Donnerstag, 1. November 2012

"Staatsnahe" Feldhasen


Eine Dokumentation zu Staatsjagden in der DDR / Autor Peter Schreiber

Buchtipp von Harry Popow

Der sehr verständliche Strom von Erinnerungslektüre ehemaliger DDR-Bürger reißt nicht ab. Gott sei Dank, möchte man da sagen. Es wird noch eine lange Zeit dauern, ehe Rot- und DDR-Hasser akzeptieren, was war: Die DDR als bitter notwendigen Versuch einer Alternative zu einem kapitalistisch geprägten Deutschland, um jegliche Gefahr eines neuen Völkermordens von vornherein in die Schranken zu weisen – ein für allemal. Nun ist es anders gekommen, und gerade deshalb ist es so sehr wichtig, die Erinnerung an die Startversuche zu einem echten Friedensstaat wie die DDR einer war, aufrecht zu erhalten. Um der Zukunft willen.

 Deshalb sei all denen, die mit ihren Lebenserinnerungen im Grunde genommen zur Geschichtsschreibung beitragen, um so jeglichen Wahrheitsverschleierungen und Fälschern Paroli zu bieten, zu danken. Nun stehen private Lebenserinnerungen nicht unbedingt als pars pro toto für die Komplexität der DDR-Geschichte und ihrem Wirken im Bund der sozialistischen Länder, aber sie fügen sich letztendlich wie ein Mosaik zu einem Gesamtgemälde zusammen. Das trifft besonders auf jene Texte zu, die hinter die Kulissen staatlicher und parteilicher Macht schauen und so die Vielfalt der kollektiven Anstrengungen beleuchten, die den im Kalten Krieg so störanfälligen Arbeiter-und Bauern-Staat zu schützen suchten.

Einer der DDR-Bürger, die mutig zur Feder griffen, ist Peter Schreiber aus Erfurt. Der 1940 in Arnstadt Geborene erlernte den Beruf eines Fleischers, was sich später in den Reihen der Nationalen Voksarmee als sehr nützlich erwies: Er wurde im Stab der 4. Mot.-Schützendivision in Erfurt Oberoffizier für Planung und Beschaffung und Leiter der Unterabteilung Verpflegung. Mehr noch – ihn befahl man zum Aufbau der Jagdlager für die Staatsjagden im Bezirk Erfurt. Wie im Klappentext zu lesen, war der Oberstleutnant a. D. mit dafür verantwortlich, sowohl die jeweilige Jagd als auch die Betreuung und Versorgung der Jagdgäste, also vor allem der Staatsführung und deren Gäste, die Vertreter des Diplomatischen Corps, sicherzustellen.

 Man kann sich vorstellen, welche hohe Verantwortung den Organisatoren solcher Staatsjagden oblagen: Besonders auch für die Sicherheit der Gäste. Ging es doch darum, zu Beginn der sechziger Jahre, wie der Autor schreibt, alles zu unternehmen, um die internationale Anerkennung der DDR weiter auszubauen. Selbstverständlich wurden dazu auch Staatsjagden genutzt.

 In einem 82 Seiten umfassenden Büchlein mit 79 Abbildungen, der Autor nennt den Text „dokumentierte Erinnerungen“, berichtet er von insgesamt zwölf Jagden, die von 1965 bis 1989 im Bezirk Erfurt stattfanden. Was unvermeidbar bei dieser Aufeinanderfolge von immer wiederkehrenden Abläufen ist: Wiederholungen von Eindrücken, Erlebnissen, Schwierigkeiten.

 Nichtsdestotrotz ist man beim Lesen stets gespannt, welche Episoden und Begegnungen Peter Schreiber in seinen Erinnerungen besonders lebendig hervorhebt. Sind schon die Jagd und die Vorbereitung für manche Leser interessant genug, so erst Episoden, die die große Fürsorge für die hohen Staatsgäste, deren Sicherheit und auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Organisatoren betreffen.

 Wer weiß schon, dass zum Beispiel darauf verzichtet wurde, auf Hochwild zu schießen. Der Grund: Dazu wären Kugelwaffen nötig gewesen, in deren Gebrauch allerdings nicht alle Vertreter des Diplomatischen Corps geübt waren. Wer hatte nun das Glück, ins Schußfeld der Jäger zu kommen? Die Feldhasen!

Der Autor versteht es, die Staatsjagden in den Kontext der zunehmenden weltweiten Anerkennung der DDR zu stellen. So entwickelten diese sich nach der Aufnahme der DDR und der BRD in die Vereinten Nationen im Jahre 1973, und nachdem Erich Honecker das Amt des Vorsitzenden des Staatsrates übernahm „zu einer Tradition in der DDR, (…) zu einem gesellschaftlich bedeutenden, medienwirksamen Ereignis.“ (S. 14) Vor allem nach der Konferenz in Helsinki 1975 seien immer mehr Diplomaten akkreditiert worden.

