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Können Wahlen in kapitalistischen Demokratien psychologisch frei sein?
1990 gilt als das wichtigste Jahr der Nachkriegsgeschichte. Alles
scheint gesagt. Die Tabus überdauern. Die renommierte Essayistin Daniela
Dahn und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld nehmen sie in ihrem
neuen Buch „Tamtam und Tabu“ ins Visier mit einem Blick auf bislang
unterschätzte Zusammenhänge. Daniela Dahn untersucht, wie in
atemberaubend kurzer Zeit die öffentliche Meinung mit großem Tamtam in
eine Richtung gewendet wurde, die den Interessen des Westens entsprach.
Mit ihrer stringenten Zusammenschau reichen Materials aus den Medien
wird das offizielle Narrativ über die Wende erschüttert. Rainer
Mausfelds Analyse zeigt die Realität hinter der Rhetorik in einer
kapitalistischen Demokratie. Die gemeinschaftlichen Analysen werden in
einem grundlegenden Gespräch vertieft und liefern einen schonungslosen
Befund des gegenwärtigen Zustands der Demokratie. Ein Auszug aus Rainer
Mausfelds Text.
Ganz ungeniert und offen wurde hier von außen massive Wahlbeeinflussung
betrieben. Es lohnt sich, das Ausmaß dieser Wahlbeeinflussung in
Relation zu jüngeren tatsächlichen oder vorgeblichen Versuchen einer von
außen kommenden Beeinflussung demokratischer Wahlen zu setzen, die im
Westen größte Empörungen ausgelöst haben. Größer kann Heuchelei wohl
nicht sein. […]
Aus der empirischen Forschung geht hervor, dass die USA die wahren
Profis des Metiers sind. Die New York Times erinnerte 2018 – am 17.
Februar – an die lange Geschichte von massiven US-Einmischungen in
fremde Wahlen. Dabei erwähnte sie auch die Studie des Politologen Dov H.
Levin, der zeigte, dass sich zwischen 1946 und 2000 Russland 36 Mal in
Wahlen im Ausland eingemischt hat, die USA jedoch 81 Mal. Alles sogar
auf Wikipedia nachlesbar. Für Journalisten unserer Qualitätsmedien
offensichtlich nicht zugängliches Geheimwissen oder gar Fake News. […]
Wahlen in kapitalistischen Demokratien können gar nicht psychologisch
frei sein. So wie auch der Markt des Erwerbs von Konsumgütern gar nicht
frei sein kann, sondern im Kapitalismus massiv durch Werbung bestimmt
ist. Es werden also nicht einfach die zum Leben und zur Befriedigung
natürlicher Bedürfnisse erforderlichen Produkte angeboten. Die
Produktwerbung vermittelt vielmehr die Illusion, dass mit dem Erwerb von
Waren eine ganze Lebensform, ein Lifestyle erworben werden kann. Das
hatte Edward Bernays, ein Marketinggenie, auch seiner selbst, und ein
Vater der modernen Propaganda, schon in den Zwanzigerjahren des letzten
Jahrhunderts erkannt, als er in großen Kampagnen Zigaretten für Frauen
als »Fackeln der Freiheit« bewarb. Genauso skrupellos und erfolgreich
gelang es ihm 1954, den CIA-Putsch in Guatemala gegen den demokratisch
gewählten Präsidenten als »Kampf für Demokratie« zu verkaufen.
Produktmarketing und politische Propaganda entwickelten sich also Hand
in Hand. Ohne massivste psychologische Steuerung des Käuferverhaltens,
also ohne Werbung, würde der vielbesungene freie Markt, wenn nicht gar
der Industriekapitalismus selbst, zusammenbrechen. In gleicher Weise
würde die vielbesungene kapitalistische Demokratie ohne massivste
Steuerung des Wählerverhaltens, also ohne Wahlkampagnen und
Medienindoktrination, kaum aufrechtzuerhalten sein.
Produktwerbung und Wahlkampagnen unterlaufen gerade das, was sie
rhetorisch zu fördern vorgeben. Produktwerbung unterminiert die Idee
oder besser die Ideologie freier Märkte, denn Märkte können gar nicht
frei sein, wenn die Marktchancen eines Produktes davon bestimmt sind,
mit welcher Kapitalkraft jemand Werbekampagnen für sein Produkt
inszenieren kann. Wahlwerbung unterminiert die normative Idee, dass die
Wähler frei von äußerer psychologischer Manipulation abwägen können,
welchen politischen Programmen sie den Vorzug geben
Wahlwerbung will doch eine freie Urteilsbildung über gesellschaftliche
Verhältnisse in gleicher Weise unterminieren wie Produktwerbung eine
freie Urteilsbildung über ein Produkt. Beide dienen geradezu dazu, die
Aufmerksamkeit vom eigentlich zu beurteilenden Objekt abzulenken und
Illusionen zu stiften, die den Wähler oder Käufer von einer vernünftigen
Interessenabwägung abhalten sollen. Produktwerbung stellt daher eine
Marktverzerrung dar und Wahlwerbung eine Verzerrung des
gesellschaftlichen Willens. Beiden geht es darum, uninformierte oder
fehlinformierte Konsumenten beziehungsweise Wähler hervorzubringen, um
Interessen von Kapitalbesitzern durchzusetzen. Wer also über die
finanziellen Mittel verfügt, entsprechende Kampagnen zu entwickeln und
zu organisieren, kann andere in ihrer Urteilsbildung und in ihren
Entscheidungen beeinflussen und ihnen damit gleichsam seinen Willen
aufzwingen.
