Entnommen: https://www.freidenker.org/?p=9233
Der große
Vorwand … für eine Anti-Utopie
Für
alle, die sich den Kopf nicht durch einen angeblich coronabedingten
«großen Umbruch» à la WEF verdrehen lassen wollen
von
Diana Johnstone
[Übernahme von seniora.org – siehe auch
Quellenangaben am Ende des Beitrages]
In ihrer vom
Weltwirtschaftsforum (WEF) herausgegebenen Abhandlung «Covid-19: The
Great Reset» [Covid-19: Der grosse Umbruch] bescheren uns die
Ökonomen Klaus Schwab und Thierry Malleret die Stimme der
Möchtegern-Global-Governance.
Indem sie ihrer kürzlich
veröffentlichten WEF-Abhandlung den Titel «Covid-19: The Great
Reset» geben, verknüpfen die Autoren die Pandemie auf eine Art und
Weise mit ihren futuristischen Vorschlägen, die einen Chor von
«Aha!»-Rufen hervorrufen dürfte. In der gegenwärtigen Atmosphäre
der Verwirrung und des Misstrauens lässt die Freude, mit der die
Ökonomen Klaus Schwab und Thierry Malleret die Pandemie als Vorboten
der von ihnen vorgeschlagenen sozioökonomischen Umwälzung begrüßen,
vermuten, dass sie (wenn sie dazu in der Lage gewesen wären)
Covid-19 geschaffen hätten, wäre es nicht zufällig
aufgetaucht.
Tatsächlich hat Klaus Schwab, der Gründer des
Weltwirtschaftsforums, den «Great Reset» bereits energisch
propagiert und dabei den Klimawandel als auslösende Krise genutzt,
bevor ihm der jüngste Ausbruch des Corona-Virus einen noch
unmittelbareren Vorwand lieferte, seine Pläne zur Neugestaltung der
Welt anzupreisen.
Die Autoren fangen gleich an, indem sie
verkünden: «Die Welt, wie wir sie in den ersten Monaten des Jahres
2020 kannten, gibt es nicht mehr», (dt. S. 12) dass radikale
Veränderungen eine «neue Normalität» (dt. S. 12) formen werden.
Wir selbst würden transformiert werden. «Viele unserer
Überzeugungen und Annahmen, wie die Welt aussehen könnte oder
sollte, werden sich dabei zerschlagen.» (dt. S. 13)
Das
ganze Buch hindurch scheinen sich die Autoren über die angenommenen
Auswirkungen der weit verbreiteten «Angst» vor dem Virus zu freuen,
die die Menschen darauf konditionieren soll, die von ihnen
angestrebten radikalen Veränderungen zu wünschen. Sie verwenden
technokratisches Psychogeschwätz, um zu verkünden, dass die
Pandemie die menschliche Mentalität bereits so verändert, dass sie
sich der neuen Realität anpasst, die sie für unvermeidlich
halten.
«Unsere unterschwellige und möglicherweise
anhaltende Furcht davor, mit einem Virus (Covid-19 oder einem
anderen) infiziert zu werden, wird somit den unerbittlichen Marsch
der Automatisierung beschleunigen […].» (dt.
S. 183)
Wirklich?
«Auf Grund der Corona-bedingten
höheren Angst, mit völlig Fremden in einem geschlossenen Raum zu
sitzen, könnte es sein, dass viele Menschen beschließen, sich den
neuesten Film oder die Opernaufführung lieber zu Hause anzusehen,
weil es am vernünftigsten ist.» (dt. S. 234)
«Es gibt
andere erste Auswirkungen, die viel einfacher vorherzusehen sind.
Sauberkeit ist eine davon. Die Pandemie wird unseren Fokus auf
Hygiene sicherlich mehr in den Vordergrund rücken. Die neue
Hygienebesessenheit wird insbesondere die Schaffung neuer
Verpackungen nach sich ziehen. Wir werden angehalten, die Produkte,
die wir kaufen wollen, nicht anzufassen. Einfache Freuden wie das
Riechen an einer Melone oder das Betasten einer Frucht werden verpönt
sein und vielleicht sogar der Vergangenheit angehören.» (dt.
