Aus: Ausgabe vom 12.05.2018, Seite 12 / Thema
Schätze und Sätze
Entgegen allen Unkenrufen lässt sich die Gegenwart mit Karl Marx ganz wunderbar begreifen. Eine Rede zum 200. Geburtstag des Ökonomen und Philosophen
Von Dietmar Dath
Wir dokumentieren im folgenden die Rede, die der Schriftsteller Dietmar Dath am 5. Mai auf der jW-Veranstaltung »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen« aus Anlass von dessen 200. Geburtstag gehalten hat. (jW)
Das schöne Programm von Frauke und Gina Pietsch heute abend heißt »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen«. Für alle, die keine großen Aktienpakete von Weltkonzernen, keinen umfangreichen Immobilienbesitz und überhaupt keine Gewalt über die Arbeit anderer ihr eigen nennen, könnte es auch heißen: »Seiner Notwendigkeit wegen.«
Die Frage ist nämlich längst nicht mehr, ob die Sätze wohl Schätze sind, die wir von Karl Marx geerbt haben, ob sich darin Weisheiten und gar Wahrheiten entdecken lassen. Dass das so ist, wissen nämlich sowieso alle, auch die ihm feindlichst gesonnenen Wirtschaftswissenschaftler oder politischen Propagandakünstler, und die Besitzenden sowieso – die wissen es instinktiv, die brauchen ihn nicht zu studieren. Diejenigen zum Beispiel, die in diesem Land wie Drohnen über Städten kreisen, um aus der Abstraktionshöhe demographischer und ökonomischer Kenndatensätze, wie sie etwa die Bertelsmann-Stiftung im Projekt »Wegweiser Kommune« ermittelt hat, abzuschätzen, ob es sich lohnt, im sogenannten Speckgürtel der Metropolen Spekulationsgeschäfte mit Wohn- oder Wirtschaftsraum anzuzetteln, verhalten sich ganz selbstverständlich marxistisch, nämlich schlauer als die Sozialdemokratie, die immer noch so tut, als wären die politische Ökonomie und ihre Kritik ohne Verständnis- und Kampfkraftverlust auf den Stummelbegriff »Arbeitsplätze« zusammenzustreichen, während doch in Wirklichkeit das Privateigentum an den Lebensgrundlagen und die Gewalt über die Arbeit anderer das Thema ist.
Kein Unbekannter
Marx hat den Sozialdemokraten (und allen anderen, nicht nur Linken) gerade dies immer wieder erklärt, auch in direkter Konfrontation mit ihren programmatischen Verlautbarungen, in der 1875 geschriebenen »Kritik des Gothaer Programms« etwa. Dort setzt er das Grundeigentum und das Kapitaleigentum auf dem seinerzeitigen Stand so glasklar zueinander in Beziehung, dass sogar die heutige SPD oder die häuslebauenden baden-württembergischen Dunkelgrünen es sollten verstehen und die Verlängerung ins Heute denken können. Aber sie bleiben (oder sie stellen sich) dumm. Statt dessen, wie gesagt, sind es die Kapitalisten und Grundeigentümer, die sich verhalten, wie’s bei Marx steht, weil sie einfach wissen, dass das stimmt, was da steht – genau wie das, was der historische Materialismus über Ursachen und Chancen von Kriegen herausgekriegt hat, weshalb es ohne viel Aufhebens Eingang gefunden hat ins Denken und Handeln der Leute, die Kriege planen (oder, wie sie uns immer wieder glauben machen wollen, entgegen ihrem allerbesten Willen in Kriege schliddern).
