Buchtipp
von Harry Popow
Ab
ins Erziehungsheim! Und gnade dir Gott! Wohl kein Erziehungsheim auf der Welt,
das als Paradies bezeichnet werden könnte. Aber gleich das ganze Gegenteil? Wer
jenen Ort als Hölle bezeichnet und versucht, durch Selbstmord zu entfliehen,
der hat Schlimmes erlebt. Hut ab vor Dietmar Krone. Er hat es erleben müssen. Er
hat überlebt. Und das in den 50er und 60er Jahren im aufsteigenden deutschen
Wirtschaftwunderland BRD.
Er
hat seine Höllenfahrt nach langem Zögern aufgeschrieben, seine Kindheits- und
Jugenderlebnisse in seinem Buch „Albtraum Erziehungsheim“. Nochmals -Hut ab vor
seinem Mut, seine Leidensgeschichte der Öffentlichkeit preiszugeben. Und er hat
es gut gemacht. Mit einfachen Sätzen spricht er Klartext, ohne stilistische
Feinheiten. Das, was er auf 145 Seiten schildert, lässt den Leser erschauern,
er wird gerührt sein, er wird in Wut geraten über unglaubliche Kindesmisshandlungen.
Das alles liegt Jahrzehnte zurück. Und dennoch, angesichts von aktuellen
Schreckensnachrichten über Gewalt gegenüber Kindern, ob von Eltern oder
sogenannten Erziehern und Pädagogen verübt, lässt es eine Spur der seelenlosen
Kälte gegenüber den Mitmenschen erkennen.
Der
Autor legt bereits im Prolog zukünftigen Eltern, Erziehern und Pädagogen ans
Herz, nicht die Fehler zu begehen, die in der Vergangenheit einst ihre
Vorgänger gemacht haben. Und der 1954 geborene Dietmar, der als
dreizehnjähriges Kind Erniedrigungen erfahren mußte, verpasst der Gesellschaft ein
gewaltiges Tor mit dem Satz: „Ohne gewissenhafte Überprüfung wurden in den
Ämtern oft Denunzianten, moralpredigenden Fürsorgeschwestern und anderen
Intriganten mehr Glauben geschenkt als einem unschuldigen Kind.“ Als sein Vater
mit 52 Jahren starb, sagte der Pfarrer am Grabe die reinste Unwahrheit, indem
er ihn als treu sorgenden Familienvater bezeichnete. Diese Heuchelei und diese
dreiste Lüge schockierte und schmerzte den Jungen.
Womit
der heute 59jährige seinen kritischen Blick von vornherein auch auf die
Gesellschaft richtet. Ist sie es doch, die auch heute noch weitgehend den
Nährboden bietet für den Kampf eines jeden gegen jeden, mal offen und brutal,
mal versteckt hinter Lügen und Intrigen. Du bist dir selbst der Nächste! Schließlich
sei jeder selber
schuld, nicht zu den Reichen zu gehören. Du selbst bist für dich
verantwortlich. Mach was aus dir. Der amerikanische Autor Joe Bageant schreibt in
seinem Buch „Auf Rehwildjagd mit Jesus“ auf Seite 40/41: „Die konservativen
Republikaner … machen viel Tamtam um Konzepte wie ´persönliche Verantwortung´
und ködern damit die Jungs und Mädels…“ Menschliche
Wesen seien „Wettbewerber in einem
übergeordneten Wirtschaftssystem; der Markt ist das neue Olympia, wo sich ´Homo
oeconomicus´tummelt; …“ Wie in den USA so auch in Deutschland: Der freie Markt
filtert den würdigeren Wettbewerber aus der Masse heraus. Die menschliche Kälte, sie entspringt der gewollten
Hetzjagd nach Überleben, nach Geld, nur wer sich wehrt, wer andere tritt, kann
nach oben kommen. Es ist die Schattenseite des damaligen Wirtschaftswunders in
der Bundesrepublik, und die inneren Zwänge sind längst nicht aus der Welt –
ganz im Gegenteil.
Zurück
zum Erlebnisbericht des Dietmar Krone: Der Vater – regelmäßig betrunken und den
Jungen oft grundlos schlagend. Die Mutter, eine ehemalige BDM-Führerin, – das
unerwünschte Kind nicht liebend und ebenfalls prügelnd und verstoßend, die
späteren Liebhaber der Mutter eingeschlossen. Sie konnte nicht wirtschaften,
schreibt der Autor, und deshalb stand
nach nicht beglichenen Kreditraten der Gerichtsvollzieher vor der Tür. Oft
verbringt der Sohn seine Zeit bei der Großmutter oder in einem Kinderheim. Wenn er
Hilfsarbeiten erledigen mußte – mitunter 13 Stunden am Tag - , um etwas Geld zu
verdienen, nahm die Mutter es ihm abends wieder ab. Manchmal gab man ihm keinen
Lohn, da gab es erst recht Prügel. "Du mußt erstmal deine Windeln bezahlen", fuhr
sie ihn an. Im Winter saßen sie oft in einer kalten Wohnung, und der Junge mußte
bei Nachbarn um Kohlen betteln. Mit knapp 12 Jahren bricht er auf Grund
schwerer Fensterputzarbeiten in einem Möbelgeschäft zusammen. Die Folge:
Krankenhaus, Nervenklinik, die Fürsoge schaltet sich ein. Doch der Geschäftsführer
streitet schwere körperliche Arbeit ab. Muß er, denn Kinderarbeit ist verboten.