 Bisher legten die Jagdgäste darauf Wert, von keiner Partei eingeladen zu werden, sondern vom Staatsoberhaupt. Nun gab es eine Änderung: Seit 1976 lud nun auch der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED zur Jagd ein. Nichts wurde dem Zufall überlassen, so besonders dann nicht, als erstmalig der Ständige Vertreter der BRD in der DDR, Günter Gaus, am organisierten Sonderprogramm teilnahm sowie ein Kamerateam des ARD-Studios unter Leitung des Korrespondenten Fritz Pleitgen eine Sendung über die Arbeit des Ständigen Vertreters vorbereitete.

 Nicht dem Zufall überlassen wurde auch die Sitzordnung im Speisezelt, denn hier sollten „bestimmte Verhandlungen“ angebahnt werden. Streng überprüft wurden auch alle Teilnehmer der Jagdgesellschaften wie Jagdhelfer, Jagdhornbläser, Hundeführer und Ordonanzen, ob sie auch eine „reine Weste“ hatten, also vorwiegend um Westverwandtschaft usw. „Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Begleiter der Diplomaten einen guten Leumund“ hatten und „in allen Fragen gute Staatsbürger waren.“ (S. 70)

 Was die Verpflegung anbetraf, so wurden u.a. Erbseneintopf mit Bockwurst, Tee mit und ohne Rum, Erfurter Braugold Bier sowie alkoholfreie Getränke gereicht. Dabei wurden nur Produkte aus dem Bezirk Erfurt verwendet.

Verständlich, dass die Organisatoren auch auf die verschiedenen Bedürfnisse und Gewohnheiten der hohen Gäste zu achten hatten. So wurden für jene Gäste, die aus religiösen Gründen kein Schweinefleisch essen durften, aus dem Geflügelschlachthof Nohra Suppenhühner besorgt, die übrigens, so der Autor, stets eine hervorragende Qualität hatten. Einmal baute man auch ein Gebetszelt auf, dass, mit Teppich ausgelegt und nach Osten ausgerichtet, allerdings nicht genutzt wurde. Und für die Hasen wurden im Gelände extra Zuckerrübenschwänze und –blätter ausgelegt, denn sie sollten sich „wohlfühlen“.

Vonnöten war eine umfangreiche materielle Sicherstellung: Das betraf die Speisezelte, die Telefonverbindungen für die Gäste und für die Regierungsmitglieder, z. B. spezielle abhörsichere SAS-Telefonapparate und auch selbstverständlich eine größere Wachsamkeit und Sicherheit in Vorbereitung und während der Jagden.

 Mitunter gerieten die Gastgeber auch in Bedrängnis. So, als der französische Botschafter sich zum Erbseneintopf ein Glas Weißwein aus der Region wünschte, der jedoch vor Ort nicht vorrätig war. Starkes Klopfen an der aus „Sicherheitsgründen“ geschlossenen Konsumverkaufsstelle bewirkte, dass doch noch ein regionaler Wein „erbeutet“ werden konnte, der den Namen „Natalie“ trug. (Er war, so der Autor, nur Kennern geläufig und zählte mit seiner lieblichen Süße zu den „Trockenen Weinen“.) So wurde der Botschafter zufriedengestellt.

Wer das Büchlein liest, das ist in wenigen Stunden zu schaffen, der kommt nicht um ein vergnügliches Schmunzeln herum, und das ziemlich oft. Beispielsweise durften die von Militärattaches erlegten Feldhasen (es waren zeitlich getrennte Jagden) nicht die Anzahl der von den Diplomaten erlegten Tiere übersteigen. Andererseits sollte die Trefferquote von Jagd zu Jagd übertroffen werden. Man verfiel auf die Idee, etliche Hasen bereits vor der eigentlichen Jagd zu erlegen, um sie dann auf die „Strecke“ zu legen. Doch ohne Erfolg, denn die zuvor geschossenen hartgefrorenen Tiere verschwanden unter dem Schnee oder, falls aufgewärmt, nahmen eine „stramme Haltung“ ein und „fielen wie ein steifes Brett auf den Streckenplatz.“ (S. 57)

 Was die sprachliche Gestaltung dieser Dokumentation betrifft, so möge man Nachsicht haben und eher den Mut und die Energie bewundern, die der Autor Peter Schreiber aufbringt, ordentlich aus der Schule seines sinnerfüllten Lebens zu plaudern.

 Der Oberstleutnant a. D. freut besonders, dass Erich Honecker bei keiner Jagd vergass, die Leistungen der NVA-Angehörigen bei der Sicherstellung der Jagd extra hervorzuheben. Ob er sich auch bei den sich für den Staat aufopfernden Feldhasen bedankte, dürfte ein Gerücht sein. Allerdings gerieten sie auf der anderen Seite der Staatsgrenze zur BRD möglicherweise auf die schwarzen Listen des Verfassungsschutzes, denn sie waren ja immerhin „staatsnahe“ Tiere. Nach Aussagen von schwatzhaften Gernegrößen, die es ja wie Sand am Meer gibt, seien sie auf den Listen noch nicht gestrichen worden…
 
(„Staatsjagden im Bezirk Erfurt 1971 – 1989“ / Autor Peter Schreiber. Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza/Thüringen, ISBN 978-3-86777-460-4, 1. Auflage, 82 Seiten mit 79 Abbildungen, Preis: 12.95 Euro)


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