Freitag, 11. März 2022

NATO-Expansion? Niemals... RotFuchs

 

Entnommen: http://www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2022/RF-290-03-22.pdf


RotFuchs, März 2022


NATO-Expansion? Niemals …


Unmittelbar nach dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges wurden in den USA intensive Überlegungen angestellt, wie auf die neue Situation zu reagieren sei. Vor diesem Hintergrund gab der damalige USVerteidigungsminister Dick Cheney ein Papier in Auftrag, das die Ausarbeitung einer künftigen US-Globalstrategie zum Inhalt haben sollte. Unter Aufsicht seines Unterstaatssekretärs für Verteidigung, Paul Wolfowitz, wurde das Dokument dann von Lewis Libby und Zalmay Khalilzad verfaßt, alles Personen, die vor allem in der späteren Bush-Administration noch einmal führende Rollen einnehmen sollten.


Heraus kam mit dem „Defence Planning Guidance“ (auch: „No-Rivals-Plan“) ein Katalog von Maßnahmen, wie die US-Vorherrschaft in der Welt dauerhaft zu zementieren sei: „Unser erstes Ziel ist, den (Wieder-)Aufstieg eines neuen Rivalen zu verhüten, sei es auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion oder anderswo, der eine Bedrohung der Größenordnung darstellt, wie früher die Sowjetunion. Das ist die beherrschende Überlegung, die der neuen Verteidigungsstrategie für die Region zugrunde liegt. Wir müssen versuchen zu verhüten, daß irgendeine feindliche Macht eine Region dominiert, deren Ressourcen – unter gefestigter Kontrolle – ausreichen würden, eine Weltmachtposition zu schaffen. (Dies bedeutet) die hochentwickelten Industrieländer von jedem Versuch abzuhalten, unsere Führungsrolle in Frage zu stellen oder die bestehende politische und wirtschaftliche Ordnung umzustürzen (und) die Mechanismen aufrechtzuerhalten, um möglichen Konkurrenten alle Hoffnung auf eine größere regionale oder globale Rolle zu nehmen.“


Cheney stellte sich anschließend voll und ganz hinter die Thesen von Wolfowitz und Co. und bügelte einen deutlich moderateren Alternativentwurf des damaligen Generalstabschefs Colin Powell nieder. Seither gilt es als nahezu unbestritten, daß die Kernthesen des No-Rivals-Plans fortan die USamerikanische Politik bestimmten.


Folgerichtig wurde hieraus unter anderem eine Politik zur gezielten Einkreisung und Schwächung Rußlands abgeleitet, wie der private Nachrichtendienst „Strategie Forecast“ (Stratfor), dem beste Kontakte zur CIA nachgesagt werden, nüchtern konstatiert: „Nach dem Fall der Sowjetunion startete der Westen eine geopolitische Offensive in Rußlands Hinterhof und war dabei überaus erfolgreich.“


Als wesentliches Instrument dieser geopolitischen Offensive wurde die NATO auserkoren, was aber zwingend erforderte, die – als faktische Gegenleistung für die Beendigung des Kalten Krieges – dem damaligen sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow gegebene Zusage zu brechen, keine Erweiterung des Bündnisgebietes nach Osten vorzunehmen. Da es sich hierbei um einen der wichtigsten russischen Kritikpunkte handelt, sind die damaligen Vorgänge heute wieder Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen. Dabei wird teils mit allerlei spitzfindigen Argumentationsketten versucht, diesen eklatanten Vertrauensbruch vom Tisch zu wischen. Ausgangspunkt ist zunächst einmal folgendes, eigentlich nur schwer fälschlich zu interpretierendes Gespräch: „Als US-Außenminister James Baker bei KP-Generalsekretär Michail Gorbatschow am 8. Februar 1990 um dessen Zustimmung für den Verbleib des wiedervereinigten Deutschlands in der NATO warb, versicherte Baker, es werde ,keine Ausweitung der gegenwärtigen NATO-Jurisdiktion nach Osten geben‘. Gorbatschow setzte nach: ,Jede Erweiterung der Zone der NATO ist unakzeptabel.‘ Bakers Antwort: ,Ich stimme zu.‘“


Später argumentierte Baker, seine Sätze hätten sich lediglich auf das Gebiet der damaligen DDR bezogen, weshalb sie keine generelle Absage an eine Erweiterung der NATO gewesen seien. Das ist allerdings alles andere als glaubhaft, trat doch der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 2. Februar 1990 zusammen mit James Baker vor die Presse und beschrieb das Ergebnis ihres Gesprächs wie folgt: „Wir waren uns einig, daß nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in bezug auf die DDR (...), sondern das gilt ganz generell.“ Aus einem lange Zeit geheimen Aktenvermerk geht zudem hervor, daß dies auch genau die Aussage war, die in Gesprächen später im Februar 1990 der sowjetischen Seite übermittelt worden war: „Demnach sagte Genscher im Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse, ,der Bundesregierung sei bewußt, daß die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur NATO komplizierte Fragen aufwerfe‘. Für sie stehe aber fest: Die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen.“


Allerdings wurde das Thema dann in den weiteren Verhandlungen nicht mehr angesprochen, und es gab wohl tatsächlich danach keine formale Zusage mehr, das Bündnisgebiet nicht zu erweitern. Westlicherseits wird nun argumentiert, hierdurch seien auch die Aussagen aus dem Februar 1990 gegenstandslos geworden: „Niemals wird laut den Quellen in jener entscheidenden Verhandlungsphase aber die Nichterweiterung der NATO nach Osten erwähnt. Wenn Gorbatschow sich wirklich auf die Gespräche hierzu vom Februar verlassen hätte, dann hätte er das Thema in dieser Zeit noch einmal vorbringen müssen. Er tat es nicht. Im Juli 1990 willigte er in die Vollmitgliedschaft eines vereinten Deutschland in der NATO ein. Zweifellos kann dieses Versäumnis Gorbatschows als geopolitische Dummheit allerersten Ranges bezeichnet werden, und über die Gründe hierfür läßt sich nur spekulieren. Allerdings belegen Aussagen Gorbatschows, daß er augenscheinlich von der Gültigkeit der Zusagen ausging und die später einsetzende NATO-Realpolitik eindeutig als Bruch der damaligen Übereinkünfte bewertete: „Die Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten, die NATO nach Osten auszudehnen, wurde im Jahr 1993 gefällt. Ich habe dies von Anfang an als einen großen Fehler bezeichnet. Es war definitiv eine Verletzung des Geistes der Stellungnahmen und Versicherungen, die uns gegenüber 1990 gemacht wurden.“


Tatsächlich wurde die Idee, die NATO in Richtung des früheren „Ostblocks“ zu erweitern, schon 1993 vom damaligen deutschen Verteidigungsminister Volker Rühe in die Debatte eingespeist. Ein Jahr darauf hat man das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ aufgelegt, mit dem vor allem Länder des Warschauer Vertrages schrittweise an das Bündnis herangeführt werden sollten. Daraufhin wurden Polen, Ungarn und die Tschechische Republik im Jahr 1997 formell zum NATO-Beitritt eingeladen, der am 12. März 1999 offiziell erfolgte. Fast zeitgleich begann die NATO mit ihrem Angriffskrieg gegen Jugoslawien – ein drastischer Völkerrechtsbruch, da er ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates und damit am russischen Vetorecht vorbei durchgeführt wurde. Auch danach ging es Schlag auf Schlag weiter: Im November 2002 fiel die zwei Jahre später umgesetzte Entscheidung, weitere sieben Staaten, darunter Estland, Lettland und Litauen, auch ehemalige Unionsrepubliken der Sowjetunion, ins Bündnis aufzunehmen – und zwar obwohl Moskau dies stets als „rote Linie“ bezeichnet hatte, die keinesfalls überschritten werden dürfe. Mit großer Sorge beobachtet Moskau zudem seit langem die NATO-Raketenabwehrpläne, in denen es – nicht ohne Grund – einen gezielten Versuch sieht, das russische Zweitschlagpotential zu neutralisieren. Ab 2003 setzten dann noch die „bunten Revolutionen“ ein, bei denen in Moskaus unmittelbarer Nachbarschaft pro-russische durch pro-westliche Machthaber ersetzt wurden. Dazu gehörten insbesondere die vom Westen teils maßgeblich unterstützten Umstürze in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgisien (2005).


Zusammengenommen bildeten diese Maßnahmen eine kritische Masse, die zur Folge hatte, daß in Rußland ein grundlegender Kurswechsel eingeleitet wurde, um der als feindlich empfundenen NATO-Expansionspolitik eigene Schritte entgegenzusetzen. Jürgen Wagner


Redaktionell geringfügig bearbeitet


Aus: Jürgen Wagner, Expansion – Assoziation – Konfrontation: Europas Nachbarschaftspolitik, die Ukraine und der neue Kalte Krieg gegen Rußland

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