„Endlösung der Russenfrage“ und neue Epoche – Pressekonferenz des russischen Außenministers Lawrow
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 19. JANUAR 2023 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
von https://meinungsfreiheit.rtde.life
Bild: Russlands Außenminister Sergei Lawrow während seiner jährlichen Pressekonferenz am 18. Januar. Sputnik © Sergei Gunejew
Während einer Pressekonferenz hat Russlands Außenminister die
diplomatische Bilanz des Jahres 2022 gezogen. Dabei sprach er vom
westlichen Neokolonialismus, verglich die Pläne der NATO mit Hitlers
„Endlösung“ und bezeichnete die Gegenwart als einen Epochenwechsel.
Die NATO führt mittels der Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen
Russland, erklärte der russische Außenminister Sergei Lawrow. Dies
bezeugen nicht nur zahlreiche Expertenmeinungen, darunter von Henry
Kissinger, sondern auch der Umfang der westlichen Unterstützung für
Kiew. Im Rahmen einer knapp dreistündigen Pressekonferenz über die
Ergebnisse des Jahres 2022 zog Russlands Chefdiplomat den Schluss, dass
der Konflikt in der Ukraine eine globale Dimension habe und den Wechsel
von einer US-dominierten zu einer multipolaren Weltordnung einleite.
Lawrow zufolge gingen die USA von legitimen zu illegitimen Methoden
über, um die eigene Dominanz zu sichern. Um Russland zu sanktionieren,
habe der kollektive Westen alle „heiligen“ Grundlagen des eigenen
Globalisierungsmodells, darunter die Prinzipien des freien Marktes und
freien Wettbewerbs, Unantastbarkeit des Eigentums und die
Unschuldsvermutung verletzt und zerstört. Auch wenn sich die Sanktionen
gegenwärtig gegen Moskau richten, sei klar, dass sie grundsätzlich auch
gegen andere Staaten angewandt werden könnten.
Alles ruhig an der (panischen) Westfront – Pepe Escobar über Weltwirtschaftsforum in Davos
Der Europäischen Union attestierte Lawrow, sich vollständig dem
US-amerikanischen Diktat untergeordnet zu haben. Aus der gemeinsamen
Deklaration der EU und der NATO gehe hervor, dass die beiden Strukturen
zunehmend zusammenwachsen, ihre Interessen rücksichtslos mit allen
Mitteln durchsetzen und dabei historisch zusammenhängende Regionen wie
etwa Russland und die Ukraine oder Transkaukasien zerstören. Der
Minister erinnerte an die Bezeichnung der nichteuropäischen Länder als
„Dschungel“ durch den EU-Chefdiplomaten Josep Borrell.
Indessen werden nicht nur Entwicklungsländer, sondern auch Europa selbst
vom Neokolonialismus der Vereinigten Staaten ausgebeutet. Auf eine
entsprechende Frage eines Journalisten des isländischen Radio Saga
führte Lawrow aus:
„Kolonialismus ist, wenn man jemand anderen erobert und auf seine Kosten
lebt. Erobern kann man aber auf unterschiedliche Weisen. Man kann wie
im 17. Jahrhundert Sklaven in ein Schiff stopfen oder man kann alle
Pläne und Programme eines Landes oder einer Struktur dem eigenen Willen
unterordnen, so wie jetzt es die USA mit der Europäischen Union machen.“
Die EU habe ihre Selbstständigkeit vollständig verloren und sei zu einem
Anhängsel der NATO geworden, während die USA gestiegene Gaspreise in
Europa nutzen, um eine Migration der europäischen Industrie nach Amerika
zu erwirken und die EU als wirtschaftlichen Konkurrenten auszuschalten.
