Entnommen: https://www.rubikon.news/artikel/30-jahre-annexion
03.10.2020:
30 Jahre Annexion
Was offiziell eine Wiedervereinigung gewesen sein
soll, war deren Gegenteil — die Verwirklichung eines alten
Kapitalistentraumes: des Rollbacks.
Von Liane Kilinc
In
diesem Jahr gedenken wir am 3. Oktober des dreißigsten Jahrestages
der Konterrevolution. Die Annexion des DDR-Gebietes durch das
bundesdeutsche Kapital hat Folgen bis heute. Diese spüren aber nicht
nur die Menschen in Ost- und Westdeutschland. Sie betreffen ebenso
die Menschen in anderen Ländern. Es gibt für die meisten keinen
Grund zum Feiern und Jubeln, wie es die herrschenden Kreise mit ihren
Dienern in Politik und Medien auch in diesem Jahr wieder tun. Sie
konnten vor 30 Jahren ihre Herrschaft in einem Gebiet wieder
errichten, das ihnen 45 Jahre entrissen war — nach einem
völkermordenden Krieg, den sie zu verantworten hatten. Heute machen
sie dort weiter, wo sie einst aufhören mussten. Notwendig ist mehr
als eine Erinnerung an eine menschlichere Existenz. Diese
Erinnerungsarbeit muss im Wissen um das Verlorene ebenso wie im
Wissen um das Zukünftige geleistet werden. Die wirkliche Aufgabe
lautet nach wie vor, die imperialistischen Kriege ein für alle Mal
zu beenden.
Dieses
Tages zu gedenken verstrickt uns in seltsame emotionale
Widersprüche, denn Gedenktage haben immer etwas von Totenfeiern. Es
werden Erinnerungen geteilt, Hinterlassenes sortiert. Es wird das
Gute vom Schlechten getrennt und das Gute aufbewahrt, um es
weiterzureichen. Am Ende wendet man sich ab und wieder dem Leben zu.
Nur, diese Gedenkfeiern stehen, das wird von Jahr zu Jahr deutlicher,
unter umgekehrtem Vorzeichen. Wir gedenken des Lebens, erinnern uns
an die Zukunft, und wenn wir uns abwenden, kehren wir in eine
Existenz zurück, die vom Tod geprägt ist. Es mag sein, dass uns das
durch die Tätigkeit innerhalb unseres Vereins Friedensbrücke
besonders auffällt.
Denn was wir tun, ist nur an der
äußersten Oberfläche dasselbe wie damals; das Organisieren,
Verschicken und Verteilen humanitärer Hilfe. Heute versorgen wir
Wunden — notdürftig, weil nicht mehr mit den Mitteln eines
Staates, sondern nur von einzelnen Menschen —, die der Staat, in
dem wir leben müssen, zumindest mit geschlagen hat. Wir absolvieren
oft eine Art Hindernislauf, weil die wirtschaftliche Kriegsführung,
auch Sanktionen genannt, es absichtlich ungeheuer erschwert, den
Opfern selbst minimale Unterstützung zu gewähren.
Das gilt
für Syrien, das gilt für den Jemen und ebenfalls für den Donbass.
Da wird beispielsweise das Vereinskonto gesperrt, weil damit die
Rechnung einer weißrussischen Spedition bezahlt wird, die Hilfsgüter
in den Donbass fährt. Da müssen Güter über Umwege transportiert
werden, weil unsere eigene Regierung das Elend der Menschen in der
Zielregion verstärkt, nicht lindert.
