ und „Stasi“):
Sie muß im Spiegelsaal von Versailles beginnen und bei
Bismarck.
Ein „Erstes Reich“, das Hitler wieder
heraufbeschwören wollte, hatte tausend Jahre gewährt. Es war in
Wahrheit ein Flickenteppich gewesen. Duodezfürsten, Herzöge und
vorgeblich blaublütige Landadelige: Jeder hatte sein Ländle, seine
Residenz, seine Hofräte und Minister, seine Bankiers und Soldaten,
die er den Kaisern und Königen verkaufte – gegen Geld, als Söldner
für deren Raubzüge. Sie alle machten das „Reich“ arm, lebten
von Leibeigenschaft und Fron und wollten mit Grenzen und Zöllen die
deutsche Kleinstaaterei verewigen.
Die Bildung des deutschen
Nationalstaates, des „Zweiten Reiches“, war historisch längst
herangereift. Und die Schaffung nationaler Einheit sei dem „eisernen
Kanzler aus dem Sachsenwald“ als Verdienst unbenommen. Unfreiwillig
diente Bismarck dem gesellschaftlichen Fortschritt. Aber er schuf die
deutsche Einheit mit Blut und Eisen. Um Preußens Vorherrschaft in
Deutschland zu sichern, boxte er zunächst Österreich aus dem
deutschen Nationalverband hinaus (heute sind es – vorerst – nur
unverbesserliche Neonazis, die von Wien, München und anderen Städten
aus öffentlich die „Vollendung der deutschen Einheit“ durch
Beitritt Österreichs zur Bundesrepublik fordern – Haider und
Stoiber marschieren im Geiste mit). Dann mußte Fürst Bismarck noch
Bayerns König bestechen, damit dieser dem Hohenzollern-Kaiser
Wilhelm I. zustimmte. Dänemark und Frankreich mußten besiegt
werden. Und mit seinen „Sozialistengesetzen“ bescherte Bismarck
Zehntausenden von Sozialdemokraten gesellschaftlichen Verruf
(„Landesverräter“), Berufsverbote, sozialen Abstieg,
Polizeiverfolgung, Justizwillkür und Haft. Mit besonderem Haß
wurden Arbeiterführer wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht
verfolgt.
Die Herren der Ruhr entfesselten mit ihren
Ludendorffs, Hindenburgs und Hohenzollerns ihren ersten Anlauf zur
Teilhabe an der Weltherrschaft. Denn sie waren zu spät gekommen,
andere hatten längst ihren Nationalstaat, die Welt war aufgeteilt.
Woher also nehmen, wenn nicht stehlen? Stehlen aber bedeutete Krieg.
Die sozialdemokratischen Führer stimmten den Kriegskrediten zu
(damals hießen sie noch nicht Schröder, Scharping oder Verheugen,
sondern Ebert, Scheidemann und Noske). Einzig Karl Liebknecht und
Rosa Luxemburg stimmten dagegen. Sie wurden ins Gefängnis geworfen.
Und als die Deutsche Revolution den Krieg beendet und Ludendorff und
den Kaiser ins Exil getrieben hatte, wurden Karl und Rosa von
führenden Sozialdemokraten dem reaktionären Freicorps zur
Abschlachtung freigegeben. Wer hat da wohl Geschichte
aufzuarbeiten?
Die Weimarer Republik – fernab von Berlin und
dem Ruhrgebiet, weit weg von störenden Arbeitern – in Weimar
gegründet (analog zur „alten“ BRD im Universitätsstädtchen
Bonn) – die Weimarer Republik diente von 1919 bis 1933 der
ideologischen, ökonomischen und militärischen Restauration des
gerade geschlagenen deutschen Militarismus und war im Grund nichts
anderes als der Übergang vom Kaiserreich zu Hitlers Großdeutschland,
dem „Dritten Reich“. Sie war arbeiterfeindlich im allgemeinen,
kommunistenfeindlich im besonderen. Die Arbeiterklasse, ihre Parteien
und linke Intellektuelle verschenkten ihre wachsende Stärke, indem
sie sich gegenseitig zerfleischten – nicht ohne Einfluß der
Totalitarismus-Doktrin, Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen auf
allen Seiten: Sozialdemokraten gleich „Sozialfaschisten“,
Kommunisten gleich „rotlackierte Nazis“ (schon damals gab es
diese Schumacher-Formulierung), „rot gleich braun“ etc.