S. 234)
Dies ist die Stimme der
Möchtegern-Global-Governance. Von oben herab entscheiden Experten,
was die Massen wollen sollen, und verdrehen die angeblichen Wünsche
des Volkes so, dass sie zu den Profitplänen passen, mit denen sie
hausieren gehen. Ihre Pläne kreisen um digitale Innovation, massive
Automatisierung unter Verwendung «künstlicher Intelligenz» und
schließlich sogar um die «Verbesserung» des Menschen, indem man
ihn künstlich mit einigen Eigenschaften von Robotern ausstattet: zum
Beispiel Problemlösung ohne ethische Ablenkungen.
Der 1938 in
Ravensburg geborene Ingenieur und Wirtschaftswissenschaftler Klaus
Schwab gründete 1971 sein Weltwirtschaftsforum, das von
internationalen Konzernen massiv gesponsert wird. Es tagt einmal im
Jahr in Davos in der Schweiz – das letzte Mal im Januar
2020 und nächstes Jahr im Mai, verschoben auf Grund von
Covid-19.
Klaus Schwab bei einer Sitzung des
Weltwirtschaftsforums in Davos, Schweiz, Januar 2015.
Foto:
Michael Buholzer – CC BY-NC-SA 2.0 / Quelle: flickr.com
Eine mächtige
Lobby
Was ist es genau? Ich würde das WEF als eine
Kombination von kapitalistischer Beratungsfirma und gigantischer
Lobby beschreiben. Die futuristischen Vorhersagen sind darauf
angelegt, Investoren in profitable Bereiche der, wie Schwab es nennt,
«Vierten Industriellen Revolution (4IR)» zu führen und dann, wenn
die Bereiche definiert sind, Druck auf Regierungen auszuüben, um
solche Investitionen durch Subventionen, Steuererleichterungen,
Beschaffungen, Vorschriften und Gesetze zu unterstützen. Kurz
gesagt, das WEF ist die Lobby für neue Technologien, alles Digitale,
künstliche Intelligenz, Transhumanismus.
Es ist heute
mächtig, weil es in einem Umfeld eines neoliberalen
staatsmonopolistischen Kapitalismus operiert, in welchem die Rolle
des Staates (vor allem in den Vereinigten Staaten, weniger in Europa)
weitgehend darauf reduziert wurde, positiv auf die Forderungen
solcher Lobbys, insbesondere des Finanzsektors, zu reagieren. Da sie
durch Wahlkampfspenden gegen die obskuren Wünsche der einfachen
Leute immunisiert sind, brauchen die meisten der heutigen Politiker
praktisch die Führung von Lobbys wie dem WEF, die ihnen sagen, was
sie tun sollen.
Im 20. Jahrhundert, insbesondere während des
New Deal, stand die Regierung unter dem Druck widersprüchlicher
Interessen. Der wirtschaftliche Erfolg der Rüstungsindustrie während
des Zweiten Weltkriegs ließ einen Militärisch-Industriellen Komplex
(MIK) entstehen, der zu einem dauerhaften Strukturfaktor in der
US-Wirtschaft geworden ist.
Es ist die dominante Rolle des MIK
und der daraus resultierenden Lobbys, die die Nation endgültig in
einen staatsmonopolistischen Kapitalismus anstelle einer Republik
verwandelt haben.
Der Beweis für diese Transformation ist die
Einstimmigkeit, mit der der Kongress nie davor zurückschreckt,
grotesk aufgeblähte Militärbudgets zu genehmigen. Der MIK hat
Medien und Think tanks hervorgebracht, welche die Öffentlichkeit
ununterbrochen damit indoktrinieren, es sei existenziell notwendig,
den Reichtum der Nation weiterhin in Kriegswaffen zu investieren.
Sofern die Wähler nicht zustimmen, können sie keine Mittel des
politischen Ausdrucks finden angesichts von Wahlen, die von zwei
Pro-MIK-Parteien monopolisiert werden.
Das WEF kann als analog
zum MIK gesehen werden. Es beabsichtigt, Regierungen und
Meinungsmacher für die Förderung einer «4IR» zu gewinnen, welche
die zivile Wirtschaft und das zivile Leben selbst dominieren
wird.
Die Pandemie ist ein vorübergehender Vorwand; die
Notwendigkeit, «die Umwelt zu schützen», wird der nachhaltigere
Vorwand sein. Genauso wie der MIK als absolut notwendig dargestellt
wird, um «unsere Freiheiten zu schützen», wird die 4IR als absolut
notwendig angepriesen werden, um «die Umwelt zu retten»
– und in beiden Fällen werden viele der verfochtenen Maßnahmen
den gegenteiligen Effekt haben.
Öffentliche Straßenkunst
auf der 6th Street in Austin, Texas, Mai 2020
Foto: Leah Rodgers –
CC BY 4.0 / Quelle: wikimedia.org
Bisher hat die Techno-Tyrannei
von Schwabs 4IR ihren Platz im staatsmonopolistischen Kapitalismus
der USA noch nicht ganz erobert. Aber ihre Aussichten sehen gut aus.
Das Silicon Valley trug massiv zur Kampagne von Joe Biden bei, und
Biden hat sich beeilt, die Mogule in sein Übergangsteam zu
berufen.
Aber die wirkliche Gefahr dabei, dass alle Macht an
den Reset geht, liegt nicht in dem, was da ist, sondern darin, was
nicht da ist: irgendeine ernsthafte politische Opposition.
Kann
die Demokratie wiederhergestellt werden?
Dem Great Reset steht eine breite Straße offen, aus
dem einfachen Grund, dass ihm nichts im Wege steht. Kein weit
verbreitetes Bewusstsein für die Probleme, keine effektive
politische Organisation des Volkes, nichts. Schwabs Dystopie
(Anti-Utopie) ist allein aus diesem Grund beängstigend.
Die
Präsidentschaftswahlen 2020 haben gerade die fast vollständige
Entpolitisierung des amerikanischen Volkes veranschaulicht. Das mag
seltsam klingen angesichts der heftigen parteipolitischen Emotionen.
Aber es war alles viel Lärm um nichts.
Es wurden keine
wirklichen Themen debattiert, keine ernsthaften politischen Fragen
aufgeworfen, weder zu Krieg noch zu den Richtungen der zukünftigen
wirtschaftlichen Entwicklung. Bei den bösartigen
Auseinandersetzungen ging es um Personen, nicht um -Politik. Der
stümperhafte Trump wurde beschuldigt, «Hitler» zu sein, und die
von der Wall Street gekauften demokratischen Kriegstreiber wurden von
Trumpisten als «Sozialisten» bezeichnet. Lügen, Beleidigungen und
Verwirrung hatten überhandgenommen.
Eine Wiederbelebung der
Demokratie könnte sich aus einer organisierten, konzentrierten
Beschäftigung mit den von den Davoser Planern aufgeworfenen Fragen
ergeben, aus der eine informierte öffentliche Meinung hervorgeht,
die beurteilt, welche technischen Innovationen sozialverträglich
sind und welche nicht.
Alarmrufe von den Rändern werden das
intellektuelle Kräfteverhältnis nicht beeinflussen. Was wir
brauchen, ist, dass sich die Menschen überall zusammenfinden, um die
Probleme zu studieren und eine fundierte Meinung über Ziele und
Methoden der zukünftigen Entwicklung zu erarbeiten.
Solange
sie nicht mit sachkundiger und präziser Kritik konfrontiert werden,
werden das Silicon Valley und seine unternehmerischen und
finanziellen Verbündeten einfach damit weiterfahren, zu tun, was
immer sie sich vorstellen, tun zu können, ungeachtet der sozialen
Auswirkungen.
Eine seriöse Bewertung sollte zwischen
potentiell nützlichen und unerwünschten Innovationen unterscheiden,
um zu verhindern, dass populäre Vorstellungen dazu benutzt werden,
Akzeptanz für jeden noch so verhängnisvollen «technologischen
Fortschritt» zu gewinnen.
Fragen
neu definieren
Die politischen Unterscheidungen zwischen links und
rechts, zwischen Republikanern und Demokraten, haben an Schärfe
zugenommen, während sie sich gerade selbst als inkohärent, verzerrt
und irrelevant entpuppen und mehr auf ideologischen
Voreingenommenheiten als auf Fakten basieren. Neue und fruchtbarere
politische Orientierungen könnten durch die Konfrontation mit
spezifischen, konkreten Themen aufgebaut werden.
Wir könnten
die Vorschläge des Great Reset einen nach dem anderen aufgreifen und
sie sowohl in pragmatischer als auch in ethischer Hinsicht
überprüfen.
