Freitag, 23. Juni 2023

Charakter des Krieges - Analysen aus marxistischer Sicht - Bettina Jürgensen, marxistische linke

 Entnommen: https://www.kommunisten.de/marx-linke/marxistische-linke-ev/8864-ratschlag-marxistische-politik-charakter-des-krieges-in-und-um-die-ukraine-analysen-aus-marxistischer-sicht


Ratschlag marxistische Politik : Charakter des Krieges in und um die Ukraine – Analysen aus marxistischer Sicht

23. JUNI 2023
MARXISTISCHE LINKE - PARTNERIN DER EUROPÄISCHEN LINKEN
23.06.2023: Heinz Bierbaum, Frank Deppe, Bettina Jürgensen, Ingar Solty und Heinz Stehr hatten für den 17. Juni zum zweiten Ratschlag "marxistische Politik" eingeladen. Etwa 60 Marxist*innen aus verschiedenen politischen Zusammenhängen waren der Einladung in das Frankfurter Haus von medico international gefolgt und diskutierten über den Krieg in und um die Ukraine, seine Auswirkungen auf gesellschaftliche Entwicklungen und über die Machtverhältnisse im heutigen Russland.


Ausgangspunkt der Debatte war die Feststellung aus der Einladung, dass sich der Ukraine-Krieg zu einem Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der NATO und zu einem Weltordnungskrieg ausgeweitet hat. Ein langer Abnutzungskrieg droht, der nicht nur zu hohen Verlusten an Menschenleben sondern auch zu gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen führt.

In zwei Referaten wurden aktuelle Aussagen als Diskussionsgrundlage gegeben.

Ingar Solty, Referent für Friedens-, Außen- und Sicherheitspolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, nahm, aufgrund einer kurzfristigen Konferenzteilnahme in Rom, digital am Ratschlag teil und stellte "Eckpunkte einer marxistischen Analyse des Charakter des Krieges“ vor.

Ditte Gerns, Politologin, Historikerin mit früheren Arbeiten zur Entwicklung Russlands und der Sowjetunion, heute im gewerkschaftlichen ver.di-Arbeitskreis Frieden in Hamburg aktiv, legte ihre Kenntnisse "Zu Machtverhältnissen im heutigen Russland“ dar.

Weltordnungskrieg

Ingar Solty machte deutlich, dass es nicht neu ist, dass Kriege zu Spaltungen innerhalb von Linken führen. Er verwies dabei u.a. auf die Entwicklung des ersten Weltkriegs, als die Entscheidung für oder gegen Kriegskredite stand. Der Ukraine-Krieg verstärkt momentan diese spaltenden Debatten. Einerseits gibt es den zu verurteilenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Zunehmend wird jedoch auch das Bild von "David und Goliath“ gezeichnet und damit die Rolle des Stellvertreterkriegs argumentiert - die schwache kleine Ukraine und das große mächtige Russland.

Die Diskussion in linken Kreisen wird auch inhaltlich davon beeinflusst, dass in den letzten Jahren stärker innenpolitische Themen und Probleme für Linke in vielen Ländern eine Rolle spielten. Außenpolitische Fragen wurden nur sehr marginal wahrgenommen oder bezogen sich nur auf wenige Bereiche, wie globaler Klimawandel und Flucht.

Die Vorgeschichte des Krieges, der nicht erst 2014 begann, ist eine unbequeme Wahrheit, so Solty, die viele nicht kennen und nicht kennen wollen.

Die Tatsache des Angriffskriegs von Russland gegen die Ukraine, aber auch der immer mehr von der Ukraine geführte Stellvertreterkrieg als Abwehr gegen Russland beinhaltet Eskalationspotenzial nach Innen und nach Außen. Die Zerstörung der Infrastruktur in der Ukraine, aber auch die Stationierung von Atomwaffen in Belarus sind Anzeichen dafür.

Wenn der Krieg weiter geht, sterben mit jedem Tag Soldat*innen und Zivilist*innen. Mit den Waffenlieferungen an die Ukraine ist bereits eingebaut, dass bei noch mehr Toten in der Ukraine auch die NATO mit Soldat*innen in diesen Krieg eingreift.