Trotz
starker linker Parlamentsfraktionen blieben Reichstagsmehrheit,
Staatsapparat mit Justiz, Polizei, Reichswehr, Bildungswesen und
Medienmehrheit allem „Linken“ gegenüber feindselig. Die private
Aneignung der Produktionsmittel wurde nicht angetastet, Eigentums-
und Machtverhältnisse nicht in Frage gestellt: eine funktionierende
bürgerliche „Demokratie“. Als das dann nicht mehr so recht
funktionierte, wurde ein Hitler gesucht, in München gefunden, in
Düsseldorf aufgebaut (hätte kein Hitler zur Verfügung gestanden,
hätte man einen anderen gesucht und gefunden). Viele enttäuschte,
suchende, irregeführte Deutsche wurden mit der Macht der
Wirtschafts- und Medienpolitik gegen ihr eigenes Interesse
manipuliert. Hitler legte man die Regierungsgewalt in den Schoß.
Das
„Dritte Reich“ begann mit der Köpenicker Blutwoche und der
Reichstagsbrandstiftung. Dann brannten – nicht ohne politische,
diplomatische und finanzielle Beihilfe westlicher „Demokratien“
zur Stützung des antikommunistischen, antisowjetischen Hitlerregimes
– Bücher, Häuser, Dörfer, Städte, Menschen in West- und
Osteuropa. „Blitzkriege“ und „Blitzsiege“ zunächst. Aber man
setzte auf das Kriegsziel, das Hitler schon 1924 seinem Sekretär
Rudolf Heß diktiert und in seinem einzigen Buch festgeschrieben
hatte, sein Ziel, das er 1931 und 1932 im Düsseldorfer Industrieclub
den Herren Deutschlands, auf seinem Obersalzberg, in Bad Godesberg,
auf dem Petersberg und dann in München den wohlgesonnenen Herren der
westlichen Welt vorgetragen hatte: die verhaßte Sowjetunion
auszulöschen – aus Angst, das böse Beispiel könne Schule
machen.
Vor Leningrad und Moskau, schließlich endgültig an
der Wolga, wurde Hitlers Europa-Armee zum Stehen gebracht. Die
Schlacht im Kursker Bogen leitete ihre Vernichtung ein. Auf den
Seelower Höhen ging der zweite Anlauf deutscher Imperialisten zur
Weltherrschaft im europäischen, vor allem sowjetischen und deutschen
Blutmeer unter – in Rauch, Schutt und Schande. Die Sowjetunion vor
allem hat den Krieg gewonnen. Den Kalten Krieg und den Frieden hat
sie verloren. Was hat mit diesem Geschichtsablauf die Deutsche
Demokratische Republik zu tun?
Die aus Ruinen auferstandene
Alternative verendete. Aber ihre Wurzeln reichen – einmal abgesehen
von Spartakus-Aufstand und Bauernkriegen, von der Revolution 1848 und
der Pariser Commune – tiefer als bis Karlshorst, wo die Wehrmacht
des deutschen Imperialismus kapitulieren mußte, tiefer auch als bis
nach Nürnberg, wo Kriegsverbrecher aller Funktionen in mehreren
Prozessen vor Gericht gestellt werden mußten und zum kleineren Teil
freigesprochen wurden (etwa Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht,
Finanzier Hitlers und des Krieges; oder Fritsche, Goebbels Sprachrohr
und Endsieg-Einpeitscher), während man einige Prokuristen der
Nazipartei Politiker und Militärs hinrichtete oder zu
Freiheitsstrafen verurteilte, die nach Druck aus Washington, London
und auch aus Bonn (Adenauer verwandte sich persönlich für die
Verbrecher) nach kurzer Zeit freigelassen wurden, so mein Vetter
Baron Kurt von Schröder, Bankier in Köln, der schon in den
zwanziger Jahren Gelder der Ruhrindustrie sammelte und Hitler
finanzierte und in dessen Wohnung in Köln-Lindental am 4. Januar
1933 die Begegnung Hitler – v.Papen inszeniert wurde, aus der die
erste Nazi-Regierung am 30. Januar 1933 hervorging; oder mein Vetter
Georg von Schnitzler, Vorstandsmitglied des IG-Farben-Konzerns, er
war in Nürnberg angeklagt wegen seiner Mitschuld an der Produktion
von Zyklon B und seiner profaschistischen Funktion als
Verkaufsdirektor des Konzerns; beide zu Kavaliersstrafen verurteilt,
beide nach kurzer Zeit entlassen – in allen Ehren und als mehrfache
Millionäre verstorben.