Wer immer heute Besitz und Privileg verteidigt oder räuberisch vermehrt, führt sich in zunehmendem Maße geradezu vulgärmarxistisch auf, hält sich also, weniger wertend formuliert, mit bemerkenswerter Treue an Einsichten und Aussichten, die Marx zuerst formuliert hat. Wenn man die Literatur auch nur überfliegt, die Besitzende und Bevorrechtigte für sich sprechen lassen, ihre populären Medien und gelehrten Abhandlungen, findet man immer wieder, dass sie oder zumindest ihre besser bezahlten Vor- und Nachdenkfabrikbeschäftigten Marx kennen, ja: dass sie ihm, so zwischen Krieg und Krise, nicht selten zwischen ihren Schlag- und Zischzeilen gerade das glauben, was ihren offiziellen Erklärungen für ihr abscheuliches Treiben am deutlichsten widerspricht.
Wir verdanken diesem Mann zunächst die moderne Ideologiekritik, also die Erkenntnis, dass die durchschnittliche Geräuschkulisse einer Gesellschaft sehr genau weiß, wer in ihr die Musik bestellt und bezahlt. Wir verdanken ihm und seinem Freund und Förderer Friedrich Engels ferner überhaupt den schon erwähnten historischen Materialismus, das heißt die Wahrheit, dass sich die Menschheitsgeschichte nicht nach Ideen richtet, weder nach falschen noch nach richtigen, und dass man das wissen muss, wenn man sie neu organisieren und nach den richtigen Ideen fortsetzen will. Als Übersetzung von Annahmen über die Ideengeleitetheit der Weltereignisse in Taten kamen ja, bevor Marx für diese Übersetzung ein revolutionäres Wörterbuch anlegte, schon die wichtigsten bürgerlichen Errungenschaften in die Welt, zum Beispiel die heutzutage so gern als Propagandawerkzeug missbrauchten Menschenrechte: Erst glaubte man, theologisch, diese Rechtsform hafte den empirischen Menschen per himmlischem Dekret als evidente Gottesebenbildlichkeit an; dann sah man ein, dass das weder im Dschungel noch auf der Straße, auf Plätzen und in Gebäuden gilt, dann beschloss man, es wenigstens in der menschengemachten Welt durchzusetzen und veranstaltete zu diesem Zweck schließlich die Revolution, zunächst die Französische – Marx hat das, was da geschah, verallgemeinert, sein Materialismus ist ein über sich selbst aufgeklärter Idealismus, einer mit Zähnen, einer, der beißt, wenn man ihn reizt. Die Geschichte der Lehre von Marx ist die Geschichte der Überwindung des Missverständnisses von Geschichte überhaupt als Ideengeschichte.
Ich will die Reihe der Grundverdienste des Jubilars nicht so lange fortsetzen, bis sie euch und mich erschöpft, verwiesen sei nur noch darauf, dass er den Irrtum des bürgerlichen Individualismus kritisch auflöste, »das Individuum« (was immer das sei) stehe im primordialen Gegensatz zur Gesellschaft. Marx wies statt dessen nach, dass jedes Individuum, sofern überhaupt eins existiert, von ganz bestimmten Gesellschaften erreicht, erzeugt, geformt und mit Raum zur Selbsterziehung oder Selbstverhunzung beschenkt wird, darunter der kapitalistischen, die man deshalb studieren muss, wenn man das vorhandene durchschnittliche Individuum eher mangelhaft findet und in den allermeisten Fällen einen armen Hund, dem es besser gehen und der besser (freier, reicher, klüger, offener) sein könnte.
Marx hat seinen eigenen Rat beherzigt und diese Gesellschaft studiert. So gelang es ihm offenzulegen, wie sie ausbeutet, unterdrückt, ausgrenzt, einschließt, wie sie Menschen vereinzelt, vereinsamt, sie verkommen lässt. Weil man so nicht leben kann, hat Marx sich außerdem Gedanken darüber gemacht, wie eine andere, eine im Sinn des verwirklichten und entfalteten menschlichen Potentials eingerichtete Gesellschaft aussehen könnte, und dabei einen Kommunismus skizziert, der nicht fertig aus dem Backofen springt und den man auch nicht downloaden kann.