Permanenter
Krieg
Wir erleben gelegentlich direkt den permanenten
Krieg, in den die Welt seit damals geraten ist, wenn wir bei der
Verteilung von Hilfsgütern in den Keller rennen müssen, weil gerade
mal wieder ein Wohnviertel oder eine Schule beschossen wird, wie es
im Donbass Alltag ist. Wir sehen die Mühsal des Alltags unter dieser
aufgezwungenen Not. Einer Not, die ebenso verschwiegen wie gefördert
wird; weshalb die zweite Seite unserer Arbeit der beständige Kampf
gegen dieses Schweigen ist, das gebrochen werden muss, um ein Ende
dieses Kriegszustands herbeizuführen. Im Donbass zeigt sich auch,
dass der Versuch, wieder einen Staat zu schaffen, der die
Produktionsmittel besitzt, nicht unblutig verläuft und er mit allen
Mitteln korrumpiert wird.
Damals, in unserer Kindheit in der
DDR, als wir aus dem Geschichtsbuch von den Kämpfen der Kommunisten
während der dunklen Jahre Deutschlands erfuhren, freuten wir uns,
dank ihrer ein besseres Leben führen zu können. Das Jahr 1989 riss
uns aus diesem Leben heraus. Und öffnete das Tor für den
Faschismus, der im Donbass deutlich erkennbar auf der anderen Seite
der Frontlinie steht. Aber es ist ja nicht so, als hätten wir hier
Frieden.
Wenn man sich fragt, warum die Friedensbewegung
gerade heute, da an allen Enden der Welt gezündelt wird, so schwach
ist, muss man erkennen, dass der Abstand zwischen vermeintlich
friedlichem Alltag und Krieg unermesslich geringer ist, als er damals
war. Wenn wir uns damals womöglich fragten, wie sie konkret
wahrgenommen werden kann, die Fäulnis des Imperialismus, so müssen
wir heute nicht einmal mehr das Haus verlassen, um sie zu riechen und
zu spüren.
Herrschaft
der Angst
Die Gesellschaft der heutigen Bundesrepublik ist in einem Ausmaß von Angst, Verachtung und Perspektivlosigkeit geprägt, wie wir sie damals nicht einmal in Alpträumen erahnen konnten; die Bewohner der alten BRD übrigens auch nicht. Eine Angst, die beständig verstärkt werden muss, durch Gesetze wie Hartz IV, durch die völlige Missachtung jedes sozialen Problems, durch ständige öffentliche Erniedrigung der Besitzlosen und nicht zuletzt durch die Dämonisierung jedes Gedankens, der von der „wahren“ Linie abweicht.
Eine
Angst, die jüngst anlässlich der Corona-Epidemie hervortrat,
verschoben und verzerrt, wie fast jede politische Regung momentan,
aber ausgelöst durch jenen Grundzustand, der inzwischen längst
nicht nur abhängig Beschäftigte, sondern auch vermeintlich
Selbständige prägt: immer nur ein Monatseinkommen von der
Katastrophe entfernt zu leben.
Diese Katastrophe nennt sich Armut,
Wohnungslosigkeit, Verlust des sozialen Umfelds, Verlust der
Anerkennung, Scham, ein Ende der ökonomischen Perspektive. Nur ein
Zehntel der Bevölkerung besitzt Reserven, um eine längere
Durststrecke zu überstehen. Und nur sehr wenige gehören zu jener
erlesenen Gruppe, die aus solchen Katastrophen Honig saugen kann; die
Milliardäre, die Besitzer der Konzerne, schlicht die herrschende
Klasse.
Horrorfilme beginnen regelmäßig mit scheinbar
harmonischen Alltagsszenen, bei deren Betrachtung der Zuschauer
sofort weiß, dass gleich das Grauen um die Ecke kommt, die
Protagonisten der Szenen aber nicht. Das war vielleicht unsere größte
Schwäche damals — wir waren uns des lauernden Ungeheuers nicht
mehr wirklich bewusst und ähnelten, von wenigen Ausnahmen abgesehen,
der ahnungslosen Familie beim Geburtstagsfest oder den Jugendlichen
auf einem Ausflug, über die plötzlich das Unheil hereinbrechen
wird. Die Betrachter von Horrorfilmen ziehen ihr Vergnügen daraus,
mehr von diesem Schrecken zu wissen und dennoch vor ihm sicher zu
sein.