Bevor in Schröders Kölner Villa die
Modalitäten der Machtübernahme an Hitler ausgehandelt wurden, hatte
der Kölner Bankier – wie er unter Eid im Nürnberger Prozeß
aussagte – sich „mit einer Anzahl von Herren der Wirtschaft“
besprochen: „Die allgemeinen Bestrebungen der Männer der
Wirtschaft gingen dahin, einen starken Führer in Deutschland an die
Macht kommen zu sehen, der eine Regierung bilden würde, die lange
Zeit an der Macht bleiben würde… Ein gemeinsames Interesse der
Wirtschaft bestand in der Angst vor dem Bolschewismus… Ein weiteres
gemeinsames Interesse war der Wunsch, Hitlers wirtschaftliches
Programm in die Tat umzusetzen.“
Natürlich konnte ein
Reichskanzler Hitler keinen Schritt außerhalb des Rahmens der
staatsmonopolistischen „Ordnung“ tun. Die Gesamtheit seiner
anachronistischen Ideologie, Politik und Militärdoktrin entsprach
dem Imperialismus in seiner abenteuerlichsten, aggressivsten und
brutalsten Erscheinungsform: dem Faschismus. Es hat immer zwei
Deutschland gegeben. Das Deutschland der Fürsten und Feudalherren,
und das Deutschland Thomas Münzers, der Bauern und Leibeigenen –
und nichts von einer „Einheit der Nation“, sondern Knechtschaft
und Mord. Das Deutschland der Kapitalisten und ihrer Bismarcks und
Hohenzollern – und das Deutschland der Arbeiter, der
Sozialdemokraten, der Marx und Engels, Wilhelm Liebknechts und August
Bebels – und nichts von „nationaler Gemeinsamkeit“, sondern
Polizisten und Richter, Sozialistengesetze und Verleumdung als
„vaterlandslose Gesellen“.
Das Deutschland der Krupps und
ihrer Hindenburgs und Ludendorffs – und das Deutschland des
Spartakus und Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und Clara Zetkins,
und nichts von „nationaler Einheit“, sondern Staatsterror und
Konterrevolution, Fememord und blutige Reaktion. Das Deutschland
schließlich des Monopolkapitals und seines Hitler – und das
Deutschland Ernst Thälmanns und Thomas Manns, der deutschen
Kommunisten und Humanisten, und statt „Einheit der Nation“
Verfolgung, Gefängnis, Nächte klirrender Scheiben und langer
Messer, Konzentrationslager, Illegalität, Emigration, Krieg nach
innen und außen. Erst in der Deutschen Demokratischen Republik
sollte diese ewige Spaltung der Nation überwunden, sollte die
Einheit hergestellt werden zwischen Volk und Macht, Geist und Macht.
Das ist uns nur zu Beginn und nie zur Gänze gelungen.
Das
bedauern heute auch manche, die vor 10 Jahren die DDR mit ihren
Anfängen und Erfolgen abschaffen wollten – mit Kerzen und Gebeten,
im Schutz der Kirche und vermittels Montags-Demonstrationen. „Das
haben wir nicht gewollt!“, meinen 10 Jahre später manche. Nun ist
die Blockade des öffentlichen Bewußtseins ein wenig gelockert,
schlimme Erfahrungen werden zum Alltagserlebnis, böse
kapitalistische Beispiele beginnen zu schrecken, und gute
sozialistische Erfahrungen kehren langsam ins noch etwas gelähmte
Gedächtnis zurück, Verklemmungen lockern sich und die Denkfähigkeit
beginnt sich – trotz des Medienimperialismus – allmählich wieder
zu regen: Das haben wir nicht gewollt!
Man hätte es wissen
können. Aber Warner waren „Sudeler“, die Führung verharrte in
Bewegungslosigkeit und der Medienimperialismus verpestete die Luft
und Atmosphäre. Man wollte an nichts mehr glauben, und da waren
Denk-Hindernisse: West-Bananen, West-Milch, West-Kartoffeln, West
Autos, West-Mark und West-Reisen-„Traumreisen“. Und alles mußte
teuer bezahlt werden, ZU teuer!
Es sind nicht „die Mühen
der Ebene“, von denen Bürgerrechtler ein- und überholt, gläubige
CDU-Wähler getäuscht, Genossen „überrascht“ und in Zweifel
gestürzt und nicht wenige – NICHT ALLE! – zu
Korkenzieher-Drehungen ihrer Hälse verleitet
wurden.