Dieser Kommunismus hat unter anderem eine niedere Stufe, deren Aufgabe es ist, nach bestimmten, vernünftigen Regeln die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse so zu entwickeln, dass eine höhere Stufe dieses Kommunismus möglich wird, worin dann »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Auf ihr wird dann auch praktisch der Widerspruch zwischen Einzelperson und Gemeinwesen aufgelöst, den Marx zuvor schon kritisch aufgelöst hat.
Es stecken folglich, wie man sieht, anwendbare und tiefgreifende Wahrheiten in den Sätzen des Jubilars, und es stecken Weisheiten drin. Das kann man wissen, das fragt sich nicht. Was sich aber fragt, ist, wie viele und welche von diesen Wahrheiten und Weisheiten wir mit den derzeit schwachen Kräften aller, die überhaupt noch eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Ausgrenzung, Einkerkerung, Entfremdung und Asozialität wollen, durch diese blöden und bösen Zeiten tragen können, wie viele und welche wir weitergeben und was damit sonst geschehen soll.
Eine einfache und, wie ich aus eigener Praxis bezeugen kann, sehr effektive Methode, die Wahrheiten und Weisheiten im Gebrauch zu halten, die wir Marx verdanken, ist die, sich ohne falsche Scheu an Leute zu wenden, die gerade an einem konkreten Fall (und am besten nicht passiv erleidend, sondern im Kampf) etwas für sie Neues über Ausbeutung, Unterdrückung, Ausgrenzung, Einkerkerung, Entfremdung und Asozialität gelernt haben, und ihnen dann zu zeigen, dass diese jeweilige Neuigkeit schon seit mehr als hundert Jahren bei Marx steht und auf sie wartet.
»Schön, dass ihr doch noch gekommen seid«, ist ja der Standardgruß, der aufrichtigen Linken immer wieder aus diesen Texten winkt.
Schrankenlose Verfügung
In Hollywood zum Beispiel, wo der Bewusstseinsstand traditionell tief unterm technisch illusionistischen State of the Art dahinsiecht, hat man neuerdings mit Staunen und Augenreiben strukturelles Unrecht entdeckt, das heißt seltsame Phänomene zwischen Vergütungsgefälle und menschlicher Ekelhaftigkeit, zwischen Rassismus, Sexismus und anderen Arten der Verletzung bürgerlicher Gleichheitsgrundsätze.
Da wundern sich dann ehrliche Gleichheitsbegeisterte, etwa Schauspielerinnen und Schauspieler, öffentlich darüber, dass etwas offenbar gar nicht stimmt, was diese Gesellschaft von sich verbreiten lässt, nämlich die Behauptung, Arbeits- und sonstige Sozialverhältnisse seien in ihr nicht mehr solche der persönlichen Machtausübung wie in der Sklaverei oder der Leibeigenenwirtschaft, sondern unterm Vorzeichen des Verkaufs von Arbeitskraft schön vertraglich geregelt, nicht mehr mit Peitsche und Halseisen, sondern mit dem Handy und dem Beeper, ganz versachlicht, in gerechtem Tausch, zum Beispiel: Schönheit und Talent gegen Reichtum, Drogenabhängigkeit und Ruhm.