Ingar Solty zeigte auch die unterschiedlichen Interessen von Staaten und Wirtschaft am oder gegen den Krieg auf. Die USA möchte in erster Linie Russland schwächen. Dafür muss die USA jedoch auch auf andere Staaten einwirken und diese auf ihre Seite ziehen. Die Entwicklung Chinas auf dem Weltmarkt bedeutet eine Schwächung der Macht der USA. Insofern spielt der USA-China-Konflikt eine Rolle zum Machterhalt der USA. Dabei versuchen die USA ebenfalls die EU zu schwächen, sie für ihre Interessen zu nutzen.

Europäische Staaten haben, so Solty, das Interesse für eine schnelle Beendigung des Krieges. Die sozialen Verwerfungen zeigen sich jetzt bereits in einigen Ländern. Kämpfe zur Durchsetzung sozialer Forderungen nehmen zu. Der weitere Abbau des Sozialstaats trägt zu einer – von den Regierenden befürchteten - "Kriegsmüdigkeit“ bei. Entspannungspolitik muss unser Ziel sein, diese hilft der Arbeiterklasse in allen Ländern ihre sozialen Forderungen eher durchzusetzen. Die Kampfbedingungen für gesellschaftliche Veränderungen sind ohne Krieg überall besser.

Der gerade unterbreitete Vorschlag afrikanischer Staaten für eine Friedenslösung schließt sich im Grunde dem von Brasilien an. Er zeigt das Interesse dieser Staaten für ein Ende des Krieges – auch, weil die Entwicklung und die Lebensbedingungen in bestimmten Regionen der Welt in besonderem Maße durch die Auswirkungen des Krieges verschlechtert werden. In Afrika verschärft der Krieg in der Ukraine die bestehenden sozialen Probleme dramatisch: immer mehr Menschen hungern, bewaffnete Konflikte nehmen zu, die Inflation steigt, Millionen Menschen sind auf der Flucht.

Nötig sei eine Überzeugungsarbeit durch linke Kräfte, die ein Ende des Krieges nicht wegen der "deutschen Wirtschaft oder des Mittelstands“ fordern, sondern die gegen den Krieg aus der Sicht der arbeitenden Klasse argumentieren, die Auswirkungen auf die Bevölkerungen deutlich machen.

Machtverhältnisse im heutigen Russland
Ditte Gerns ging auf die Entwicklung in Russland ein und nannte die Einflüsse und Verzahnung der russischen Oligarchen auf/mit Wirtschaft und Politik. Aufgezeigt wurde die Rolle der Parteien im russischen Parlament, der Duma, sowie das Verhältnis von Regierung und Opposition.

RUS Putin Sicherheitsrat 2022 02 12         Referat von Ditte Gerns:
Machtverhältnisse im heutigen Russland
 
Die größte Oppositionspartei in der Duma ist die Kommunistische Partei der Russischen Föderation KPRF, die sich immer noch als Vertreterin der arbeitenden Bevölkerung versteht. Anträge der KPRF werden regelmäßig von der Mehrheit durch "Einiges Russland“ abgelehnt. Trotzdem versucht die KPRF immer wieder den Schulterschluss mit Putin. Nach dem Muster "Guter Präsident – Schlechte Administration“ hat sich die KPRF der "russische Wertegemeinschaft“ eangeschlossen und unterstützt damit die Regierung.

Die stark geprägte nationale Politik und die Gefahr, dass nationalistische und militärische Scharfmacher immer mehr die Oberhand bekommen, schätzte Ditte Gerns als besorgniserregend ein. Die sogenannte "Spezialoperation“ trägt mehr zum Erhalt der Macht der russischen Regierung bei, statt sie abzubauen. Verordnungen und Gesetze erfolgen zum angeblichen Schutz und zur Sicherheit der Bevölkerung – einher geht dies jedoch mit dem Aufbau paramilitärischer Strukturen.

Nahezu Ratlosigkeit wurde geäußert auf die Frage, welche möglichen Ziele Russland mit dem Krieg verfolgt. Der oft von Putin genannte Kampf gegen faschistische Kräfte in der Ukraine sei erstens nur vorgeschoben und dies kann kein Grund für einen Angriffskrieg sein. Allerdings ist auch kein Ziel erkennbar, dem dieser Krieg gilt. Dies ist, so die Antwort der Referentin, das wirklich Verwerfliche und Bedenkliche dieses Krieges.