Luxusrestaurationen von Innenstädten, häßlichste
„Sky Lines“ der „Citys“, bunte Schaufenster, neue
Kirchendächer, Golfplätze, trinkgelderwartende Hände für
simpelste Dienstleistungen, Opel-Wimpel statt roter Fahnen oder
Hammer und Zirkel, sattes Warenangebot und leere Portemonnais, keine
Arbeit, aber BILD-Zeitung, Super-Illu, Kurier und ähnliches (mit zu
hartem Papier für angemessenen Gebrauch), eine Inflation von
Nachrichten, aber keine ernsthaften Informationen (jede langweilige
Aktuelle Kamera hatte mehr Informationswert), Einheitsfernsehen auf
niedrigstem Niveau, statt einer vorgeblichen „Vielfalt“ die
Einfalt, Talkshow-Gelaber mit immer denselben „Experten“, die
Moderatoren wechseln – im Gegensatz zu den Themen, Fragen und
„Experten“, dazu Preis-Quiz für Klippschüler mit Preisen für
Nicht-Wissen, Reisen, Gardinen, Rasierapparaten und Toaströstern.
Dazu Verrohung, Brutalisierung, Anleitung zum Diebstahl und
Kinderschändung, Vergewaltigung und Mord. Und dazu Arbeitslosenhilfe
und Obdachlosenheime. Krankheit kann man sich nicht leisten – so
wenig wie die für die Gesundheit notwendige Medikamente. Familien
werden zerstört, Alter wird zur Bürde, zur untragbaren Last. Die
Frau wird um ihre Würde gebracht und um ihr Selbstbestimmungsrecht,
Jugend um ihre Zukunft, Kinder um Krippen, Hort und Garten. Dafür
Bürokratismus wie noch nie, Ämter, Beamte, Banker, Versicherungs-
und Miethaie. Zwischenmenschliche Beziehungen, Wärme im Umgang mit
Mitmenschen – alles weg, denn alles muß sich rechnen!
Schon
1871 – nach der Gründung des Zweiten Reiches, hatte Georg Herwegh
geschrieben:
„Ein Amboß unter einem Hammer
geeinigt wird
Altdeutschland stehen
Dem Rausche folgt eine Katzenjammer
daß
Euch die Augen übergehen.“
Es ist nackter, brutaler,
hundsgemeiner Kapitalismus, der die „Ossis“ ausnimmt, wo es nur
geht, sie zu unerwünschten Personen in Deutschland macht, zu
Deutschen zweiter und dritter Klasse. „Das haben wir nicht
gewollt“!?
Wir Kommunisten schon gar nicht. Aber wir haben
wohl den Kapitalismus, den Feind!, zu leicht genommen – und uns für
zu stark gehalten. Vor lauter kapitalistischen Fehlleistungen,
Mißwirtschaft und Systemgebrechen des Feindes, der sich 40 und mehr
Jahre als solcher verhielt, übersahen wir eigene Versäumnisse,
Fehler und Fehlentwicklungen, ließen uns zu Überreaktionen
verleiten und mißachteten das Kräfteverhältnis – zu Lande, zu
Wasser und im Äther. Eigentlich hätten wir an die Spitze der
Bürgerrechtsbewegungen gehört – wenigstens anfangs, solange viele
ihrer Mitläufer eine attraktivere DDR wollten – also ehe sie vom
Verfassungsschutz und Langzeitagenten mit Bundesfahnen geschmückt
als DDR-Volk abdankten und ein Volk mit dieser BRD sein
wollten.
Angekommenen, aber enttäuschte Bürgerrechtler
tragen nun gebündelten Weltschmerz, und der führt – trotz
gewaltiger, von Gefühlen überlasteter Rhetorik – rückwärts und
mündet im fassungslosen „Das haben wir nicht gewollt“ (oder auch
im blinden, gedächtnislosen Haß).
Aber mich erfüllen auch
einige Haltungen in den eigenen Reihen gegenüber der Deutschen
Demokratischen Republik mit Sorge. Gregor Gysis Aufruf zum 7.
Oktober: „Nun müssen AUCH ANDERE MAUERN FALLEN“. Oder Lothar
Biskys „Kurzformel“, man wolle sich „am 7. Oktober
freundlich-kritisch erinnern“. Nur „freundlich“, aber
„kritisch“? Und nur „erinnern“?
Die ewige
Fragestellung WAS HABEN WIR FALSCH GEMACHT? stellt Proportionen auf
den Kopf und verleitet zum Verzicht auf die unverzichtbare
Differenzierung. WAS HABEN WIR RICHTIG GEMACHT? – so wird ein Schuh
draus! War etwa die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik
falsch – kein „Wendepunkt in der Geschichte Europas“? NIE
WIEDER KRIEG VON DEUTSCHEM BODEN!: Das war ja wohl etwas Neues,
Erstmaliges in der deutschen und europäischen Geschichte! Von
Wilhelm Pieck über Walter Ulbricht bis zu Erich Honecker war es
unsere STAATSDOKTRIN! Erich Honeckers Verurteilung der Atomwaffen als
TEUFELSZEUG entsprach ja wohl dem Menschheitstraum des ewigen
Friedens. Was war – bitteschön – erst: Die endgültige
Beseitigung der Grenzprobleme mit Polen, der Schlußstrich unter eine
Jahrhunderte alte, verhängnisvolle Fehlentwicklung mit unseren
Verträgen mit Polen und den Namen Otto Grotewohl und Joszef
Cyrankiewicz – und mit der Tschechoslowakei – oder Herrn Brandts
später, heuchlerischer Kniefall in Warschau – wenn auch
fernsehwirksam?
