Entnommen: https://linkezeitung.de/2022/03/04/wie-die-aussenpolitische-zeitenwende-vorbereitet-wurde/
Wie die „außenpolitische
Zeitenwende“ vorbereitet wurde
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 4. MÄRZ 2022
von Johannes Stern – http://www.wsws.org
Am vergangenen Sonntag verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz
(SPD) im Bundestag eine gigantische Erhöhung des deutschen
Militärhaushalts. Das „Sondervermögen Bundeswehr“ in Höhe von
100 Milliarden, das er in Aussicht stellte, bedeutet zusammen mit den
bisher für 2022 veranschlagten 50 Milliarden eine Verdreifachung des
Militärhaushalts in diesem Jahr.
Auch danach sollen die
Ausgaben weiter steigen. „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr
als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung
investieren“, erklärte Scholz. Bezogen auf das BIP von 2021
bedeutet das eine Steigerung um 24 Milliarden Euro auf über 71
Milliarden. Das sind knapp 80 Milliarden US-Dollar.
Insgesamt
handelt es sich um die größte Aufrüstungsoffensive seit dem Ende
des Zweiten Weltkriegs, die Deutschland quasi über Nacht zur
stärksten Militärmacht in Europa macht. Zum Vergleich:
Großbritanniens Militärausgaben beliefen sich im vergangenen Jahr
laut dem Internationalen Institut für Strategische Studien (IISS)
auf 61,5 Milliarden US-Dollar, die von Russland auf 60,6 Mrd. Dollar
und die Frankreichs auf 55 Milliarden Dollar.
In der
Bundestagsdebatte rechtfertigten Scholz und andere Sprecher der
Regierung und Opposition diese „außenpolitische Zeitenwende“ mit
Putins Aggression gegen die Ukraine. Das ist nichts als verlogene
Propaganda.
Einem Bericht des Spiegel mit der Überschrift
„Die 100-Milliarden-Bazooka“ zufolge wurde das Aufrüstungspaket
bereits während der Koalitionsverhandlungen im vergangenen Oktober
geschnürt. „Die Idee wird im Verteidigungsministerium schon länger
diskutiert“, schreibt das Nachrichtenmagazin. „Schon vor Monaten
hatten die Militärplaner und die Haushälter des Ressorts eine Reihe
von vertraulichen Vorlagen ausgearbeitet, die an die Unterhändler
der Koalitionsverhandlungen weitergeleitet wurden.“
Der
russische Einmarsch in die Ukraine – der durch die
Nato-Kriegsoffensive regelrecht provoziert wurde – habe „jetzt
das Undenkbare denkbar gemacht“, berichtet der Spiegel. Um „ein
starkes sicherheitspolitisches Signal zu setzen“, habe „das
Kanzleramt die alten Vorlagen wieder hervorgeholt“, vor allem „ein
vertrauliches, sechsseitiges Argumentationspapier vom 26. Oktober“.
Bereits in diesem Papier sei es konkret um ein „Sondervermögen
Bundeswehr“ in Höhe von 102 Milliarden Euro gegangen. „Die
Militärplaner“ hätten auch bereits konkret gelistet, „wo das
Geld investiert werden sollte“.
Der Spiegel-Artikel gibt
einen Überblick über die geplanten Anschaffungen.
Etwa 34
Milliarden Euro sollen in „multinationale Rüstungsprojekte“
fließen. Dazu gehören das System „Twister“ zur Abwehr von
Hyperschallwaffen, eine „Combat Cloud“ und „strategischer
Lufttransport“. Hinzu kommen Megaprojekte wie das neue europäische
Luftkampfsystem Future Combat Air System – FCAS, der
deutsch-französische Kampfpanzers (Main Ground Combat System –
MGCS) und die Eurodrohne.
Außerdem sollen zusammen mit
Großbritannien neue Artilleriesysteme und Munition entwickelt
werden, mit den Niederlanden eine neue Fregatte und
Luftlandeplattformen und mit Norwegen neue U-Boot-Technik.
Der
überwiegende Teil des Sondervermögens (etwa 68 Milliarden Euro) ist
für „nationale Großprojekte“ vorgesehen. „Ganz oben auf der
Prioritätenliste“ stehe „die Nachfolge für den Uralt-Kampfjet
Tornado“. Die Kosten für die Anschaffung modernisierter
Eurofighter-Jets und US-amerikanischer F-35 würden dabei auf etwa 15
Milliarden Euro geschätzt.
Ungefähr fünf Milliarden seien
für den neuen Schweren Transporthubschrauber vorgesehen und 20
Milliarden Euro für neue Munition, um die Depots aufzufüllen. Im
Moment fehle es „überall an Raketen und Granaten für Panzer,
Schiffe oder Helikopter“. Ein „gewaltiger Posten“ sei auch die
„Digitalisierung landbasierter Operationen“, also v.a. die
Modernisierung der Kommunikationssysteme des Heers.
Weitere
Milliarden sollen in neue Korvetten fließen und in die
Modernisierung der „Patriot“-Luftabwehrsysteme. Und das seien
„noch längst nicht alle Projekte, die von den Militärplanern in
ihren Vorlagen aufgelistet wurden“, betont der Spiegel.
Das
massive Aufrüstungsprogramm ist eine Warnung an die deutsche und
internationale Arbeiterklasse. 77 Jahre nach dem Untergang des
Dritten Reichs lässt die herrschende Klasse die mit dem Holocaust
und dem Vernichtungskrieg gegen Sowjetunion die größten Verbrechen
der Menschheitsgeschichte begangenen hat, alle Beschränkungen fallen
und kehrt als militärische Großmacht zurück.
Die von Scholz
verkündete außenpolitische „Zeitenwende“ wurde in den letzten
Jahren akribisch vorbereitet. Die World Socialist Web Site und die
Sozialistische Gleichheitspartei haben diese Verschwörung der
herrschenden Klasse zur Rückkehr des deutschen Militarismus genau
dokumentiert und scharf verurteilt. Hier nur die wichtigsten Etappen
dieser gefährlichen Entwicklung.
Bereits 2013 arbeiteten über
50 führende Politiker aller Parteien, Journalisten, Akademiker,
Militärs und Wirtschaftsvertreter unter Federführung der
regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) unter dem
Titel „Neue Macht – Neue Verantwortung“ eine neue
außenpolitische Strategie aus. Sie kulminierte in der Forderung,
Deutschland müsse politisch und militärisch wieder eine globale
„Führungsrolle“ spielen, weil es als „Handels- und
Exportnation“ wie kaum ein anderes Land auf „die Nachfrage aus
anderen Märkten sowie Zugang zu internationalen Handelswegen und
Rohstoffen“ angewiesen sei.
Gestützt auf dieses
Strategiepapier verkündeten der damalige Bundespräsident Joachim
Gauck und führende Vertreter der Großen Koalition auf der Münchner
Sicherheitskonferenz 2014 offiziell das „Ende der militärischen
Zurückhaltung“. Deutschland sei „zu groß, um Weltpolitik nur
von der Außenlinie zu kommentieren“ und müsse „bereit sein,
sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und
substanzieller einzubringen“, erklärte der damalige Außenminister
und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD).
In
die Praxis umgesetzt wurde die Strategie erstmals in der Ukraine.
Zusammen mit den USA unterstützte Deutschland im Februar 2014 den
rechten Putsch in Kiew und paktierte mit faschistischen Parteien wie
Swoboda, um ein anti-russisches Regime an die Macht zu
bringen.
Schon damals warnte die SGP vor einer Eskalation des
Konflikts mit Russland. Im September 2014 verabschiedete eine
Sonderkonferenz der Partei eine Resolution gegen Krieg und die
Rückkehr des deutschen Militarismus, in der es heißt:
Eine
Clique von politischen Drahtziehern, Militärs, Journalisten mit
engen Verbindungen zu den Geheimdiensten und von anderen
Meinungsmachern manipuliert die Ereignisse und trifft Entscheidungen,
die die ganze Menschheit in ein Blutbad zu stürzen drohen…
Inzwischen ist ein atomarer Krieg mit Russland keine theoretische
Hypothese mehr, sondern eine reale Gefahr.
Die
Resolution wies auch darauf hin, dass die Rückkehr von Militarismus
und Nationalismus gerade auch in Deutschland angesichts der
historischen Erfahrungen auf überwältigende Opposition stößt.
Deshalb arbeite die herrschende Klasse daran, die Geschichte
umzuschreiben, um die Verbrechen des deutschen Imperialismus
reinzuwaschen. „Die Propagandisten an den Universitäten begnügen
sich nicht mit der Rehabilitation der Kriegspolitik des Kaiserreichs,
sie versuchen, auch Hitlers Ruf wieder herzustellen.“
Seither
wurde die Kampagne für die Rückkehr des deutschen Militarismus
systematisch vorangetrieben. Der Militärhaushalt stieg bereits in
den letzten acht Jahren von etwa 32 Milliarden Euro auf fast 50
Milliarden. Die internationalen Kriegseinsätze der Bundeswehr wurden
mit den Missionen in Mali und im Nahen und Mittleren Osten massiv
ausgeweitet und auch bei der Nato-Aufrüstung gegen Russland übernahm
Deutschland – allen voran mit der Entsendung einer Battlegroup nach
Litauen – eine führende Rolle.
Seit dem ersten Golfkrieg
1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg.
Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des
US- und des Weltimperialismus analysiert David North die
Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30
Jahre.
ZUM BUCH
Gleichzeitig wurden im
Verteidigungsministerium Papiere ausgearbeitet, die ganz offen
erklären, dass Deutschland wieder in der Lage sein muss, große
Kriege für seine wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen zu
führen, und dafür auch die notwendigen Fähigkeiten braucht. „Ziel
ist es, die Bundeswehr auf bekannte und auf neue Herausforderungen,
Risiken und Bedrohungen im gesamten Aufgaben- und Intensitätsspektrum
vorzubereiten“, heißt es etwa in der 2018 verabschiedeten
„Konzeption der Bundeswehr“.
Sie
[die Bundeswehr] muss über Kräfte und Mittel verfügen, die nach
kurzer Vorbereitung an den Grenzen oder jenseits des Bündnisgebiets
einsetzbar sind. Das schließt Fähigkeiten zur strategischen
Verlegung ein… Die kollektive Verteidigung im Bündnisrahmen kann
von kleineren Einsätzen bis hin zum anspruchsvollsten Einsatz im
Rahmen einer sehr großen Operation innerhalb und am Rande des
Bündnisgebietes reichen.
Im Moment
richtet sich die deutsche Kriegsoffensive gegen Russland. Nach einem
ersten Zögern steht Deutschland an der Spitze der militärischen
Unterstützung für die Ukraine. Erst gestern verkündete die
Bundesregierung die Lieferung von 2700 Boden-Luft-Raketen vom Typ
„Strela“ an Kiew. Am Samstag hatte die Regierung bereits die
Lieferung von 1000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen
vom Typ „Stinger“ genehmigt.
„Deutschland hat mit
Waffenlieferungen an die Ukraine einen großen Schritt gemacht und
mit manchen alten Gewissheiten gebrochen“, frohlockte Steinmeier
gestern bei einem Besuch der deutschen Truppen in Litauen. Der
Präsident pries die „deutliche Steigerung“ des
Verteidigungshaushalts und drohte Russland unverhohlen mit einer
langen militärischen Konfrontation. Nichts deute im Moment „auf
ein baldiges Ende des Krieges hin. Wir werden einen langen Atem
brauchen, und wir werden ihn haben.“
Bezeichnenderweise wird
die Kriegsoffensive, die zunehmend entlang ähnlicher Linien verläuft
wie 1914 und 1941, von den nominell „linken“ Bundestagsparteien
vorangetrieben. Die SPD führt die Regierung und das
Verteidigungsministerium und die Grünen das Außen- und
Wirtschaftsministerium. Und auch die Linkspartei ist voll an Bord.
Führende Parteivertreter unterstützen die Sanktionen gegen Russland
und Waffenlieferungen an die Ukraine und verlangen sogar die
Wiedereinführung der Wehrpflicht.
Es besteht kein Zweifel
daran, dass die Rückkehr Deutschlands als hochgerüstete, aggressive
Militärmacht auch die Spannungen zwischen den europäischen Mächten
und zwischen Deutschland und den USA verschärfen wird. Der
Vorsitzende der internationalen Redaktion der World Socialist Web
Site David North schrieb am 1. März auf Twitter:
Deutschland,
das bereits die dominierende Wirtschaftsmacht in der EU ist, wird nun
auf dem Weg sein, die dominierende Militärmacht in West- und
Mitteleuropa zu werden. Das sind keine guten Nachrichten für
Frankreich, und wahrscheinlich versucht Macron deshalb, seine
Kontakte zu Putin offen zu halten.
Es sei daran erinnert, dass
Großbritannien und Frankreich 1989 erbittert gegen die
Wiedervereinigung Deutschlands waren. Obwohl sie sich nicht trauten,
dies öffentlich zu sagen, fürchteten Premierministerin Thatcher und
Präsident Mitterrand, dass ein wiedervereinigtes Deutschland
unkontrollierbar sein würde.
Und
weiter:
Auch wenn sich die Kräfte des
Nato-Bündnisses derzeit gegen Russland richten, birgt es doch
explosive Widersprüche in sich. Der Krieg in der Ukraine markiert
den endgültigen und entscheidenden Zusammenbruch der gesamten
Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Welt ist mit einem
vulkanischen Ausbruch imperialistischer Gewalt konfrontiert. Die
Katastrophe kann nur durch die Ausweitung des internationalen
Klassenkampfes vermieden werden, der auf die Eroberung der Macht
durch die Arbeiterklasse und die Errichtung des Weltsozialismus
gerichtet
ist.
https://www.wsws.org/de/articles/2022/03/04/bund-m04.html
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen