Auf dem Weg in die Meinungsdiktatur
Das Verbot von Demonstrationen für die Sache der Palästinenser ist ein Alarmzeichen für die Demokratie
Arn Strohmeyer
Deutschland befindet sich auf dem Weg in die Meinungsdiktatur oder ist sogar schon mittendrin. Es darf in diesem Staat in schwierigen bzw. brisanten politischen Fragen nur noch eine Meinung geben und das ist die der Herrschenden. Artikel 5 des Grundgesetztes, der die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit garantiert, scheint nicht mehr zu gelten. Die staatlich verordneten Maßnahmen gegen die Corona-Epidemie hatten es schon gezeigt: Wer sich gegen sie aussprach, wurde gleich zum „Verschwörungstheoretiker“, wenn nicht zum „Staatsfeind“ erklärt.
Die Dämonisierung fand ihre Fortsetzung bei Leuten, die sich mit der staatlichen Erklärung der Ursachen des Ukraine-Krieges nicht zufriedengaben und auf die wirkliche Entstehungsgeschichte dieses Krieges hinwiesen, das heißt, auch auf die westlichen Anteile daran und Verhandlungen statt immer neue Waffenlieferungen forderten. Bundeskanzler Scholz nannte solche friedlichen Demonstranten „gefallene Engel aus der Hölle“, was alles über sein Verhältnis zur Meinungsfreiheit aussagt.
Und jetzt der neue Nahost-Krieg, ausgelöst durch die Attacke der Hamas auf Israel. Niemand, der seine Sinne noch beisammenhat und noch über einen Funken Menschlichkeit in sich verfügt, wird eine solche Gewalttat gutheißen. Aber auch hier muss die Frage nach den Ursachen dieser Gewalttat gestellt werden dürfen. Es muss auch erlaubt sein darauf hinzuweisen, dass dieser schreckliche Angriff sehr viele Vorläufer auf israelischer Seite hat. Palästinensische Menschenleben haben für die Zionisten nie den geringsten Wert gehabt. Die Massaker der Israelis an Palästinensern sind Legion. Dass sich da unendlich viel Wut, Hass und Verzweiflung aufgestaut haben, darf nicht verwundern.
Zur Auffrischung des Gedächtnisses sei an einige Untaten der Zionisten erinnert: etwa an die Nakba 1948, der Vertreibung von 800 000 Palästinensern aus ihrer Heimat, die nur mit gleichzeitigen schrecklichen Massakern möglich war. Der Führer der zionistischen Terrorgruppe Irgun und spätere Ministerpräsident Israels Menachem Begin hat sich später gerühmt, dass es ohne das Massaker von Deir Jassin (einem Dorf bei Jerusalem) im April 1948 keinen Staat Israel geben würde. 1982 schlachteten die libanesischen Falangisten unter Anleitung der israelischen Armee Tausende von Palästinensern im Beiruter Flüchtlingslager Sabra und Schatila ab. Israels Kriege im Gazastreifen haben (den jetzigen mitgerechnet) über 8000 Palästinensern das Leben gekostet. Die Toten, die es täglich durch das brutale Vorgehen der Siedler und der Armee im Westjordanland gibt, gehören auch mit in diese Bilanz des Schreckens genauso wie die seit 16 Jahren bestehende totale Wegsperrung der Bewohner des Gazastreifens hinter Mauern und Zäunen mit ihren furchtbaren Folgen.
Es geht nicht um „Relativierung“ oder Verharmlosung palästinensischer Gewalt, aber man muss anlässlich der israelischen Racheangriffe auf den Gazastreifen registrieren können, dass Israel nicht das unschuldige Opfer des palästinensischen „Terrors“ ist, sondern dass die Gewalt das Kernelement der siedlerkolonialistischen Politik Israels ist, um die zionistische Utopie zu realisieren: den ethnisch homogenen jüdischen Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer. Juden können eben auch Täter sein, der Palästina-Konflikt hat es hinlänglich bewiesen.
Die israelische Historikerin Esther Benbassa, die an der Sorbonne in Paris lehrt, stellte nach den furchtbaren israelischen Angriffen auf den Gazastreifen 2008 ihr Jude-Sein in Frage. Sie schrieb: „Die entsetzliche Erfahrung des Holocaust trug wohl dazu bei, die Juden der Welt zu ‚entfremden‘. Aber wenn die beständige Erinnerung an das, was Menschen einander antun können, gerade nach dem Holocaust wichtig und von hohem ethischem Wert ist, kann Israel dann ein so inhumanes Verhalten an den Tag legen? Und kann das jüdische Schweigen denn auf ewige Zeiten zudecken, was Israel den Palästinensern antut? Ein entehrendes Schweigen, das im Grunde Verrat übt am Wesen dessen, was Jude-Sein bisher bedeutete. Man wird einwenden, dass es hier um Staatsräson geht, aber welche Staatsräson könnte, von einem wahrhaft jüdischen Standpunkt aus gesehen, einen höheren Stellenwert haben als Ethik? Wir haben jegliches Empfinden für den Anderen, jegliches Erbarmen („Rachmanut“) verloren, und nichts hindert uns nun daran, zu tun, was nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.“
Esther Ben Bass würde diese Sätze angesichts des neuen israelischen Rachefeldzuges, der auch schon wieder Tausende Tote gekostet hat, sicher wiederholen. Und sie würde der israelischen Journalistin Amira Hass sicher Recht geben, die nach dem Anschlag der Hamas schrieb: „In wenigen Tagen erlebten die Israelis das, was die Palästinenser seit Jahrzehnten routinemäßig erleben und immer noch erleben – militärische Übergriffe, Tod, Grausamkeit, getötete Kinder, auf der Straße aufgetürmte Leichen, Belagerung, Angst, Sorge um Angehörige, Gefangenschaft, Ziel von Rache sein, wahlloses tödliches Feuer auf Beteiligte (Soldaten) und Unbeteiligte (Zivilisten), eine Position der Unterlegenheit, die Zerstörung von, Häusern, ruinierte Feiertage oder Feste, Schwäche und Hilflosigkeit angesichts allmächtiger bewaffneter Männer und tiefe Demütigung.“
Amira Hass schließt diese Aussage so: „Deshalb muss noch einmal gesagt werden: Wir haben es euch gesagt. Permanente Unterdrückung und Ungerechtigkeit explodieren unerwartet und an unerwarteten Orten. Blutvergießen kennt keine Grenzen.“ Diese Sätze einer mutigen Israelin, die sich nicht scheut, auch die israelische Verantwortung für die Hamas-Attacke beim Namen zu nennen, entlarven das deutsche Beklagen nur der israelischen Opfer („Wir sind alle Israelis!“) als pure Heuchelei. Palästinensische Tote zählen eben nicht.
Angesichts solcher elementaren politischen Gegensätze muss es in einer Demokratie möglich sein, die Argumente beider Seiten vorzubringen und auszutauschen. Die Palästinenser haben durch die zionistische Gewalt, die ihnen ihr Land und ihr Existenzrecht, ihre Würde und ihr Recht auf Selbstbestimmung geraubt hat, ihr eigenes Narrativ entwickelt, und es hat dieselbe Berechtigung vorgebracht zu werden wie das der Gegenseite, das in Deutschland leider Monopolcharakter besitzt. Dass die deutsche Politik dem nur den Antisemitismus-Vorwurf entgegensetzen kann, ist eine Bankrotterklärung.
Die aus dem Holocaust resultierende moralische Verantwortung muss universalistisch sein und hat für alle Menschen ohne Ausnahme zu gelten. Deshalb ist der Satz „Wir sind alle Israelis!“ so grundfalsch, er müsste heißen: „Wir sind alle Menschen, die sich der Freiheit, Gleichheit und dem Frieden verpflichtet haben, aber eben aller Menschen!“ Jede andere Ideologie, die sich einem solchen Ethos nicht verpflichtet fühlt, hat nichts mit Humanität zu tun.
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