War die Demokratische Bodenreform – seit den
Bauernkriegen und der Revolution von 1848 Forderung deutscher
Demokraten und sogar eines Papstes – ein Fehler? Sie war ein
revolutionärer Akt, ihre Beseitigung demnach konterrevolutionär.
Nahmen wir mit der Bodenreform nicht zugleich übelsten deutschen
Kriegsherren ihre Macht? Und gaben Landarbeitern, Knechten und
Umsiedlern Land und Boden? Die revolutionäre Bildungsreform ohne
Rücksicht auf die Herkunft und Geldbeutel der Eltern: Ein Fehler?
Die Gesundheitsreform – kostenlos und mit Polikliniken – ist das
heute vielleicht kein schöner Traum? Wir haben durch Volksentscheide
und freie Wahlen Naziaktivisten und Monopolherren ihre
zusammengeraubten Betriebe auf revolutionäre Weise genommen und dem
Volk und seinem Staat zugeführt: Wer will das falsch nennen –
außer natürlich den Betroffenen und ihren Nachkommen, die heute
Konterrevolution betreiben und Volkseigentum als ihr „Eigentum“
zurückfordern und das DDR-Volk bestehlen?
Daß wir Nazilehrer
und -professoren von Schulen und Universitäten entfernten und einer
nützlichen Friedensarbeit im Uranbergbau zuführten – war das
vielleicht falsch? Vornehmlich Arbeiter zu Neulehrern und Juristen
auszubilden (und manche mögen zunächst Blume mit „h“
geschrieben oder nur eine Handvoll Paragraphen gekannt haben: aber
sie sprachen Recht und lehrten Richtiges, fürs Leben Unverzichtbares
– und wahre Geschichte!) Kein einziger Blutrichter an unseren
Gerichten und kein Staatsanwalt à la Freisler. Wie richtig und
unverzichtbar das war, sehen wir heute: Am Beispiel Irmgard
Jendretzky und an den Rachefeldzügen der Bundes-Justiz an
Repräsentanten und Hoheitsträgern des sozialistischen Staates, der
Mitglied der UNO war und von 130 Staaten unserer Erde als souveräner
Rechtsstaat anerkannt. Da waren die Reformen der Länder, Städte und
Gemeinden – mit ihrer Übersichtlichkeit (übrigens nach dem
Beispiel der französischen Revolution). Oder die Herstellung der
vollen Gleichberechtigung der Frauen und Mädchen, die Festschreibung
der „Rechte der jungen Generation“ alles Fehler?
Wir haben
die Einheit der Arbeiterklasse geschaffen! Mit Zwang? Jawohl! Es war
der Zwang der Geschichte, aus dem größten Versäumnis dieses
Jahrhunderts Konsequenzen zu ziehen und den Schwur von Buchenwald zu
erfüllen: Aus der Spaltung der Arbeiterklasse deren Einheit! Die
Einheitsgewerkschaft hatte im Parlament eine eigene Fraktion, Sitz
und Stimme – wie es sich für eine VOLKSKAMMER geziemt. Wir haben
auf der Grundlage von Volksentscheiden den Demokratischen Block der
Parteien geschaffen und durch freie Wahlen eine Verfassung, die
fortschrittlicher war als jede andere Verfassung in Europa –
angelehnt an die Weimarer Verfassung (weil wir doch immer ein
einheitliches, antifaschistisches, demokratisches Deutschland
wollten). Und wir haben antifaschistische Traditionen geschaffen und
gepflegt und in ihrem Sinne unsere Jugend erzogen; wir haben sie
vertieft, vermittelt und gegen Geschichtsfälscher geschützt! Wir
haben antifaschistische Helden geehrt und als Vorbilder gepflegt. Wir
hatten keine Arbeitslosen und keine Wohnungslosen. Welches
Menschenrecht, das grundsätzliche – haben wir nicht
verwirklicht?