Alltägliches
Elend
Im Moment des Anschlusses verhielten sich viele
Westbürger so, als säßen sie in einem Horrorfilm mit uns als
Protagonisten; wartet nur, das Monster wird euch gleich die Haut
abziehen, wir wissen das, ihr nicht, das wird ein Spaß ... Letztlich
aber waren es dann unser aller Häute, die abgezogen wurden; das
lässt sich daran erkennen, mit welcher Vorsicht inzwischen die
Wirklichkeit berührt wird, weil die Nerven blank liegen.
Soviel
Kraft wird heute dafür vergeudet, diese Angst nicht an die
Oberfläche kommen zu lassen. Da ist das Nichts, in das ich jederzeit
stürzen kann. Ich gehe zu Bett mit Furcht vor dem morgigen Tag. Ich
erwache mit Furcht vor dem, was der Tag bringt, und es ist keine
Erleichterung, ihn abends überstanden zu haben, weil der nächste
Tag nicht besser sein wird.
Solange dieses alltägliche Elend
als individuelles Schicksal erlebt wird, nicht als Klassenschicksal,
nicht als Veränderliches, hängt das tägliche Funktionieren davon
ab, diese Furcht zu verdrängen; mit aller Mühe so zu tun, als wäre
alles gut, das Nichts nur für jene bestimmt, die es verdient haben;
den Teppich über den Blutfleck zu ziehen und das Abendessen
aufzutragen.
Nein, es ist kein Wunder, dass der ultimative
Schrecken, der Krieg, nicht einmal mehr wahrgenommen wird in diesem
Land der verdrängten Angst; er kriecht aus derselben finsteren Ecke
hervor, in der all die anderen Dinge lauern, die man fürchten muss
und doch nicht sehen und benennen darf; Arbeitslosigkeit,
Wohnungslosigkeit, Armut, Einsamkeit, Verzweiflung ...
Verlorene
Zukunft
Wie viel freundlicher ist doch der Mensch, wenn er
frei von dieser Furcht ist. In welchem Überfluss an Menschlichkeit
konnten wir damals leben. „Aber das menschliche Wesen,“ schrieb
Marx in seinen Feuerbach-Thesen, „ist kein dem einzelnen Individuum
innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble
der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Es ist kein Wunder, dass
Horrorfilme ein Genre sind, das uns damals fremd war. Ebenso, wie es
kein Wunder ist, dass in heutigen Horrorfilmen das Ungeheuer nicht
mehr besiegt wird.
Von der
wirklichen, menschlichen Zukunft, die wir im Blick hatten, führte
der Weg über Kohls blühende Landschaften, aus denen die Menschen
bereits gestrichen waren, hin zu der Welt der lebenden Toten, die
heute ihre Stelle einnehmen.
Das Denken der westlichen Welt wird mit Dystopien
geflutet, als gäbe es kein Morgen, und da das herrschende Denken das
Denken der Herrschenden ist, gibt es auch keines.
In der
fundamentalen Krise, jenem ökonomischen Sturm, der unter der Deckung
von Corona wieder hervor trat, wird bereits die bürgerliche
Aufklärung geopfert. Wo einst die antretende Klasse die Erkenntnis
an die Stelle der Moral setzte, das Wissen an die Stelle des
Glaubens, wünscht sich die abtretende Klasse wieder Moral an Stelle
der Erkenntnis. Geschichtliche Bedingtheit des Menschen, die
Dialektik zwischen den materiellen Verhältnissen und den Gedanken,
ja, selbst die Geschichte des Ringens um Erkenntnis werden
ausgelöscht, aus den Büchern getilgt, von den Sockeln gestoßen,
weil die bürgerliche Ideologie der Gegenwart mit der Aura der
unveränderlichen Offenbarung versehen werden soll, ein
Taschenspielertrick, der davon ablenkt, dass sie geworden ist und
vergehen kann und dass sie den einen nutzt und den anderen
schadet.