In Wirklichkeit ist die ganze schöne Pantomime von der Objektivität der Transaktion und dem Tod der subjektiven Willkür ein Ablenkungsmanöver, weil in dieser Gesellschaft schon die Definition dessen, was überhaupt sinnvolle, produktive Tätigkeit sei, ohne die Menschen ja gar nicht leben könnten, einer grauenhaften Wahnvorstellung gehorchen muss, nämlich dem Gebot, dass (bei allem Gelaber von flachen Hierarchien, Teams und gemeinsam erfüllten Aufgaben) immer nur diejenigen Arbeitsresultate als produktiv gelten, die irgendeinem Idioten mit Besitztitel (oder wenigstens einem Unteridioten mit verbrieftem Mandat von so einem Oberiditioten) Profit einbringen. Dass diese Gesellschaft zwischen beruflichem Verhältnis und sexueller Belästigung (bis hin zur Vergewaltigung) ein Kontinuum der schrankenlosen Verfügung gewisser Menschen über andere Menschen eingerichtet hat, steht wortwörtlich bei Marx in den »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie«, die er 1857 und 1858 schrieb, und zwar in der stellenweise obszönen Sprache, die dem obszönen Sachverhalt entspricht, nämlich da, wo er von den modernen Wirtschaftsgelehrten sagt, sie hätten sich zu solchen Liebedienern des abstrakten besitzenden Schweinerkerls (ob das nun ein Fabrikant oder ein Filmproduzent ist, bleibt sich gleich) gemacht, dass sie, und nun wörtlich Marx: »demselben weismachen wollen, es sei produktive Arbeit, wenn einer ihm die Läuse auf dem Kopf suche, oder ihm den Schwanz reibe, weil etwa die letztre Bewegung ihm den dicken Kopf – blockhead – den nächsten Tag aufgeräumter für das Comptoir machen werde. Es ist daher ganz richtig – zugleich aber auch charakteristisch – dass den konsequenten Ökonomen die Arbeiter z. B. von Luxusshops produktive Arbeiter sind, obgleich die Kerls, die solche Gegenstände verzehren, ausdrücklich als unproduktive Verschwender kastigiert werden. Das fact ist, dass diese Arbeiter, indeed, produktiv sind, as far as they increase the capital of their master; unproductive as to the material result of their labour. In fact ist ja dieser ›produktive‹ Arbeiter gerade ebenso interessiert an dem Scheißdreck, den er machen muss, wie der Kapitalist selber, der auch den Teufel nach dem Plunder fragt.«
Wer jemals die Luxusunternehmer, die Figuren, von denen er da redet, in Venedig auf dem Filmfest getroffen hat, weiß, dass das alles stimmt, inklusive Desinteresse an den Uhren und Klamotten, denen sie vordergründig ihr Vermögen verdanken.
Geplantes Schliddern
Wir hier dagegen, heute abend und hoffentlich darüber hinaus, sind sehr interessiert – nicht an Scheißdreck, aber doch an Schätzen, an Sätzen von Marx, die wir reproduzieren müssen, wo sie passen.
Welche werden wir wie weitertragen, weitergeben können?
Das hängt unter anderem davon ab, ob wir das überleben, was auf uns zukommt, nicht zuletzt die Kriege, mit denen jetzt gerechnet wird – einerseits von Investigativdenkern, die glauben, derartige Kriege würden kühl geplant, andererseits von immer wieder neu aus heiterem Himmel entsetzten Medienmenschen, die ganz ungekünstelt für wahr halten, was die Monopolbourgeoisien der vorhandenen paar souveränen Staaten und überstaatlichen Bündnisse erzählen lassen, nämlich, ich sagte es schon, dass sie in Kriege immer nur hineinschliddern. Die Wahrheit liegt, auch das wissen wir von Marx, zwischen Plan und Schliddern, aber nicht platt irgendwie in der Mitte, sondern dialektisch vermittelt: Diese Verbrecher planen kühl, bei Gelegenheit zu schliddern, mehr Plan brauchen sie nicht.
Axel Springers Welt hat das vor rund einem Jahr, am 25. Mai 2017, aus gegebenem Anlass wieder einmal fein bestätigt: »Die Staats- und Regierungschefs der NATO haben 2014 gemeinsam Ziele für ihre Verteidigungsausgaben festgelegt. Das wichtigste von ihnen lautet, dass alle Länder darauf abzielen sollen, spätestens von 2024 an zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung und Militär auszugeben. Das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel wurde unter dem Eindruck der Ukraine-Krise beschlossen.«
Der reine Feinsinn: »unter dem Eindruck«, wie ein Poet was dichtet, wenn er zum ersten Mal die Alpen gesehen hat.
