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Olaf Scholz: Marx hat nur „Quatsch“ hinterlassen
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 30. JUNI 2023 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
von Andreas Wehr – http://www.andreas-wehr.eu
Der Anteil der SPD am Aufstieg der Rechten
Der Schock saß tief: Anfang Juni 2023 meldeten die Medien einen
Gleichstand bei Meinungsumfragen zwischen der SPD und der „Alternative
für Deutschland (AfD)“: „Zum ersten Mal würden laut Umfragen ebenso
viele Menschen die AfD wählen wie die SPD. (…) Die AfD hat in den
Umfragen ein neues Allzeithoch erreicht und liegt nun gleichauf mit der
SPD. Erstmals kam die Partei im Sonntagstrend des Instituts Insa für die
Bild am Sonntag auf einen Wert von 19 Prozent. Das waren zehn
Prozentpunkte mehr als vor einem Jahr, und es ist der höchste Wert, den
ein Meinungsforschungsinstitut bislang für die AfD gemessen hat. Die SPD
kam ebenfalls auf 19 Prozent.“ Zeit-online vom 04.06.2023
Überraschend kam dies nicht. In Ostdeutschland hatte die AfD die SPD
bereits Anfang 2023 hinter sich gelassen: „Die AfD ist Umfragen zufolge
in den ostdeutschen Bundesländern stärkste Partei.“ Im Osten der
Republik kommt die Partei ohne Berlin inzwischen auf 26 Prozent. Damit
liegt die AfD deutlich vor der Union, die auf 23 Prozent kommt. (…) Die
SPD liegt demnach bei 20 Prozent, die Grünen erreichen zehn Prozent und
die FDP acht Prozent. Die Linke kommt im Osten auf neun Prozent.“
Welt-online vom 07.05.2023 Bei der Bundestagswahl im September 2021
hatte die SPD mit einem Anteil von 25,7 Prozent noch einen Vorsprung vor
der AfD von gut 15 Punkten. In den westlichen Bundesländern ist die
Partei nicht so stark. Doch in dem industriepolitisch und damit vom
traditionellen Klassenkonflikt geprägten Nordrhein-Westfalen erreichte
sie nach einer Umfrage von Mitte Juni 2023 bereits 15 Prozent.
Die SPD verliert aber nicht nur in Umfragen. Bei der Wiederholungswahl
für das Berliner Abgeordnetenhaus am 12. Februar 2023 stürzte sie auf
den historisch niedrigsten Stand von 18 Prozent – was Gleichstand mit
den Grünen und einen Rückstand zur CDU von 10 Prozent bedeutete. In
keinem der 12 Berliner Bezirke ist die SPD heute noch stärkste Partei!
Die Stadtbezirke Pankow, Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg gingen an
die Grünen, die übrigen neun an die CDU. Und selbst die AfD konnte in
Marzahn-Hellersdorf zwei Abgeordnetenhaus-Wahlkreise gewinnen – dort, wo
einst DIE LINKE absolute Mehrheiten holte. Dennoch blieben die
Sozialdemokraten in Berlin Regierungspartei, doch statt wie bisher in
einem Rot-Rot-Grünen Bündnis nun als Juniorpartner der CDU. Die Inhalte
scheinen dabei egal zu sein. Was zählt ist allein die Möglichkeit weiter
Senatoren und Staatssekretäre stellen zu können.
Der Abstieg der SPD
An die Wahlniederlagen scheint sich die SPD mittlerweile gewöhnt zu
haben. Zwar gibt es auch immer wieder mal Zugewinne in Kommunen und
selbst in manch einem Bundesland, doch der allgemeine Trend zeigt nach
unten. Auch der Erfolg bei der Bundestagswahl am 26. September 2021
stellte nur ein kurzlebiges Zwischenhoch dar. Nach einem professionell
geführten Wahlkampf und mit viel Glück – Angela Merkel trat nicht noch
einmal an, CDU und CSU hatten sich über die Kanzlerkandidatur
zerstritten und der Unionskandidat Armin Laschet versagte im Wahlkampf –
gewann die SPD die Bundestagswahlen, allerdings mit dem schwachen
Ergebnis von 25,7 Prozent. Das entsprach fast genau dem von 2013, das
aber seinerzeit als überaus enttäuschend bewertet worden war. 2021
hingegen galt es als großartiger Erfolg. Doch nur wenige Wochen nach der
Bundestagswahl fielen die Sozialdemokraten wieder auf ihren alten Wert
von etwa 20 Prozent zurück.
Der stetige Niedergang der SPD zeigt sich auch in der Zahl ihrer
Mitglieder. Die Genossinnen und Genossen werden immer weniger. In der
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) konnte man hierzu lesen: „Entgegen
Behauptungen der Partei während der Wahlkampagne (zur
Bundestagswahl 2021, A.W.) ist die Zahl der eingeschriebenen
Sozialdemokraten unter die symbolisch wichtige Marke von 400.000
gefallen. Aktuellen Angaben des Willy-Brandt-Hauses zufolge haben
im letzten Jahr der Amtszeit von Generalsekretär Lars Klingbeil
mehr als 22.000 Mitglieder die Partei verlassen. (…) Der abermalige
Verlust von etwa fünf Prozent der Mitgliedschaft konnte durch den
Wahlerfolg nicht ausgeglichen werden. Bewegt von diesem Comeback
traten der Partei im September zwar mehr Neumitglieder bei als in
allen anderen Monaten des Jahres. Die Zahl für das ganze Jahr war mit,
12.266, war allerdings unerwartet niedrig. Rechnet man Ein- und
Austritte zusammen, hatte die SPD zum 31. Dezember 2021 noch 393.727
Mitglieder. Ein Jahr zuvor waren es 404.300 gewesen, Anfang 2018 noch
463.700.“ (FAZ vom 17.01.2022) Neuere Zahlen wurden seitdem nicht
veröffentlicht. Das Willy-Brandt-Haus hält sich hier äußerst bedeckt,
was vermuten lässt, dass der Abwärtstrend anhält.
Das Ende der sozialdemokratischen Entspannungspolitik
Mit Olaf Scholz verkündete ausgerechnet ein sozialdemokratischer
Bundeskanzler am 27. Februar 2022 das größte Aufrüstungsprogramm in der
Geschichte der Bundesrepublik. Und es soll nicht nur 100 Milliarden Euro
extra für die Bundeswehr geben, künftig sollen auch zwei Prozent und
mehr des Bruttosozialprodukts für Rüstung ausgegeben werden. Eine
Forderung der NATO gegen die sich die SPD lange Zeit gewehrt hatte.
Die radikale Kehrtwende der SPD in der Verteidigungspolitik wird
begleitet von einer Abkehr der Sozialdemokratie von ihrer traditionellen
Politik der Entspannung gegenüber Russland. Laut FAZ vom 20. Oktober
2022 erklärte der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil: „Die Aussage, dass es
Sicherheit und Stabilität in Europa nicht gegen, sondern nur mit
Russland geben könne, habe keinen Bestand mehr. In dem geltenden
Grundsatzprogramm der Partei aus dem Jahr 2007 wird hingegen die
strategische Partnerschaft mit Russland als ‘unverzichtbar’ für
Deutschland und die Europäische Union bezeichnet. Doch das soll sich nun
ändern: Die SPD will ihre Grundsätze in der Außen- und
Sicherheitspolitik auf dem Parteitag Ende 2023 neu formulieren.“ Seit
selbst die Jungsozialisten auf diesen neuen Kurs eingeschwenkt sind, ist
innerparteilicher Widerstand dagegen nicht zu erwarten. Nach dem von
Gerhard Schröder durchgesetzten sozialpolitischem Kahlschlag durch Hartz
IV und der Erhöhung des Renteneintrittsalters liquidiert die SPD nun –
unter Schröders früherem Generalsekretär Olaf Scholz – mit der
Friedenspolitik die zweite Säule sozialdemokratischer Identität.
Die Zerstörung der Wurzeln der Partei
Doch Scholz will es nicht dabei belassen. Nun geht er daran auch die
weltanschaulichen Wurzeln der Sozialdemokratie auszureißen. Auf dem
Festival der philosophischen Literatur, der Phil. Cologne im Juni 2023,
bezog er sich bei der Antwort auf die Frage „Wo geht’s hier nach links?“
auf Karl Marx: Dieser „habe ‘mit seinen ganzen Sachen’ am Ende nur
‘Quatsch’ hinterlassen, das unmögliche Ideal eines paradiesischen Lebens
vollkommen freier Wahl unter den Mitteln der Bedürfnisbefriedigung“.
(FAZ vom 15.06.2023) Diese vulgäre Sprache führt mit Scholz ausgerechnet
jemand, der in seiner Zeit als Jungsozialist 1980 die „Herforder Thesen
– Zur Arbeit von Marxisten in der SPD“ mit verfasst hat. Doch darüber
könnte man hinwegsehen, hat sich bekanntlich nicht nur er nach 1989 dem
neuen Zeitgeist angepasst. Doch hier geht es um mehr: Die
Sozialdemokratie entstand historisch im europäischen Parteiensystem des
19. Jahrhundert als neue, dritte Kraft in radikaler Entgegensetzung
sowohl zu den die adligen Privilegien der Stände verteidigenden
Konservativen als auch gegenüber den dem freien, ungezügelten Markt
huldigenden Liberalen. Die ideologische Waffe dieser neuen Kraft war die
marxistische Weltanschauung, ihr verdankte die SPD ihren Aufstieg zur
stärksten Partei Deutschlands. Nur so war es ihr möglich, das politische
Leben nachhaltig zu prägen. Sie baute zwar nicht den Sozialismus auf,
konnte aber immerhin die Grundlagen für den heutigen Sozialstaat legen.
Selbst am Ende ihres langen Abschieds vom Marxismus als Theorie der
Partei verleugnete sie nicht ihre geistigen Wurzeln. So zitierte noch
1959 der damalige Parteivorsitzende Erich Ollenhauer bei der Begründung
des Godesberger Programms Kurt Schumacher: „Es ist gleichgültig, ob
jemand durch die Methoden marxistischer Wirtschaftsanalysen, ob er aus
philosophischen oder ethischen Gründen oder ob er aus dem Geist der
Bergpredigt Sozialdemokrat geworden ist. Jeder hat für die Behauptung
seiner geistigen Persönlichkeit und für die Begründung seiner Motive das
gleiche Recht in der Partei.“ [1] Nun ist also für Scholz, der einst
als Jungsozialist das Godesberger Programm von links her angriff, das
von Marx Gesagte nur noch „Quatsch“.
Das so von ihm Denunzierte hat seinen klassischen Ausdruck in dem
großartigen Satz des Kommunistischen Manifestes von Karl Marx und
Friedrich Engels gefunden: „An die Stelle der alten bürgerlichen
Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine
Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für
die Befreiung aller ist.“ [2] Was bedeutet, dass erst dann alle wirklich
frei sind, wenn ein jeder – also auch das letzte Mitglied der
Gesellschaft – frei ist. Ein wunderbares Versprechen der Solidarität
sowohl für national verfasste Gesellschaften wie gegenüber der gesamten
Menschheit! Zwar kann dieses Versprechen heute auch nur annähernd
realisiert werden, doch mit diesem wird dem Geschichtsprozess ein
klares, der humanen Entwicklung entsprechendes Ziel gegeben. Die
trostlose Alternative dazu ist der dem Liberalismus eigene bellum omnium
contra omnes – der ewige „Krieg aller gegen alle“.
Wenn die deutsche Sozialdemokratie aber ihre weltanschauliche
Orientierung endgültig aufgibt, sinkt sie zu einer beliebigen Partei
herab. Auf dem Weg von der Klassen- zur Volkspartei und schließlich zur
Allerweltspartei wäre sie an ihrem Ende angekommen. Dann würde sie auch
als Organisation verschwinden. Sie wird nicht mehr gebraucht. In einigen
europäischen Ländern ist es bereits so weit: In Polen, Ungarn, der
Slowakei, in Tschechien und anderswo fehlt bereits die Linke. Dort
bestimmen nur noch neoliberale bzw. reaktionär-konservative Kräfte das
politische Geschehen. In Italien dominiert bereits die radikale Rechte.
Und Frankreich bewegt sich ebenfalls in diese Richtung.
Der Ausfall der politischen Linken führt auch in Deutschland zunehmend
zu Verwirrung und Heimatlosigkeit der sozial Entrechteten und
Diskriminierten. Sie verfallen in politische Apathie oder werden zur
leichten Beute einer sozialdarwinistischen libertären Rechten. In
Deutschland besetzt dieses Feld immer geschickter die AfD. Ihr Aufstieg
wäre aber undenkbar ohne das historische Versagen der Sozialdemokratie.
[1] Protokoll der Verhandlungen des Außerordentlichen Parteitages der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 13. – 15. November 1959 in
Bad Godesberg, S. 59
[2] Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Marx-Engels Werke (MEW), Band 4, Berlin 1983, S. 482
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