Denn der Wahn einer ahistorischen Moral löscht immer
beide Seiten aus. Indem „Vom Winde verweht“ von den Webservern
genommen wurde, über die junge Leute heute Filme konsumieren,
verschwand auch der Film, für den die erste schwarze Darstellerin
einen Oscar enthielt. Man irrt sich, wenn man die augenblickliche
Mode der Denkmalschändung für fortschrittlich hält, selbst wenn
sie sich mal nicht gegen unsere Monumente, sondern gegen Statuen von
Sklavenhaltern richtet — geschichtliche Widersprüche kann man nur
verbergen, indem man die Erinnerung an beide Seiten zerstört, eben
mit der Erinnerung an die Sklaverei auch jene an die Befreiung.
Das
Ziel ist die Fantasie einer Gesellschaft, die nach wie vor von
schärfsten gesellschaftlichen Widersprüchen zerrissen ist, aber den
Widerspruch an sich nicht mehr denken darf oder kann. Wie sehr sehnt
sich mancher nach der Zeit ruhiger Überlegung zurück, wenn er die
irrationalen Schübe betrachten muss, die die deutsche Gesellschaft
heute durchlebt.
Deutliches
Zeichen
Wie heilsam wäre es, einen Menschen wieder in seiner
ganzen Widersprüchlichkeit wahrnehmen zu dürfen, statt Etiketten
mit „gut“ und „böse“ zu verteilen und je nachdem ins
Töpfchen oder ins Kröpfchen zu sortieren. Denn es ist ganz gleich,
wie viele Geschlechter man noch erfindet 72 oder 144, der konkrete
Mensch würde immer noch nicht, selbst bei stärkstem eigenem
Bemühen, in eine der vielen Schubladen passen, sein ganzes Leben
lang und unter allen Umständen. Er oder sie ist immer ein sowohl als
auch, ist einmal das eine und dann wieder das andere, der eine in der
Jugend, der andere im höheren Alter; eben wandelbar, widersprüchlich
und gerade deshalb fähig, zu lernen und zu erkennen.
Das ist
aber die Natur all der Dinge, die wir früher Nebenwidersprüche
genannt haben. Sobald der Hauptwiderspruch aus dem Blick gerät und
seine Existenz geleugnet wird, können sie nur noch zum Schein gelöst
werden. Da nicht mehr die Rede sein darf von den Krupps, den Klattens
und den Krauses, bleibt auch bezogen etwa auf die Lage der Frauen nur
die Kombination aus Gendersternchen und einem Schweigegebot aller
konkreten Daten, die belegen, dass sich weder in Bezug auf den
Lohnabstand noch in Bezug auf die Lage Alleinerziehender irgendetwas
gebessert hat.
Das Gegenteil ist der Fall. Jeder großmäulig
gepriesene Frauenförderplan erbleicht vor Scham angesichts dessen,
was in der DDR schon 1952 vorgegeben wurde. Es gibt eine statistische
Zahl, die im Grunde alles sagt, was über 1989 und danach zu sagen
wäre. Seit es möglich ist, ungewollte Schwangerschaften zu
verhüten, gibt die Geburtenrate deutlich wieder, wie zuversichtlich
die Menschen, insbesondere die Frauen, die Zukunft sehen.
Nichts
belegt deutlicher als der Rückgang der Geburten, dass sich damals
eine Katastrophe ereignete, und nichts widerlegt alles Geschwurbel
über „das Land, in dem wir gut und gerne leben“ klarer als ihr
fortgesetzter Tiefstand. Wer Angst vor dem Morgen hat, bekommt keine
Kinder.