In der Woche, die jetzt direkt hinter uns liegt, erfreute uns die »Tagesschau« der ARD mit einer Zwischenmeldung auf dem Schlidderplanweg: »Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen fordert in der derzeitigen Legislaturperiode zwölf Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr. Damit ist der finanzielle Mehrbedarf, den die CDU-Politikerin in den laufenden Haushaltsverhandlungen angemeldet habe, mehr als doppelt so hoch wie im Entwurf von Finanzminister Olaf Scholz vorgesehen.«
Was machen wir mit diesen ekelhaften Auskünften, wenn wir Marx gelesen haben? Über seine Haltung zu Kriegen ist viel verwirrtes Geschwätz im Umlauf. Waren er und Engels nicht gegen Russland und für einen preußisch-deutschen Angriff aufs Zarenreich? War er nicht auch irgendwann einmal gegen oder für Frankreich? War er nicht für die Union und gegen die Sezession im amerikanischen Bürgerkrieg, der Sklaverei wegen? Und heißt das alles nicht, dass man, wenn man Marx folgen will, der gewiss kein Gesinnungspazifist war, ab und zu auch Kriegsanstrengungen befürworten könne, ja müsse? Nun ja, die Rote Armee gegen die Wehrmacht, selbstverständlich, das ist nicht schwierig, da braucht man aber keinen Marx, das geht mit dem kleinsten Messerspitzchen Verstand und Gewissen. Diejenigen allerdings, die für imperialistische Kriege das Wort ergreifen und es wagen, dabei auf marxistischen Gründen herumzukauen, sollen sich hüten, so zu tun, als wären Stellungnahmen zu Kriegen Fußballwetten und als dürfe man sich die sympathischere Mannschaft aussuchen, um mit gutem Gewissen vom Ergebnis zu profitieren.
Engels hat Marx nämlich ganz richtig verstanden, als er nach dem Tod des Freundes die Arbeiterbewegung als größte Feindin imperialistischer Kriege ansprach und auch sonst unmissdeutbar beschrieb und erläuterte, wie sozialistisches Denken und Handeln im Zusammenhang mit den Kriegen der Besitzenden aussehen – doch, Engels, genau, denn ich werde doch hier keinen Marx-Vortrag halten und diesen Mann nicht oft genug erwähnen, obwohl, nein: gerade weil es eine der übelsten Sitten der bürgerlichen Marx-Entstellerei ist, Engels von Marx zu trennen, etwa, um Marx ins 19. Jahrhundert abzuschieben, über das hinaus Engels so unübersehbar in die Arbeiterbewegung gewirkt hat, oder um Marx in die Philosophie abzuschieben, die für Engels eher von nachrangigem Interesse war, und jedenfalls: um Marx zu isolieren, damit er nicht am Ende noch mit Lenin in Kontakt kommt, dazu gleich mehr.
Engels also, um zu ihm zurückzukehren, hat spät im Leben, lange nach dem Tod des Freundes, ein neues Vorwort zu einer von Marxens wichtigsten kürzeren, eingreifenden Schriften verfasst, den »Klassenkämpfen in Frankreich 1848 bis 1850«.