Dem asozialen und verkommenen Lügner aber dürfe man nicht glauben.
Der
sich nach menschlicher Wärme Sehnende lernt einen Mann in religiösen Kreisen
kennen, der sich seiner annimmt und ihm ein guter Freund wird. Was macht die
Mutter? Sie alarmiert die Polizei, der Junge habe Beziehungen zu einem
Kinderschänder. Man glaubt ihr, befragt aber nicht den Jungen. Der Mann
verliert seinen Arbeitsplatz und kommt ohne gründliche Prüfung ins Gefängnis.
Die Verbitterung bei dem Jungen ist groß. Er hat nun niemanden, an den er sich
vertrauensvoll wenden kann. Kein Wunder – die Fürsorge wird gerufen und Dietmar
muß ins Jugenderziehungsheim Viersen-Süchteln. Bis zum 21. Lebensjahr. Nun ist
er endgültig gestempelt. Ein jugendlicher Krimineller.
Das
autoritäre Regime im Erziehungsheim wird von einem ehemaligen HJ-Führer
geführt. Bei kleinsten vermeintlichen Verstößen werden die „verwahrlosten“
Kinder in eine Dunkelzelle gesperrt. Zehn Tage Einzelhaft bei Wasser und
trocken Brot. Ob im Heim oder kurzzeitig in der Psychiatrie ist unter dem
altbekannten Motto „Zucht und Ordnung“ an der Tagesordnung: Ohrfeigen,
Handschellen, Psychoterrorr, mit Zahnbürsten den Flur schrubben, Rohrstockhiebe
und Tritte mit dem Fuß in den Rücken, Unterschlagung sämtlicher privater
Briefe, Schikanen, Entengang, keine Aus- und Schulbildung, Liebe heuchelnde
Pfarrer, die der Heimleitung alles verraten, was die Kinder ihnen erzählt haben.
Demütigende entwürdigende Behandlung, die letztendlich zur weiteren Verrohung
statt zur Hilfe für die Kinder führt.
Dietmar
Krone spürte damals, dass die Erzieher keinerlei Richtlinie für die Erziehung
hatten und ganz und gar nach subjektivem Empfinden und Wutausbrüchen handelten.
Mehr noch. Er geißelt die Züchtigung der Kinder als Verbrechen gegen die
Menschlichkeit. Er bezichtigt jenen Lehrer der Verdummungsabsicht, der im
Religionsunterricht davon schwafelte, dass alle Kinder nach dem Sterben ins
Paradies kommen. (Das hätte er sich beizeiten gewünscht, um endlich nicht mehr
geschlagen zu werden und immer genug essen zu können, so der Autor.) Wörtlich
auf Seite 71: „Erstaunlich, wie man sich doch an alte Sitten und Bräuche hielt.
Sitte und Ordnung, statt Schuld und Verantwortung. Alle Erzieher hatten ihr
menschenverachtendes Wissen in der Zeit des Nationalsozialismus erlernt. Das
Gedankengut aus dieser Zeit steckte noch voll in ihren Köpfen.“
Sein
Fall sei kein Einzelfall, schreibt Krone. In den 50er und 60er Jahren habe es
in der Bundesrepublik nach Schätzungen eine halbe Million Heimkinder gegeben,
die unter ähnliche Bedingungen „erzogen“, drangsaliert und gedemütigt wurden.
Und heute? Die Kapital-Elite führt weiter kräftig Regie und kennt unter der
gegenwärtigen Krise immer weniger Pardon gegenüber den Armen, was der frisierte
Armutsbericht der Bundesregierung erneut beweist. Es bleibt kalt - für die
Hartz-IV-Empfänger, für alleinerziehende Mütter, Leiharbeiter und andere
Verlierer des Maximalprofitkarussels.
Mit
19 Jahren kommt Dietmar Krone in die Freiheit – ohne Netz und Boden. Er hat nicht schlechthin eine Autobiographie geschrieben – es ist eine
Anklageschrift. Authentischer geht es nicht.
Dietmar
Krone: Albtraum Erziehungsheim. Die Geschichte einer Jugend, Engelsdorfer
Verlag Leipzig, 2007, 145
Seiten, ISBN 978-3-86703-323-7, 10,00 EUR, Taschenbuch, Format: 19x12
Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
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