Den Grundkonflikt der bestehenden Weltordnung formulierte Lawrow wie folgt:
„Washingtons Kurs auf ein Diktat in internationalen Angelegenheiten
bedeutet buchstäblich Folgendes: Wir US-Amerikaner dürfen alles, was wir
wollen und wo wir wollen. Auch am anderen Ende der Welt werden wir tun,
was wir für nötig erachten. Ihr alle anderen dürft aber ohne unsere
Zustimmung nichts unternehmen, nicht einmal als Reaktion auf direkte
Bedrohungen eurer Sicherheit die wir selbst an euren Grenzen schaffen.“
Speziell in Bezug auf den Konflikt des kollektiven Westens mit Russland
zog der Außenminister historische Parallelen zu Napoleons Imperium und
zum Dritten Reich:
„So wie Napoleon praktisch ganz Europa gegen das Russische Kaiserreich
mobilisierte, wie Hitler die Mehrheit der europäischen Länder eroberte,
unter den Helm stellte und gegen die Sowjetunion warf, gründeten auch
die USA eine Koalition aus praktisch allen europäischen Ländern und
führen einen Stellvertreterkrieg gegen unser Land mit demselben Ziel:
‚Endlösung der Russenfrage‘.“
Aus diesem Grund gebe es momentan kaum Aussichten auf eine diplomatische
Lösung des Ukraine-Konflikts, erklärte Lawrow anschließend den
Journalisten der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti und der
US-amerikanischen MBN. Der kollektive Westen nutze die Ukraine zur
Zerstörung des bisher bestehenden internationalen Sicherheitssystems,
weswegen Verhandlungen nicht ausschließlich über die Ukraine geführt
werden müssten. Dabei habe Russland den „strategischen Dialog“ mit den
USA nicht beendet. Moskau werde Washington zwar „nicht nachlaufen“, aber
auf ernst gemeinte Initiativen reagieren, was etwa das Treffen zwischen
dem Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes Sergei Naryschkin und
CIA-Chef William Burns im November 2022 belege.
Multipolarität statt Dominanz und Isolation
Versuche der Vereinigten Staaten, ihre Vormachtstellung zu sichern,
seien letztendlich gegen den geschichtlichen Fortschritt gerichtet,
erklärte Lawrow:
„Dieser verbissene Versuch, auf Biegen und Brechen, mit verbotenen
Mitteln die Dominanz der USA und des restlichen Westens, den Washington
vollständig unterwarf, zu sichern, zeugt vom Verständnis, dass sie gegen
den objektiven Lauf der Geschichte handeln und im Grunde die Entstehung
einer multipolaren Welt aufzuhalten versuchen.“
Dabei vollziehe sich die Entwicklung hin zur Multipolarität nicht auf
Beschluss einzelner politischer Akteure, sondern durch die natürliche
wirtschaftliche Entwicklung nichtwestlicher Länder. Zu neuen Zentren von
Wirtschaftswachstum gehören unter anderem China, Indien, die Türkei,
lateinamerikanische sowie potentiell auch afrikanische Staaten.
Russland versuche in diesem Zusammenhang, die Kooperation mit
internationalen Partnern unabhängig vom Westen und dessen neokolonialen
Methoden aufzubauen. Dies ist nach Lawrow das Fazit des vergangenen
Jahres, allerdings handele es sich um langfristige Prozesse, die viel
Zeit in Anspruch nehmen werden.
Aus Lawrows anschließenden Antworten an Journalisten ging indessen
hervor, dass Russland bereits jetzt einige Erfolge im Aufbau und Pflege
internationaler Beziehungen vorweisen kann. So befinden sich die
Beziehungen zu China auf einem historischen Höhepunkt:
„Dies ist keine Allianz, kein Bündnis, aber in vielerlei Hinsicht ist es
fester als ein Bündnis. Die Beziehungen sind pragmatisch,
vertrauensvoll, beruhen auf gegenseitigem Respekt und einem
Interessenausgleich. Das ist genau das, was ein ideales Beziehungsformat
zu jedem Land ist und direkt auf den Prinzipien der UN-Charta beruht.“
Russland und China kooperieren unter anderem im Rahmen der Schanghaier
Organisation für Zusammenarbeit, BRICS, der Neuen Seidenstraße sowie
betreiben militärische Zusammenarbeit, so Lawrow weiter.