Politisch vermittelte Ökonomie
Der Nachlasstreuhänder stellte gleich zu Beginn seines späten Vorworts klar, was diese Arbeit so wichtig macht: »Die hiermit neu herausgegebene Arbeit war Marx’ erster Versuch, ein Stück Zeitgeschichte vermittelst seiner materialistischen Auffassungsweise aus der gegebenen ökonomischen Lage zu erklären. Im ›Kommunistischen Manifest‹ war die Theorie in großen Umrissen auf die ganze neuere Geschichte angewandt, in Marx’ und meinen Artikeln der Neuen Rheinischen Zeitung war sie fortwährend benutzt worden zur Deutung gleichzeitiger politischer Ereignisse. Hier dagegen handelte es sich darum, im Verlauf einer mehrjährigen, für ganz Europa sowohl kritischen wie typischen Entwicklung den inneren Kausalzusammenhang nachzuweisen, also, im Sinn des Verfassers, die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wirkungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen.«
Beim Ersterscheinen waren der Schrift die Sätze vorangestellt: »Mit Ausnahme einiger weniger Kapitel trägt jeder bedeutendere Abschnitt der Revolutionsannalen von 1848 bis 1849 die Überschrift: Niederlage der Revolution! Was in diesen Niederlagen erlag, war nicht die Revolution. Es waren die vorrevolutionären traditionellen Anhängsel, Resultate gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich noch nicht zu scharfen Klassengegensätzen zugespitzt hatten – Personen, Illusionen, Vorstellungen, Projekte, wovon die revolutionäre Partei vor der Februarrevolution nicht frei war, wovon nicht der Februarsieg, sondern nur eine Reihe von Niederlagen sie befreien konnte. Mit einem Worte: Nicht in seinen unmittelbaren tragikomischen Errungenschaften brach sich der revolutionäre Fortschritt Bahn, sondern umgekehrt, in der Erzeugung einer geschlossenen, mächtigen Konterrevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Bekämpfung erst die Umsturzpartei zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifte. Dies nachzuweisen ist die Aufgabe der folgenden Blätter.«
Für uns, die wir die Zerstörung der sozialistischen Staatenwelt erlebt haben, ist hier eine unschätzbar wichtige Wahrheit aufbewahrt: Die Niederlage und ihre Analyse sind der Lehre von Marx nicht nur nicht fremd, sie gehören im Innersten zu ihr, soll sagen: Sie haben ihr dazu verholfen, überhaupt so gründlich und so wahr zu werden, wie sie ist, eben weil die Niederlagenanalyse eines der wichtigsten Momente jeder Theorie sein muss, die es unternimmt, »die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wirkungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen«.
Die Kräfteverhältnisse zwischen Frankreich und anderen Staaten waren für die Analyse, die Marx 1850 schrieb, solche ökonomischen Ursachen, aber in politischer Vermittlung, als relativer Stand des Klassenkampfes nämlich, als Zustand der beiden nationalen Bourgeoisien und als Metrik des Spielraums für ihre Gegner. Das Modell, das Marx davon gebaut hatte, bestätigte sich in den Jahrzehnten danach, wie Engels in seinem späten Vorwort ausführt, schlagend und glänzend: »Nach dem Kriege von 1870/71 verschwindet Bonaparte vom Schauplatz, und Bismarcks Mission ist vollendet, so dass er nun wieder zum ordinären Junker herabsinken kann. Den Abschluss der Periode aber bildet die Kommune von Paris. Ein heimtückischer Versuch von Thiers, der Pariser Nationalgarde ihre Geschütze zu stehlen, rief einen siegreichen Aufstand hervor. Es zeigte sich wieder, dass in Paris keine andere Revolution mehr möglich ist als eine proletarische. Die Herrschaft fiel der Arbeiterklasse nach dem Sieg ganz von selbst, ganz unbestritten in den Schoß. Und wiederum zeigte sich, wie unmöglich auch damals noch, zwanzig Jahre nach der in unserer Schrift geschilderten Zeit, diese Herrschaft der Arbeiterklasse war. Einerseits ließ Frankreich Paris im Stich, sah zu, wie es unter den Kugeln Mac-Mahons verblutete; andererseits verzehrte sich die Kommune im unfruchtbaren Streit der beiden sie spaltenden Parteien, der Blanquisten (Majorität) und der Proudhonisten (Minorität), die beide nicht wussten, was zu tun war. Ebenso unfruchtbar wie 1848 die Überrumpelung, blieb 1871 der geschenkte Sieg.