Bis heute gibt es auf der Welt keinen
wissenschaftlich, staatlich und ökonomisch entwickelten Sozialismus,
aber wir haben die richtige Richtung eingeschlagen und die Grundlagen
des Sozialismus gelegt. Wissenschaft ohne Meinungsstreit, ohne
Experimente, Niederlagen und Fortschritte gibt es nicht. Marx und
Engels waren Marxisten, weil sie ihr Wissen und die Ergebnisse ihrer
Forschungen zeitlebens zu bessern und politisch umzusetzen suchten
und in diesem Prozeß Neues fanden. Bei uns in der DDR wurde
gestritten: Im Betrieb (wo heute keiner mehr den Mund aufzureißen
wagt), in der Schule (wo die Lehrer oft einen schweren Stand hatten),
in der Redaktion (wo es oft lange dauerte, bis dieser oder jener
Kommentar zustande kam – jedenfalls bis Achim Herrmann Sekretär
wurde), in den Ausschüssen der Volkskammer (bis man sich geeinigt,
oft zusammengerauft hatte und dann das Erreichte gemeinsam im Plenum
vertrat – da war kein Bundestags-Showkampf), am Stammtisch wurde
gestritten und gemeckert (wo war da die „ständige
Stasi-Überwachung“? Ich erinnere an den Ost-Witz: Die DDR hatte 32
Millionen Einwohner, 16 Millionen Täter und 16 Millionen Opfer…),
kämpferisch gestritten wurde im Politbüro wenigstens zu Ulbrichts
Zeiten, unter Honecker wurde dann allerdings meist abgenickt,
gestritten wurde bei BFC Dynamo (wo nicht Erich Mielke das letzte
Wort zum Sonnabend hatte, sondern der Trainer).
Wir hatten in
den Betrieben gewählte Konfliktkommissionen, die viele Delikte, die
vor ein Gericht gehört hätten, innerbetrieblich lösten. Das
„Gesetzbuch der Arbeit“ (heute für die Werktätigen wie ein
Märchenbuch zu lesen) wurde vom 9. FDGB-Kongreß beraten und
beschlossen, ehe der Entwurf der Volkskammer zur Beschlußfassung
zugeleitet wurde, es gab natürlich die Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall, „immer saß“, so der DGB-Vorsitzende Otto
Brenner, „bei Tarifverhandlungen der westlichen Tarif„partner“
als unsichtbarer Dritter die Deutsche Demokratische Republik mit am
Tisch, es gab den gewählten, sehr gewichtigen Elternbeirat. Es gab –
nun haben wir längst nicht alles, aber genug gehört zum
„Demokratie-Defizit der DDR“ – es gab die Diktatur des
Proletariats: Sie bedeutete die höchstentwickelte Demokratie für
die Werktätigen und – schlag‘ nach bei Marx – ein
„unumgängliches Stadium beim Übergang von der kapitalistischen
‚Demokratie‘ zur sozialistischen Gesellschaft.“
In der
DDR ging es – wenn wir an die COMECON-Liste denken, die
NATO-Staaten vorschrieb, was alles nicht in die DDR geliefert werden
durfte, wenn wir an den Kalten Krieg denken und die nachlassenden und
verteuerten Öllieferungen aus der Sowjetunion – in der DDR ging es
bescheiden, aber gerecht zu. Eine klaffende Schere zwischen Arm und
Reich gab es nicht. Es gab auch keine unberechtigten
Privilegien.
Was hat der Medienimperialismus aus diesem
sozialen Rechtsstaat gemacht, der der formalen bürgerlichen
‚Demokratie‘ eine zeitgeschichtliche Epoche voraus war: Den
UNRECHTS-STAAT! Diese vierzigjährige permanente Verleumdung spukt
sogar in den Köpfen einiger Genossen bei uns herum, und sie glauben,
sich beim Klassenfeind „entschuldigen“ zu müssen. Aber auch in
die Reihen westdeutscher Genossen ist sie eingedrungen. Ich habe es
selbst in Betriebsratsversammlungen in Hamburg, bei Diskussionen an
Universitäten wie Münster, Trier und Göttingen und, bis zu meiner
Erkrankung, in Dutzenden Versammlungen der PDS, der DKP und von
linken Buchhandlungen organisiert, erlebt, wie Genossen – Opfer
ihrer Medien und aus Unkenntnis – die DDR und die SED
beschuldigten, sie „verraten“ zu haben, den „Zusammenbruch des
Sozialismus verschuldet“ zu haben; und nun wolle man nichts mehr
wissen von den „geschulten Genossen aus Berlin und Leipzig, Rostock
und Karl-Marx-Stadt“.