Wahlen in kapitalistischen Demokratien können somit gar nicht
psychologisch frei sein, da hier die Wahlchancen davon abhängen, mit
welcher Kapitalkraft politische Kandidaten durch Spenden Einfluss auf
politische Parteien nehmen und Werbekampagnen inszenieren können, mit
welcher Kapitalkraft sie also den Parteien- und Meinungsmarkt
beherrschen können. Dabei spielen neben Lobbyismus, der mittlerweile die
Form institutionalisierter Korruption angenommen hat, vor allem die
Medien eine zentrale Rolle. Solange die Massenmedien in privater Hand
oder eng in politische und ökonomische Machtstrukturen eingebunden sind,
kann es keinen freien und unverzerrten öffentlichen Debattenraum geben
und damit auch keine Wahlen, die man als psychologisch frei bezeichnen
könnte.
Realität und Rhetorik von Wahlen in kapitalistischen Demokratien klaffen
also, mit gewaltigen gesellschaftlichen Folgen, weit auseinander.
Dennoch gelangt all dies nicht in den öffentlichen Debattenraum. Mehr
noch: Die sogenannten Qualitätsmedien, die diesen Debattenraum überhaupt
erst schaffen, beharren geradezu aggressiv darauf, dass die normativen
Vorstellungen psychologisch freier demokratischer Wahlen im Großen und
Ganzen auch der gesellschaftlichen Realität entsprächen […]
Auch bei der Produktwerbung sind die Käufer eines Produkts fest davon
überzeugt, sich aus gänzlich freien Stücken für dieses und gegen jenes
Produkt entschieden zu haben. Das ist gerade der Witz von guter Werbung
und von guter Propaganda: Sie muss unbewusst und unsichtbar bleiben,
sonst wirkt sie nicht. Um einen Eindruck von der Größe des Effektes zu
erhalten, den Kapitalkraft auf Parteien und Wahlen hat, müssen wir uns
die empirische Forschungsliteratur hierzu ansehen. Diese Frage wird seit
mehr als drei Jahrzehnten im Bereich der Politischen Ökonomie ausgiebig
untersucht. Allein in den letzten Jahren sind hierzu unzählige Studien
renommierter Politikwissenschaftler erschienen, unter anderem aus
Harvard, Yale, Princeton oder vom MIT – also Forschung an
Elite-Universitäten, keine skurrilen Außenseiter. Seit Jahrzehnten
erhellt Studie um Studie die Realität hinter der Rhetorik und zeigt
akribisch auf, dass die Kapitalkraft, also Geld, einen überwältigenden
Einfluss auf Parteien und Wahlen in kapitalistischen Demokratien hat.
Ein wichtiges, wenn auch schon älteres Beispiel, das Buch des
Politikwissenschaftlers Thomas Ferguson Golden Rule: The Investment
Theory of Party Competition and the Logic of Money-Driven Political
Systems. Darin untersucht er am Beispiel der USA den Einfluss des
Kapitals auf die Möglichkeiten zur Artikulation des Wählerwillens. Er
zeigt im Detail, wie sich in den jeweils historischen Situationen
mächtige Industrie- und Finanzsektoren in flexibler Weise zur
Finanzierung von Parteien- und Wahlkampagnen zu Interessenblöcken
zusammengeschlossen haben, mit dem Ziel, ihre Interessen durch eine
Kontrolle des politischen Systems durchzusetzen. Die Entstehung dieser
Formen von Kapitaleinflüssen auf Parteien und Wahlen geht, wie Ferguson
nachweist, vor allem auf die Zeit von Roosevelts New Deal zurück. In der
Folgezeit gewannen sie enorm an Gewicht. In Zeiten, in denen ökonomisch
starke Sektoren widersprüchliche Interessen hatten, gab es politische
Konflikte zwischen Elitegruppen und damit auch Spielraum für
Demokratisierungen. In Zeiten, in denen sie in größerem Maße in ihren
Interessen übereinstimmten, gab es weniger Spielraum für soziale
Fortschritte. Doch stets sind es die ökonomisch starken Akteure, die
Parteiprogramme festlegen, Kandidaten finanzieren und die Zwänge und
Grenzen festlegen, innerhalb derer politische Entscheidungen getroffen
werden können.
Die Übernahme der DDR ist historisch nur eine weitere Illustration
dieser Funktionslogik kapitalistischer Demokratien. Resümierend stellt
Ferguson fest, die Wähler seien weder zu dumm noch zu desinteressiert,
ihren Interessen politisches Gewicht zu geben; sie seien lediglich zu
arm. Eigentlich eine Binsenwahrheit kapitalistischer Demokratien, doch
nun empirisch quantitativ untermauert. Fergusons Buch, ein Klassiker,
ist auch schon mehr als zwanzig Jahre alt, seitdem wurden Dutzende von
weiteren akribischen Studien zu diesem Thema veröffentlicht. Dabei wird
eines deutlich: Die Situation hat sich seitdem dramatisch
verschlechtert.
Die Aussage, Wahlentscheidungen in kapitalistischen Demokratien würden
psychologisch freie Entscheidungen von Wählern repräsentieren,
widerspricht in einem solchen Maße der Realität, dass es schon einer
heroischen Verleugnungsleistung bedarf, die Befunde all dieser
empirischen Studien zu ignorieren. Dennoch sind all diese grundlegenden
Erkenntnisse im öffentlichen Raum nicht verfügbar. Es gibt sie zwar,
doch zugleich gibt es sie nicht, sie sind unsichtbar. Kapitalkraft
ermöglicht eben auch, die Wahrnehmung der Realität massiv zu trüben,
jedenfalls der in den Medien vermittelten Realität.
Daniela Dahn, Rainer Mausfeld: „Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei
Jahrzehnte ohne Bewährung“, 240 Seiten, Westend Verlag, 21.9.2020
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