Mit der Pariser Kommune glaubte man das streitbare Proletariat endgültig begraben. Aber ganz im Gegenteil, von der Kommune und vom Deutsch-Französischen Krieg datiert sein gewaltigster Aufschwung. Die totale Umwälzung des gesamten Kriegswesens durch die Einrangierung der ganzen waffenfähigen Bevölkerung in die nur noch nach Millionen zu berechnenden Armeen, durch Feuerwaffen, Geschosse und Explosivstoffe von bisher unerhörter Wirkungskraft machte einerseits der bonapartistischen Kriegsperiode ein jähes Ende und sicherte die friedliche industrielle Entwicklung, indem sie jeden anderen Krieg unmöglich machte als einen Weltkrieg von unerhörter Greuelhaftigkeit und von absolut unberechenbarem Ausgang. Andrerseits trieb sie durch die in geometrischer Progression steigenden Heereskosten die Steuern zu unerschwinglicher Höhe und damit die ärmeren Volksklassen in die Arme des Sozialismus. Die Annexion von Elsass-Lothringen, die nächste Ursache der tollen Konkurrenz in Kriegsrüstungen, mochte die französische und deutsche Bourgeoisie gegeneinander chauvinistisch verhetzen; für die Arbeiter beider Länder wurde sie ein neues Band der Einigung. Und der Jahrestag der Kommune von Paris wurde der erste allgemeine Festtag des gesamten Proletariats.«
Richtmaß: Umsturz
Was hier klargestellt ist, kann man gar nicht oft genug sagen: Die Partei, zu der Marx hielt, war schlicht in jedem Land diejenige, die antrat, die Klassenherrschaft der Besitzenden zu stürzen. An ihr und sonst an nichts richtet er seine Einschätzung auch jeder militärischen Lage aus, vor dem Krieg, nach dem Krieg, im Krieg. Wer ihm das nicht nachtun will, soll sich auf was und wen immer berufen – nicht auf Marx.
Diese Umsturzpartei ist heute vergleichsweise schwach. Man stellt ihr nach, wo sie sich zu erkennen gibt, sie wirkt von abseits her, man muss sie manchmal suchen. Aber das gab’s schon früher, sagt Engels mit bösem Witz in seinem Vorwort zu den »Klassenkämpfen in Frankreich«:
»Es sind nun fast aufs Jahr 1.600 Jahre, da wirtschaftete im Römischen Reich ebenfalls eine gefährliche Umsturzpartei. Sie untergrub die Religion und alle Grundlagen des Staates; sie leugnete geradezu, dass des Kaisers Wille das höchste Gesetz, sie war vaterlandslos, international, sie breitete sich aus über alle Reichslande von Gallien bis Asien und über die Reichsgrenzen hinaus. Sie hatte lange unterirdisch, im verborgenen gewühlt; sie hielt sich aber schon seit längerer Zeit stark genug, offen ans Licht zu treten. Diese Umsturzpartei, die unter dem Namen der Christen bekannt war, hatte auch ihre starke Vertretung im Heer; ganze Legionen waren christlich. Wenn sie zu den Opferzeremonien der heidnischen Landeskirche kommandiert wurden, um dort die Honneurs zu machen, trieben die Umstürzlersoldaten die Frechheit so weit, dass sie zum Protest besondere Abzeichen – Kreuze – an ihre Helme steckten. Selbst die üblichen Kasernenschurigeleien der Vorgesetzten waren fruchtlos. Der Kaiser Diokletian konnte nicht länger ruhig zusehen, wie Ordnung, Gehorsam und Zucht in seinem Heere untergraben wurden. Er griff energisch ein, weil es noch Zeit war. Er erließ ein Sozialisten-, wollte sagen Christengesetz. Die Versammlungen der Umstürzler wurden verboten, ihre Saallokalitäten geschlossen oder gar niedergerissen, die christlichen Abzeichen, Kreuze etc. wurden verboten wie in Sachsen die roten Schnupftücher. Die Christen wurden für unfähig erklärt, Staatsämter zu bekleiden, nicht einmal Gefreite sollten sie werden dürfen. Da man damals noch nicht über so gut auf das ›Ansehen der Person‹ dressierte Richter verfügte, wie Herrn von Köllers Umsturzvorlage sie voraussetzt, so verbot man den Christen kurzerhand, sich vor Gericht ihr Recht zu holen. Auch dies Ausnahmegesetz blieb wirkungslos. Die Christen rissen es zum Hohn von den Mauern herunter, ja sie sollen dem Kaiser in Nikomedien den Palast über dem Kopf angezündet haben. Da rächte sich dieser durch die große Christenverfolgung des Jahres 303 unserer Zeitrechnung. Sie war die letzte ihrer Art. Und sie war so wirksam, dass siebzehn Jahre später die Armee überwiegend aus Christen bestand, und der nächstfolgende Selbstherrscher des gesamten Römerreichs, Konstantin, von den Pfaffen genannt der Große, das Christentum proklamierte als Staatsreligion.«
Man muss die letzte Stufe nicht erobern wollen. Es gibt Schöneres als Staatsreligionen, zum Beispiel sozialistische Staatsmacht.