Natürlich haben Arbeiter, haben
Werktätige im Westen andere Erfahrungen im Klassenkampf als wir. Im
Westen haben sie den Klassenkampf empfindlich am eigenen Leibe zu
spüren bekommen: Im Betrieb, mit der Polizei, dem Verfassungsschutz,
der Bonner Gesetzgebung, der Justiz, der Desinformation durch die
Medien (da können wir allerdings ein Lied mitsingen, und ich konnte
mit meinem „Kanal“ nur sehr begrenzt hilfreich sein; auch gab es
gewisse Gebote der Nichteinmischung unseres staatlichen Fernsehens –
das rechne ich übrigens zu den schweren Fehlern). Dazu kam die Hetze
gewisser SPD- und DGB-Funktionäre.
Wir – Grenze an Grenze
mit dem aggressiven Klassenfeind und einer Frontstadt Westberlin
mittendrin – mußten den Kampf mit staatlichen Mitteln führen (und
haben dabei gewiß oft überreagiert). Wir spürten den Kampf kaum am
eigenen Leibe (außer unsere Grenzer und die Genossen der
Staatssicherheit). Unsere Antwort war: Produktionsleistungen –
Wehrbereitschaft – Solidarität. Und immer im Feuer überlegener
hemmungsloser Feindpropaganda (die von manchen unterschätzt wurde),
einer psychologischen Kriegführung, die mit ständiger Einmischung,
ständigen Lügen und Verleumdungen jede Schwäche der DDR ausnutzte,
jeden Fehler (und wer macht auf Neuland keine Fehler?), jede
notwendige Maßnahme, die wir oft genug genügend begründeten.
Der
Philosoph Hans Mayer, den wir törichterweise aus Leipzig weggeekelt
haben, schreibt in einem Buch: „Man darf kein Ding, auch keinen
Staat, von seinem Ende her beurteilen und bewerten, sondern zu nächst
einmal von seinem Anfang.“
Wenn wir so an die Deutsche
Demokratische Republik herangehen, dann bleiben von einem Meter des
Zollstocks 95 Zentimeter Erfolge, Leistungen, Fortschritte von
historischem Ausmaß. Und ganze fünf Zentimeter, was wir hätten
anders machen sollen oder falsch gemacht haben (und da sind noch
nicht einmal die jeweiligen Umstände dabei, die uns dieses oder
jenes erlaubt oder nicht erlaubt haben). Deshalb bin ich bei der
Fehlersuche für die Beachtung der Proportionen. Und dann muß noch
das Differenzieren hinzukommen, die Beachtung historischer und
aktueller Zwänge. Unsere Verbündeten waren keine reichen
Amerikaner, sondern kriegsgebeutelte Russen, die mitten in ihrem
Aufbruch vom Bastschuh zum Lederstiefel überfallen worden waren. Und
was hatten sie Anfang der zwanziger Jahre in Angriff genommen: Ein
Armenhaus mußte alphabetisiert werden, elektrifiziert und
industrialisiert, die Landwirtschaft kollektiviert, das schier endlos
weite Land zum Staat geeint, zur einzigen sicheren Bastion ausgebaut
werden gegen den Weltimperialismus und seinen deutschen Faschismus.
Und das alles nach Bürgerkrieg, Interventionskriegen,
Konterrevolution, Aggression im fernen Osten, Hitlerkrieg!
Mit
ihren Schwächen und Fehlern müssen sich unsere Genossen im Osten
selbst auseinandersetzen. Und sie haben ja damit begonnen. Uns
verbietet enge Freundschaft, Befreiung, die Millionen das Leben
kostete, Witwen und Waisen, trotzdem freundschaftliche Hilfe – uns
verbietet die unauslöschliche deutsch-sowjetische Freundschaft jede
Kritik an der Sowjetunion Lenins und Stalins.
Aber
ist die DDR an ihren Fehlern und Schwächen zugrunde gegangen?
Würde
sie – die Frage muß erlaubt sein – in einem untadeligen,
chemisch reinen sozialistischen Zustand heute noch existieren? Hat
die Konterrevolution nicht erst in Polen, Ungarn, Budapest und dann
erst in Rumänien, Bulgarien, der Tschechoslowakei und ganz zuletzt
erst in der DDR gesiegt? Diese Frage erfordert ein erheblich
ehrlicheres, gründlicheres wissenschaftliches Herangehen an das
Problem, als es die heutigen „Historiker“, „Experten“,
„Wissenschaftler“, Klugscheißer bis hinunter zu den Weisen aus
dem Abendland der Journalistik sich erfrechen.
Nicht weil wir
Schwächen gehabt und Fehler gemacht haben, wurden wir in den
weltweiten Klassenkampf einbezogen (und haben ihn zunächst einmal
mitverloren), sondern weil wir das Schlimmste verkörperten, was sich
der deutsche Imperialismus vorstellen kann: Auf deutschem Boden ein
sozialistischer Staat, die Deutsche Demokratische Republik! Daß wir
da waren, daß wir existierten – das war zuviel! Sie mußte weg!
