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Im Wartestand
In welchem Verhältnis steht der deutsche Imperialismus zu dem der USA? Diese Frage wurde in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder von Kommunisten, Sozialisten und anderen Linken diskutiert. Manche neigten und neigen zu der Auffassung, es handle sich beim ursprünglich westdeutschen Staat um einen bloßen Vasallen der USA. Andere heben hervor, daß das deutsche Großkapital stark genug ist, um eigene Interessen auch gegenüber der Führungsmacht durchzusetzen, Beispiel das Gas- und Röhrengeschäft plus Ostverträge in den 70er Jahren. Die deutsche Teilnahme an den endlosen US-Kriegen seit 1990 machte immer wieder eigene Expansionspläne sichtbar. Gilt also Karl Liebknechts Losung „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“? Daran sollte kein Zweifel bestehen. Zumal der relative Verfall der US-Vorherrschaft in deutschen Führungsstäben selbstverständlich genau registriert wird.
Gegenwärtig scheint die Lage aber eindeutig: Die BRD unterwirft sich scheinbar bedingungslos dem Kriegskurs der USA gegen Rußland. Das begann Mitte der 90er Jahre mit der Entscheidung, die NATO entgegen allen Absprachen bis an die Grenzen Rußlands auszudehnen. Auf eine deutsche Abweichung dabei machte am 16. September „Der Spiegel“ aufmerksam: Angela Merkel (wie mit ihr mehrere andere westeuropäische Staats- und Regierungschefs) lehnte auf dem NATO-Gipfel im April 2008 den Vorschlag des damaligen US-Präsidenten George W. Bush ab, die Ukraine und Georgien in den Pakt aufzunehmen. Die reaktionären Regierungen Osteuropas schäumten vor Wut. Im April 2022 schließlich trat der in Kiew regierende Präsident Wladimir Selenski vor die Presse und machte Merkel wegen der „Fehlkalkulation“ von 2008 für angebliche russische Kriegsverbrechen verantwortlich.
Genützt hat dem Schauspieler die Show nichts. Als er beim diesjährigen NATO-Gipfel in Vilnius die Ukraine-Mitgliedschaft durch Erpressung des US-Präsidenten Joseph Biden durchsetzen wollte, wurde es sogar dem zu bunt. Es blieb im wesentlichen bei dem Beschluß von 2008. Eine ähnlich feste Position wie Merkel vor 15 Jahren mußte ihr Nachfolger Olaf Scholz nicht zeigen. Er steht nach außen rückhaltlos zu Washington. Also Vasall? Die Schlußfolgerung greift zu kurz. Es mehren sich die Anzeichen, daß zumindest die „konzeptiven Ideologen“ (Karl Marx) des deutschen Imperialismus angesichts des Aufstiegs Chinas zur ökonomischen Weltmacht und der ablehnenden Reaktion des globalen Südens auf den Krieg des Westens gegen Rußland nachdenklich werden. In den Schlagzeilen der sogenannten Leitmedien spiegelt sich das nicht wieder. Dort bestimmen die Regeln der Kriegspropaganda das Geschehen.
Ein Beispiel für einen Hauch von Realismus ist dagegen das Buch des früheren stellvertretenden „Zeit“-Chefredakteurs Matthias Naß „Kollision. China, die USA und der Kampf um die weltpolitische Vorherrschaft“. Der Autor erwähnt darin, daß die Volksrepublik seit Ende der 70er Jahre ihr Bruttoinlandsprodukt um das 43fache erhöht hat und nennt das „eine schier unfaßbare Leistung“. Seine Prognose lautet, einstweilen bleibe China zwar „die Nummer zwei der Weltwirtschaft“, um dann zu einer Gleichsetzung von China und den USA zu kommen: In der Welt, „wie sie ist“, gehe es „um einen ideologisch aufgeladenen Machtkampf, um Einflußsphären, letztlich um die Frage, wer als Nummer eins unter den Nationen künftig den Ton angibt“. Im Klartext: Die USA sind eine ebenso große Gefahr für den Weltfrieden wie China. Das ist noch nicht die Sicht Emmanuel Macrons, der beim China-Besuch Kriegstreiberei allein bei den USA sah, aber etwas anderes als die „China-Strategie“ von Baerbock und Scholz.
Macrons Äußerung wurde mit einem Aufschrei beantwortet, das Buch eines Journalisten geht unter. Allerdings ist seine Sicht für eine BRD, die von Scholz und Baerbock repräsentiert wird, etwas Neues und Naß nicht irgendwer. Offenbar werden aus der brandgefährlichen Situation in der Welt schon weitere Schlußfolgerungen gezogen. Vor wenigen Tagen erschien das Buch des früheren Chefs der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und jetzigen Mitarbeiters im Verteidigungsministerium Karl-Heinz Kamp mit dem vielsagenden Titel: „Deutschlands nukleare Interessen nach dem Ukraine-Krieg“. Soviel läßt sich sagen: Der deutsche Imperialismus ist im Wartestand und bereitet sich auf mehr Eigenständigkeit vor. Arnold Schölzel
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