Unsere Zeichen
Wir, die wir die Schätze und Sätze, die Wahrheiten und Weisheiten von Marx im Gebrauch und am Leben halten wollen, haben allerdings auch unsere Zeichen, wenn schon nicht das Kreuz, das der Herr Söder jetzt wieder in die Amtsgebäude hängen will. Wir haben zum Beispiel Hammer und Sichel, wir haben Zirkel und Ährenkranz, das sind keine schlechten, keine schwachen oder mehrdeutigen Symbole, man weiß ganz gut, was sie bedeuten, wofür sie stehen. Auch sie sind verboten worden, etwa in Lettland, Ungarn, Polen, also unter anderem da, wo der Imperialist Donald Rumsfeld im Jahr 2003 das von ihm so genannte Neue Europa heraufziehen sah, als der reiche Westen Europas einmal nicht gar so viel Lust hatte, für ihn im Nahen Osten die Weltordnerei zu versuchen.
Auch in Deutschland hat man gefordert, unsere Zeichen zu verbieten – es stand am 15. Mai 2014 in der Taz, in dem Jahr also, als die NATO beschloss, deutlich mehr Geld für Rüstung vom Mehrwert abzuzweigen: »Sollte die Verwendung des Symbols der Freien Deutschen Jugend genauso bestraft werden wie die des SS-Totenkopfs? Ist ein roter Stern ebenso schwer erträglich wie ein Hakenkreuz? Sind die Uniformen der Ernst-Thälmann-Pioniere so abstoßend wie jene der Wehrmacht? Und muss Energie Cottbus sein Stadion der (deutsch-sowjetischen) Freundschaft umbenennen? Ginge es nach Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, und seiner ideologischen Mitstreiter, wäre die Antwort ein eindeutiges Ja.«
Es wird nicht der letzte Versuch gewesen sein, etwas wenigstens symbolisch ungeschehen zu machen, was die Besitzenden und Befehlenden der heutigen Weltordnung selbst im Rückblick kaum ertragen können.
Es gibt indes einen Unterschied zwischen dem Kruzifix auf der einen, den sozialistischen Symbolen auf der anderen Seite: Wir kennen niemanden mehr, der bei Golgatha dabei war. Aber es wissen noch Leute, von wem Hitler aufgehalten wurde, oder wo die Hauptstadt der DDR sich befand. Das ist ein Wissen, das nicht weniger wichtig ist als die Kenntnis der Schätze und Sätze, der Wahrheiten und Weisheiten von Karl Marx, ohne den es die Macht, die Hitler aufhielt, und die Hauptstadt der DDR, in der Hitlers – von ihm verfolgten, aber nicht besiegten – Feinde regierten, nie gegeben hätte.
Es hat sie gegeben, und das wird nicht umsonst gewesen sein.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen