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Friedensratschlag, Kassel, 10./11.12.2022
Deutschland im Bund mit der NATO-Aggression
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
Der Bundesweite Friedensratschlag unter dem Motto "Unterwegs zu einer
neuen Weltordnung – Weltkrieg oder sozialökologische Wende zum Frieden"
am 10. und 11. Dezember 2022 in Kassel stand im Zeichen der zugespitzten
Situation, in der Deutschland im Stellvertreter-Krieg der NATO gegen
Russland Kriegspartei im Bund mit der NATO ist. Wie es zu dieser
Situation gekommen ist, wurde vielfach thematisiert. Und häufig wurde
die Notwendigkeit einer starken Friedensbewegung formuliert. Eine große
Anzahl gehaltvoller Referate und Diskussionsbeiträge sorgten für die
Schaffung bzw. die Auffrischung wichtiger Hintergrundinformation. Die
Wirtschaftsgeografin Christin Bernhold erinnerte daran, dass die USA
weltweit ca. 1000 Militärbasen betreiben, Russland und China aber nur
einige wenige. Die Arabistin und Islamwissenschaftlerin Karin Kulow rief
die US-Militär-Doktrin der Full-spectrum dominance (Überlegenheit auf
allen Ebenen) ins Bewusstsein, wie sie auch im US-Strategiepapier TRADOC
525-3-1 "Win in a complex world 2020-2040" verankert ist. Der frühere
UNO-Diplomat Hans-Christoph von Sponeck nahm die Dominanz des
US-Imperiums in den UNO-Organisationen unter die Lupe und forderte deren
Befreiung von derartigem Missbrauch. Franziska Hildebrandt vom SDS
erinnerte an die Hauptforderungen des Potsdamer Abkommens:
De-Militarisierung, De-Nazifizierung, De-Monopolisierung und
Demokratisierung. Der Soziologe und Journalist Jörg Kronauer wies darauf
hin, dass drei Viertel der Staaten weltweit sich nicht an den
Sanktionen gegen Russland beteiligen. Aber trotz der Fülle dieser und
weiterer wichtiger Informationen hat sich gezeigt, dass sich von der
NATO geprägtes Denken einschleicht. Die von ihr betriebene strategische
Kommunikation – wie Ekkehard Sieker die gezielt geplante, meist
unbemerkte Einflussnahme herrschender Kreise auf die Bevölkerung nennt –
wirkt auch in der Linken und der Friedensbewegung in einem Maße, dass
es noch enormer Anstrengungen bedarf, sie davon zu befreien.
Im Workshop "Formierung der öffentlichen Meinung und Feindbildpflege"
wurden von einem Teilnehmer Feindbild schürende Zitate vorgetragen:
"Mörderisches Treiben von Gaddafi", "Ungeheure Brutalität... des
Diktators Gaddafi... er ist ein Verbrecher und gehört vor Gericht",
"Natürlich ist auch Assad ein blutiger Diktator", "Völkerrechtswidriger
Angriff Putins", "Barbarischer, völkerrechtswidriger Krieg, für den es
keinerlei Rechtfertigung... gibt", "Brutaler völkerrechtswidriger
Angriffskrieg... Angriff auf die europäische Friedensordnung". Diese
Zitate stammen nicht von der NATO sondern aus der Friedensbewegung und
der Linken (genaueres über das Wann und das Von-Wem siehe im Anhang).
Die Frage, wie das zu erklären ist und welche Mechanismen der
strategischen Kommunikation hierbei auf welche Weise gewirkt haben
dürften, wusste auch der Referent Ekkehard Sieker nicht recht zu
beantworten. Gleichwohl hatte er zuvor ausgeführt, dass vom US-Imperium
indirekt über das NED (National Endowment of Democracy) NGOs (so
genannte Nicht-Regierungsorganisationen) geschaffen werden. Dass auf
diese oder ähnliche Weise auch in die Friedensbewegung und die Linke
hineingewirkt wird, bewegt sich offenbar außerhalb des Denkbaren.
Auch in der Abschlusserklärung des Friedensratschlags ist vom
"völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands" die Rede. Die aus dem
Publikum vorgetragene dringende Bitte, das Wort "völkerrechtswidrig" zu
streichen, um nicht unnötig das NATO-Narrativ zu bedienen, verhallte –
trotz beachtlichen Beifalls aus dem Publikum. Die veröffentlichte
Fassung der Abschlusserklärung enthält das Feindbild bedienende
NATO-Sprech-gemäße Wort nach wie vor. Damit setzen sich die
Verantwortlichen des Friedensratschlags auch über den dringenden Appell
des NachDenkSeiten-Herausgebers und ehemaligen Willy-Brandt-Beraters
Albrecht Müller vom Juli 2022 hinweg, endlich mit den Verneigungen vor
der allgemein üblichen Empörung über "Putins Aggressionsverbrechen"
aufzuhören. Damit würden Vorurteile und Aggression gegen Russland
verstärkt und sonst gute Erklärungen relativiert und entwertet.
Bei der Podiumsdiskussion "Kontroversen zum Ukraine-Krieg" wurde eine
zentrale Kontroverse ausgeblendet. Auf dem Podium war niemand, der das
laut UN-Charta in Artikel 51 garantierte Recht auf kollektive
Selbstverteidigung erwähnt hätte. Niemand zog in Betracht, dass Russland
und die seit Jahren von Kiew attackierten Donbass-Republiken auf der
Basis des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung handeln – unabhängig
von der Frage, ob dieses Handeln klug und alternativlos ist. In Artikel
51 heißt es: "Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten
Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das
naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven
Selbstverteidigung... Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses
Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort
anzuzeigen..." Das ist von Seiten Russlands ordnungsgemäß geschehen.
Zudem hatte Russland vor dem Einmarsch die Donbass-Republiken
völkerrechtlich anerkannt und mit ihnen ein Beistandsabkommen
abgeschlossen. Das alles wurde von niemandem auf dem Podium auch nur
angesprochen. Das war einem Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum
vorbehalten.
Lühr Henken in Vertretung für Joachim Wernicke zu "Dark Eagle – ein Déjà-vu mit Pershing 2"
Insgesamt ist festzustellen: trotz vielfältiger Schilderung der
NATO-Aggressivität erhob kein Referent die Forderung nach Kündigung des
Truppenstationierungsvertrags und nach Austritt aus der NATO – obwohl
beides im Verbund von immenser Wirkmächtigkeit wäre. Innerhalb von nur
zwei Jahren müssten die militärischen Einrichtungen – von der
Kriegsdrehscheibe Ramstein über EUCOM und AFRICOM bis hin zu den in
Deutschland stationierten Atomwaffen – beseitigt sein. Auch das 56.
Feldartillerie-Kommando – zuständig für das von Lühr Henken plastisch
geschilderte Dark-Eagle-System, mit dem Moskau wie seinerzeit per
Pershing-II-Raketen innerhalb weniger Minuten "enthauptet" werden kann,
müsste wieder verschwinden. Im Saal neben anderen Friedensfahnen die
Fahne mit der Friedenstaube und dem Slogan "NATO raus – raus aus der
NATO" – also mit der Forderung nach Kündigung des
Truppenstationierungsvertrags und nach Austritt aus der NATO –
anzubringen, war unerwünscht. Lediglich im Rahmen einer
Podiumsdiskussion wurde dieses Themenfeld von einem
Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum angesprochen. Zu erwähnen ist in
diesem Zusammenhang der folgende Passus aus der Abschlusserklärung: "Die
Bundesregierung darf der Stationierung der US-Hyperschallraketen und
anderen Mittelstreckenraketen nicht zustimmen. Sie muss dem
Atomwaffenverbotsvertrag der UNO beitreten und die
Truppenstationierungsverträge kündigen!" Das klingt nach Aufgreifen der
Forderung, alle ausländischen Truppen aus Deutschland zu verbannen. Aber
ist dem so? Die Rede ist von mehreren Truppenstationierungsverträgen.
Die gibt es aber nicht. Es gibt den einen von 1954, der offiziell den
Titel "Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der
Bundesrepublik Deutschland" trägt und nach Notenwechsel von Ende 1990
mit 2-Jahres-Frist kündbar ist.
Und insgesamt ist festzustellen: vielfach wurde von Seiten der
Referenten zwecks Stärkung der Friedensbewegung die Notwendigkeit eines
breiten Bündnisses betont. Konkret als Bündnispartner benannt wurden
u.a. die Bewegungen in Sachen Klima, Umwelt, Soziales, von niemandem
aber die Grundrechte- und Demokratie-Bewegung, die sich zu einer starken
Friedenskraft entwickelt hat und die insbesondere im August 2020 in
Berlin gezeigt hat, dass sie in der Lage ist, hunderttausende Menschen
zu mobilisieren. Der wohl wirkungsvollste Motor dieser Bewegung, Michael
Ballweg, sitzt seit mehr als fünf Monaten ohne Urteil in
Stuttgart-Stammheim in Haft – ein Alarmsignal! Bei der abschließenden
Podiumsdiskussion kam der von der Moderatorin als Co-Präsident des
"International Peace Bureau" bezeichnete Reiner Braun zu Wort. Er
forderte, ohne Ausgrenzung auf die Straße zu gehen. Doch auch er nannte
die Grundrechte- und Demokratie-Bewegung als potenten Bündnispartner
nicht. Stattdessen betonte er die Notwendigkeit der Abgrenzung von
"Faschisten", denn Faschismus sei keine Meinung sondern ein Verbrechen.
Und er warnte vor einer übereilten Großdemonstration. Stattdessen
orientierte er in Richtung Münchener Sicherheitskonferenz und
Ostermärsche – also business as usual – als gelte es nicht, in einer
hochbrisanten Situation schnellstmöglich ein wirksames Protestpotenzial
aufzubauen. Der aus dem Publikum vorgetragene Vorschlag, eine
Solidaritätsnote mit der Forderung nach sofortiger Freilassung von
Julian Assange und Michael Ballweg zu verabschieden, wurde nicht
aufgegriffen.
Wie könnte das Fazit lauten? Es hat zwar zahlreiche aufschlussreiche,
informative Referate und Diskussionsbeiträge gegeben. Aber wieder einmal
hat sich gezeigt, dass noch viel zu tun ist, um die Friedensbewegung
aus der Umklammerung der NATO-beeinflussten Kräfte zu befreien und
zusammen mit allen authentischen Protestbewegungen zu dem zu machen, was
erforderlich ist, um die Entwicklung in Richtung eines alles
vernichtenden Weltkrieges zu stoppen. Es gilt, der NATO die
Friedensbewegung zu entreißen und sie zu einer echten und starken
Gegenkraft zur transatlantischen Kriegsallianz zu machen. Der Ernst der
Lage erfordert dies.
Friedensratschlag im Saal des Philipp-Scheidemann-Hauses in Kassel
Anhang Feindbild-Zitate:
Mörderisches Treiben von Gaddafi (Jan van Aken, Die Linke, am 18.3.2011 im Bundestag)
Brutales und mörderisches Vorgehen des Gaddafi-Regimes gegen die eigene
Bevölkerung (Erklärung des Aachener Friedenspreises vom 6.3.2011)
Ungeheure Brutalität... des Diktators Muammar al Gaddafi... Gaddafi ist
ein Verbrecher und er gehört vor Gericht (IMI am 3.3.2011)
Natürlich ist auch Assad ein blutiger Diktator (Sahra Wagenknecht in Kalkar, 3. Oktober 2015)
Diktator, der sein Land brutal unterdrückt (Sahra Wagenknecht im Bundestag, 4. Dezember 2015)
NATO griff ein, weil [Serbiens] Völkervertreibung und Massenmord durch
Verhandlungen nicht gestoppt werden konnten (DGB zum Antikriegstag 1999)
Aggression Russlands... Für Krieg gibt es keine Rechtfertigung (Willi van Ooyen und Reiner Braun, 24. Februar 2022)
Völkerrechtswidriger Angriff... ("Abrüsten statt Aufrüsten" zu den Ostermärschen 2022)
Völkerrechtswidriger Angriff Putins (Reiner Braun und Michael Müller, 26. April 2022 in der Frankfurter Rundschau)
Barbarischer, völkerrechtswidriger Krieg, für den es keinerlei Rechtfertigung... gibt (Sahra Wagenknecht, 25. Februar 2022)
Akt der Aggression und Menschenrechtskatastrophe (Amnesty Deutschland, 1. März 2022)
Bruch des Völkerrechts (Ostermarsch-Aufruf 2022, Bremen)
Völkerrechtswidriger Einmarsch russischer Truppen (Ostermarsch-Aufruf
2022 von "Kooperation für den Frieden" und "Bundesausschuss
Friedensratschlag")
Völkerrechtswidriger Angriff (Aufruf des DGB zu den Ostermärschen 2022)
Angriffskrieg auf die Ukraine... Bruch des Völkerrechts (Christian Wechselbaum, IG Bauen-Agrar-Umwelt, beim Ostermarsch 2022)
Brutaler völkerrechtswidriger Angriffskrieg... Angriff auf die europäische Friedensordnung... (Aufruf des DGB zum 1. Mai 2022)
Völkerrechtswidriger Angriffskrieg Russlands (IPPNW-Aufruf zur Kundgebung am 3. Juni 2022 in Berlin)
Argumentation der russischen Regierung völkerrechtlich nicht haltbar
(Positionspapier des Bundesausschusses Friedensratschlag vom Juni 2022)
Völkerrechtswidriger Einmarsch Russlands (Abschlusserklärung des Friedensratschlags vom 11. Dezember 2022)
Website des Friedensratschlags:
https://friedensratschlag.de
Weitere Presse-Berichte über den Friedensratschlag:
https://friedensratschlag.de/presseberichte-friedensratschlag-2022/
Siehe auch:
Kasseler Erklärung anlässlich des Friedensratschlags in Kassel am 10. und 11. Dezember 2022
Wer Frieden will, muss gegen den Krieg protestieren!
Von Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden der Partei dieBASIS
NRhZ 803 vom 14.12.2022
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28371
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