Aufgeblasener
Popanz
Aber laut der Erzählung, die täglich über die
Bildschirme flackert, haben wir alle in Angst gelebt. Angst vor dem
hinter jeder Mauer lauerndem Ungeheuer Stasi, das auf jede unserer
Regungen lauschte und uns bei einem Fehltritt mit Haut und Haar
verschlungen hätte. Es wird mit Sicherheit in Zukunft noch größer
aufgeblasen, in noch düsteren Farben gemalt werden. Und kein
vernünftiges Argument wird daran etwas ändern. Warum? Weil es bei
diesem Drama nicht um die Vergangenheit geht, sondern um die
Gegenwart. In einer Gesellschaft, die von Angst durchtränkt ist wie
ein vollgesogener Schwamm, darf es keine Erinnerung an eine
Gesellschaft ohne diese Angst geben.
Dass hier ein Popanz
aufgeblasen wird, ist nicht schwer aufzuzeigen, denn schließlich
umfassten die Funktionen des Ministeriums für Staatssicherheit nicht
nur jene des Bundesnachrichtendienstes (BND), dessen monströser Bau
allein schon genügen müsste, die Dimensionen klarzustellen; nein,
auch jene der siebzehn Verfassungsschutzbehörden, diverser
Staatsanwaltschaften, der Sicherheitsabteilungen der Konzerne zur
Abwehr von Wirtschaftsspionage und der
Meinungsforschungsinstitute.
Die Liste ist noch längst nicht
vollständig, und doch würde man ganz Berlin-Lichtenberg brauchen,
all das unterzubringen. Dennoch nützt dieses Argument nichts, es
wird nicht durchdringen, so lange diese Bundesrepublik weiter
besteht. Schlimmer noch, je tiefer die aktuelle Misere, desto Furcht
erregender wird alles gemalt werden, das mit unserer Gesellschaft,
also wirklich unserer, zu tun hat. Denn alles deutet darauf hin, dass
der Kapitalismus keinen Ausweg mehr findet; warum sonst sollte er
Verzicht predigen und seine eigenen Errungenschaften
liquidieren?
Neue
Gräben
Die ganz realen Ängste werden stärker, weil die
ökonomischen Widersprüche schärfer werden. Um zu verhindern, dass
die realen Quellen dieser Ängste ins Bewusstsein treten oder gar
beginnen, das Handeln zu bestimmen, müssen immer neue fiktive Ängste
geschaffen werden. Die Erkenntnis der gemeinsamen Lage muss durch
immer neue Gräben zwischen den Menschen gleicher Lage verhindert
werden, die mit Hilfe der Moral gezogen werden. Die Vorstellung
geistiger Ansteckung, die geradezu zelebriert wird, könnte
unmittelbar dem Hexenhammer entstammen, der frühneuzeitlichen
Anleitung für Inquisitionsprozesse: Wer Umgang mit jemanden hatte,
der Umgang mit dem Teufel hatte, ist selbst des Teufels.
Die
Verfallserscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft sind also
auch nur Variationen eines Themas, das als Rechtfertigung diente, in
der untergehenden Sklavenhaltergesellschaft die antiken Tempel
niederzureißen und in der Endphase des Feudalismus die
Scheiterhaufen zu entflammen.
An diesem Punkt irrte Goethe —
der Augenblick soll nicht im Moment des höchsten Glücks verweilen,
sondern dann, wenn der Untergang vor der Tür steht. Das ist der
Zeitpunkt, an dem versucht wird, die Geschichte auszulöschen. Nichts
davon kann die Tatsache ändern, dass wir die Saat der Zukunft in den
Händen hielten. Wir wissen, wie sie aussieht, wir wissen, wie sie zu
pflanzen ist, wie sie gedeiht.
Mehr
Simulation als Wirklichkeit
Ja, vieles was mühsam errungen wurde, wurde in den
letzten 30 Jahren zerstört. Das betrifft nicht nur das Gebiet der
DDR, sondern auch das der BRD. Nicht nur jede soziale Errungenschaft
wurde geschleift. Der Stand der politischen Debatte ist ebenso
erbärmlich wie der der politischen Bildung; Wissenschaft und Kultur
sind inzwischen völlig den Kapitalinteressen untergeordnet und durch
und durch käuflich. Auch das trägt zur augenblicklichen Verwirrung
bei. Es ist nur schwer möglich, politisch sinnvoll zu
handeln.
Ganze Organisationen werden verdreht oder zerstört;
wer sich nicht unterwirft, wird kaltgestellt oder hinausgedrängt —
allein die Linkspartei liefert da dutzende Beispiele. Die politische
Landschaft der alten Bundesrepublik war bereits eine vor allem mit
US-amerikanischer Hilfe gestaltete Theaterkulisse mit gekauften
Akteuren, die als erstes eine massive Verfolgung der Kommunisten
benötigte, um sich real zu etablieren. Die politische Landschaft
heute ist längst mehr Simulation als Wirklichkeit, die wahren
Interessen der breiten Massen sind vollkommen abwesend und werden
nicht einmal mehr erwähnt. Aber dieser Zustand kann auf Dauer nicht
bestehen. Ganz gleich, wie viele Nebelkerzen noch geworfen, wie viele
künstliche Dramen bis an die Grenze des Bürgerkrieges inszeniert
werden, die nüchterne ökonomische Realität setzt sich
durch.
Vierzig Jahre lang war der deutsche Imperialismus an
die Kandare gelegt; inzwischen spielt er längst wieder Vabanque,
will noch auf den Wellen einer Pandemie weiter auf den Gipfel
europäischer Dominanz gelangen, die Konkurrenten auf dem Kontinent
nicht nur zur Ader lassen, sondern endgültig ausbluten. Es wird
diesem Versuch nicht anders ergehen als den beiden davor. Und
dann?
Dann steht womöglich kein Hegemon bereit, der die
schützende Hand über die Hasardeure hält, und es werden sich die
ursprünglichen Interessen der einfachen Leute wieder Raum
verschaffen. So schwer es momentan auch scheint, das vorhandene
Wissen weiterzugeben beziehungsweise zu erhalten — man sollte
niemals unterschätzen, wie gut sich selbst mit Bruchstücken davon
etwas Neues errichten ließe.
Notwendige
Arbeit
Das Strafgesetzbuch der DDR alleine wäre schon ein
guter Grundstein für den neuen Bau. Hier, im Herzen der Finsternis,
sehen wir, wie andernorts die Widersprüche aufbrechen und sichtbarer
werden. Nicht unser Glied der Kette ist das schwächste, es muss
nicht verwundern, wenn wir das erste Rumoren als Zuschauer erleben.
Aber niemand kann wirklich die Kräfte der Geschichte zum
Verschwinden bringen, nicht die finsteren, und schon gar nicht die
hellen Seiten.
Das Kapital
mag sich Stillstand wünschen, aber wir wissen, was schon Engels
schrieb: „dass Revolutionen nicht absichtlich und willkürlich
gemacht werden, sondern dass sie überall und zu jeder Zeit die
notwendige Folge von Umständen waren, welche von dem Willen und der
Leitung einzelner Parteien und ganzer Klassen durchaus unabhängig
sind.“
Das, was wir mit humanitärer Arbeit erreichen
können, ist nicht mehr als eine Erinnerung an eine menschlichere
Existenz. Wir leisten sie im Wissen um das Verlorene ebenso wie im
Wissen um das Zukünftige; um ein wenig von der Ehre unseres Volkes
zu bewahren, aber auch um uns selbst vor diesen geistlosen Zuständen
zu schützen.
Die wirkliche Aufgabe lautet nach wie vor, die
imperialistischen Kriege ein für alle Mal zu beenden. So wie
Vergangenheit und Zukunft, Notwendigkeit und Hoffnung bei unserem
Gedenken ineinander verwoben sind, gibt es nur einen Satz als
mögliches Fazit:
Seid bereit!
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