Diskussion
Frank Deppe setzte zu Beginn der Diskussion ein Fixpunkt, der sich durch die weitere Debatten zog: "Wenn wir Marxist*innen über Krieg reden, dann müssen wir auch über den Kapitalismus reden.“ Es gibt neue Rivalitäten unter den kapitalistischen Ländern: Russland, USA, Großbritannien, Europa/EU. Wir müssen die daraus entstehenden inneren Widersprüche verbinden mit der Forderung nach einer neuen Entspannungspolitik und sie gegen die Blockkonfrontation stellen.

Die globale Stellung Russlands mit einer eher geringen ökonomischen Macht und einer militärischen Stärke wurde diskutiert. Auch das Verhältnis zwischen Russland und der EU ist uns nicht klar und muss erarbeitet werden, wurde gesagt.

Die Rolle der Konzerne und die Entwicklung des militärisch-industriellen-Komplex mit den höchsten Profiten sowie die Auswirkung auf die Politik muss von uns stärker herausgearbeitet werden, war eine Aufforderung an uns Linke. Das transnationale Kapital macht Profit mit dem Krieg und will die Bevölkerungen weltweit kriegsbereit machen. Dagegen müssen wir uns wehren. Krieg verhindert jede Modernisierung, nicht nur in den direkt am Krieg beteiligten Länder.

Die Rolle Chinas und anderer Staaten, ihr Verhältnis zu den USA und das Verhältnis zwischen USA und Europa, insbesondere zur EU wurde diskutiert. Dass dieses nationalistische Russland die Unterstützung der AfD und anderer extrem rechter Kreise bekommt, liegt auch daran, dass mit der Politik Russlands auch nationale Politik hier gestärkt wird.

Eine gemeinsame Aussage der Teilnehmenden war: Eine neue Ostpolitik muss entwickelt werden, in der das friedliche Zusammenleben die Hauptrolle spielt. Und: Es muss eine neue friedliche Koexistenz entwickelt werden!

Die Frage "Können wir die mögliche Blockkonfrontation noch verhindern?“ wurde unterschiedlich beantwortet. Einig waren sich die Teilnehmenden jedoch darin, dass für eine Entspannungspolitik gekämpft werden muss.

Da der Krieg Auswirkungen auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hat, muss der Widerstand gegen Krieg und Militarisierung ebenfalls in allen Bereichen entwickelt werden. Notwendig sind dazu vor allen Dingen die Diskussionen auch überall zu führen, denn:
• Krieg bedeutet das Sterben und das Leiden von Menschen, dem muss ein Ende gesetzt werden!
• Krieg bedeutet Zerstörung der Umwelt! Je länger der Krieg dauert, desto weniger Chance gibt es, das angestrebte 1,5° Ziel gegen den Klimawandel zu erreichen.
• Krieg bedeutet soziale Verheerungen – nicht nur in den Kriegsgebieten.
• Krieg bedeutet Rechtsentwicklung – faschistische und rassistische Kräfte werden stärker.
• Krieg bedeutet Demokratieabbau – die Repression des Staates nimmt zu, Gesetze werden zügig unter dem Mantel des Sicherheitsdenkens beschlossen.

Deshalb müssen verschiedene Bewegungen und die Gewerkschaften mit der Friedensbewegung gemeinsam aktiv werden!

Wir fordern Verhandlungen und Diplomatie!
Wir fordern ein Ende der Waffenlieferungen – dies kann einen Waffenstillstand bedeuten und die Chance zu Gesprächen geben!
Den Kampf für den Frieden weiter zu führen und ihn zu verstärken ist eine Hauptaufgabe, die in allen Bewegungen auf die Tagesordnung gehört – wir Marxist*innen müssen diese Diskussionen führen!

Für die Teilnehmenden des zweiten "Ratschlag marxistische Politik“ waren am Sonnabend klar: Wir treffen uns wieder und setzen die Diskussion über aktuelle gesellschaftliche Fragen fort!
Es wurden gleich einige Themen benannt, über die eine Debatte geführt werden kann. Der dritte Ratschlag soll sich nun mit Fragen zur Gewerkschafts- und Arbeiter*innenpolitik befassen.

Bettina Jürgensen, marxistische linke


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