Auch Moskaus Beziehungen zu arabischen Staaten befänden sich im Aufschwung.
„Ich sehe ein Verständnis unserer Position, ein Verständnis, dass es
nicht nur und eigentlich überhaupt nicht um die Ukraine geht, sondern
gerade um den Kampf um eine neue Weltordnung zwischen denjenigen, die
glauben, dass sie vollständig ihren Regeln unterstellt sein soll – und
die Regeln sehen eine Dominanz der USA und ihrer Satelliten vor – und
denjenigen, die wollen, dass die Weltordnung demokratisch ist.“
Mit westlichen Forderungen nach Demokratie seien ausschließlich
innerstaatliche Strukturen gemeint, erklärte Lawrow seine Äußerung. Eine
Demokratie in internationalen Beziehungen sei vom Westen hingegen nicht
gewollt.
Trotz des beispiellosen westlichen Drucks unterstütze kein arabisches
Land die antirussischen Sanktionen. Dies ist mit Ausnahme der Bahamas
auch für sämtliche Staaten Lateinamerikas und der Karibik der Fall.
Unter lateinamerikanischen Ländern sei die Kooperation mit Kuba,
Venezuela und Nicaragua besonders intensiv, allerdings arbeite Moskau
auch mit anderen Ländern der Region bedingungslos zusammen:
„Wir haben keine Monroe-Doktrin. Wenn wir in diese Region
[Lateinamerika; Anm. d. Red.] kommen, bringen wir keine Risiken und
drohen auch nicht, ein Land unseren Interessen zu unterwerfen oder eine
bestimmte politische Kraft zu fördern.“
Russlands Exporte nach Lateinamerika seien im vergangenen Jahr um zehn
Prozent gestiegen, Tausende Lateinamerikaner studieren in Russland. Auch
der Tourismus entwickele sich dank Visafreiheit mit 27
lateinamerikanischen Ländern.
Epochenwechsel und neue Perspektiven
Emmanuel Todd: Der Dritte Weltkrieg hat bereits begonnen
Die formale Grundlage für die künftige multipolare Weltordnung könnte
die UN-Charta bilden, erklärte der russische Außenminister. Das Dokument
sei für seine Zeit revolutionär gewesen, allerdings wurden dessen
Prinzipien vom Westen pervertiert. Grundsätze der Nichteinmischung in
innerstaatliche Angelegenheiten und der friedlichen Beilegung von
Streitigkeiten würden durch zahlreiche Militäraktionen der USA mehrmals
aufs Gröbste verletzt.
Den impliziten Vorwurf einer Journalistin von Sky News, wonach Russlands
Militäroperation die UN-Charta ebenfalls verletze, wies Lawrow indessen
zurück. Er betonte, dass die territoriale Integrität eines Staats
respektiert werden kann, solange dieser nicht gegen das
Selbstbestimmungsrecht der eigenen Bevölkerung verstößt. Die Ukraine
habe 2014 unter Verletzung der eigenen Verfassung einen Krieg gegen die
eigene Bevölkerung im Donbass begonnen und damit das Recht auf
territoriale Integrität verwirkt.
Nach Lawrows abschließender Einschätzung werde die Formung einer
multipolaren Weltordnung eine universalgeschichtliche Bedeutung haben
und viel Zeit in Anspruch nehmen:
„Der Prozess der Formierung einer neuen Weltordnung wird lange dauern
und eine gewisse historische Epoche einnehmen. Wir befinden uns im
Höhepunkts dieses Prozesses.“
Der Maßstab der gegenwärtigen Ereignisse sei ihren unmittelbaren
Teilnehmern nicht immer klar, weshalb ein Erfahrungsaustausch zwischen
Politikern und Medien wichtig sei, schlussfolgerte Lawrow.
https://meinungsfreiheit.rtde.life/international/160274-endloesung-russenfrage-und-neue-epoche/
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