Mit allen Mitteln der Politik, der Außenpolitik, des
Wirtschaftskrieges, des verdeckten Krieges, des Medienterrors und –
anders als in der CSSR, in Polen, in der Sowjetunion und den anderen
– mit derselben Sprache und breitgefächerten Verwandtschaften, mit
Beziehungen hinüber und herüber.
Trotzdem gibt es keine
„ehemalige DDR“. Trotz alledem! (Man sagt ja auch nicht
„ehemalige Weimarer Republik“ und nicht „ehemaliges
Kaiserreich“ oder gar „ehemaliges Großdeutschland“.) Das
hätten sie gern!
Als wir schon verlassen und verraten waren,
kamen sie über uns: Bundestagsabgeordnete aller Parteien fielen über
die „Brüder und Schwestern“ her. Sie wußten nicht, wo Riebnitz
oder Reichenbach lagen, aber sie kamen mit Mercedes und BMW, mit
Apfelsinen und Bananen (die sie uns jahrzehntelang vorenthalten
hatten – und die unsere Kinder nicht gekannt hätten, wenn es nicht
Alexander Schalck-Golodkowski gegeben hätte), sie kamen mit Westmark
und dem Versprechen blühender Landschaften und daß es keinem
schlechter gehen werde. Und so inszenierten sie – die Herren aus
Bonn – in der immer noch souveränen DDR ihre „ersten freien
Wahlen“ und fanden eine willige Volkskammer und gefügige Runde
Tische. Und musterten Häuser, die sie besetzten und Bauten, die sie
abrissen, um Banken, Versicherungen, Einkaufscenter – und
Arbeitsämter zu bauen. Und brachten Bürger der Deutschen
Demokratischen Republik – was sage ich: Bürger des
„Beitrittsgebietes“ um ihr Eigentum, viele um wohlverdiente und
erarbeitete Rente, um ihre Würde und ihren Stolz auf das, was sie in
40 schweren Jahren erarbeitet hatten – trotz alledem! Und das
sollte gefeiert werden, das sollte ein „Tag der Einheit“ sein?
Das soll man „freundlich und kritisch betrachten“? Wohlgemerkt:
Ich wünsche mir nicht die Deutsche Demokratische Republik
zurück.
Die Geschichte ist weitergegangen. Und sie wird
weitergehen. Wir haben dafür zu sorgen, daß sie nicht so
weitergeht, wie sie zur Zeit in Bewegung ist. Brutaler, räuberischer,
unmenschlicher Kapitalismus kann nicht die letzte Antwort der
Geschichte sein! Die Antwort kann nur SOZIALISMUS lauten. Der fällt
nicht vom Himmel. Er will erkämpft sein, und das ist ein langer
Prozeß. Aber wann wollen wir damit anfangen – wenn nicht
jetzt!
Verzagen?
„Man
muß sich möglichst nüchtern, klar und anschaulich Rechenschaft
darüber ablegen, was wir eigentlich ‚zu Ende geführt‘ haben und
was wir nicht zu Ende geführt haben. Der Kopf wird dann frisch
bleiben, es wird weder Übelkeit noch Illusionen noch Verzagtheit
geben.“ Der das im Februar 1922 geschrieben hat, hieß Wladimir
Iljitsch Lenin. Und erfuhr in seinem Brief fort: „Als rettungslos
verloren müßte man diejenigen Kommunisten bezeichnen, die sich
einbilden wollen, daß man ohne Fehler, ohne Rückzüge, ohne
vielmaliges Neubeginnen des nicht zu Ende Geführten und des falsch
Gemachten solch ein weltgeschichtliches ‚Unternehmen‘ wie die
Vollendung des Fundaments der sozialistischen Wirtschaft zu Ende
führen könnte. Diejenigen Kommunisten aber, die weder in Illusionen
noch in Verzagtheit verfallen, die sich die Kraft und die
Geschmeidigkeit des Organismus bewahren, um beim Herangehen an die
überaus schwierige Aufgabe ‚von Anfang zu beginnen‘, sind nicht
verloren!“
Auf DDR-Deutsch: Auf deutschem Boden wird der
siegreiche Sozialismus unauslöschbare, unbesiegliche Züge der
Deutschen Demokratischen Republik tragen – trotz alledem! (Starker,
lang anhaltender Beifall)
Marta Rafael,
Karl-Eduard von Schnitzler,
Eichwalde
aus:
Offensiv (Hrsg.): Auferstanden aus Ruinen, Über das revolutionäre
Erbe der DDR, Hannover Januar 2000.
http://www.offen-siv.net/Lesenswertes/auferst.pdf
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