1
Dank der Pandemie hat die Nutzung von
Telefonkonferenzen über Skype, Zoom oder andere neue Plattformen
stark zugenommen. Das WEF begrüßt dies als einen Trend. Ist es
deswegen schlecht? Fairerweise muss man sagen, dass diese Innovation
positiv ist, da sie es vielen Menschen ermöglicht, an Konferenzen
teilzunehmen, ohne die Kosten, den Ärger und die Umweltkosten von
Flugreisen. Die negative Seite ist, dass sie den direkten
menschlichen Kontakt verhindert. Dies ist ein einfaches Problem, bei
dem die positiven Punkte zu überwiegen scheinen.
2
Sollte
die Hochschulbildung online gehen, wobei die Professoren Kurse für
Studenten über das Internet geben? Dies ist eine weitaus
kompliziertere Frage, die von den Bildungseinrichtungen selbst und
den Gemeinschaften, denen sie dienen, gründlich diskutiert werden
sollte, wobei das Für und Wider abzuwägen ist und man sich vor
Augen halten sollte, dass diejenigen, die die Technologie
bereitstellen, sie verkaufen wollen und sich wenig um den Wert des
menschlichen Kontakts in der Bildung kümmern – nicht
nur des menschlichen Kontakts zwischen Student und Professor, sondern
auch der oft lebensbestimmenden Kontakte zwischen den Studenten
selbst. Online-Kurse mögen für geografisch isolierte Studenten von
Vorteil sein, aber die Auflösung der Bildungsgemeinschaft wäre ein
großer Schritt zur Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft
insgesamt.
3
Gesundheit und «Wellness». Hier sollte die
Diskussion deutlich hitziger werden: «In der Zeit nach der
Pandemie», so Schwab und Malleret, «werden (insgesamt) drei
Branchen florieren: Big Tech, Gesundheit und Wellness.» (dt. S. 241)
Für die Davoser Planer verbinden sich die drei. Diejenigen, die
glauben, dass Wohlbefinden weitgehend selbst erzeugt wird und von
Einstellungen, Aktivitäten und Lebensstilentscheidungen abhängt,
übersehen das Wesentliche. «Die Kombination von KI [künstliche
Intelligenz], Internet der Dinge, Sensoren und tragbarer Technologie
wird neue Einblicke in das gesundheitliche Wohlbefinden der Menschen
ermöglichen. Diese Systeme werden überwachen, wie es uns geht und
wie wir uns fühlen, […] werden präzise Informationen über
unseren CO2-Fußabdruck, unsere Auswirkungen auf die Biodiversität,
die Toxizität aller Inhaltsstoffe, die wir konsumieren, und die
Umgebungen oder räumlichen Kontexte, in denen wir uns bewegen,
bedeutende Fortschritte unseres Bewusstseins für das kollektive und
individuelle Wohlbefinden bewirken.» (dt. S. 243f.)
Frage:
Wollen oder brauchen wir diesen ganzen kybernetischen Narzissmus
wirklich? Können wir das Leben nicht einfach genießen, indem wir
einem Freund helfen, eine Katze streicheln, ein Buch lesen, Bach
hören oder einen Sonnenuntergang beobachten? Es wäre besser, wir
entschließen uns, bevor sie unsere Gedanken umarbeiten.
4
Essen.
Um mir den gesunden Appetit nicht zu verderben, werde ich das
überspringen. Die Tech-Zauberer möchten die Bauern mit all ihren
schmutzigen Böden und Tieren abschaffen und in schönen, sauberen
Labors kreierte, verbesserte, künstliche Lebensmittel industriell
herstellen – aus was genau?
Das
zentrale Thema: Homo faber
5
Was ist mit der menschlichen Arbeit?
«Aller
Wahrscheinlichkeit nach wird die durch die Pandemie ausgelöste
Rezession einen starken Anstieg der Arbeitssubstitution auslösen,
das heißt körperliche Arbeit wird durch Roboter und ‹intelligente›
Maschinen ersetzt, was wiederum dauerhafte und strukturelle
Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt hervorrufen wird.» (dt. S.
61f.)
Diese Ablösung ist bereits seit Jahrzehnten im
Gange. Zusammen mit Outsourcing und Zuwanderung hat sie die
kollektive Macht der Arbeit ohnehin schon geschwächt. Aber
zweifellos sind die Tech-Industrien bereit, viel, viel weiter und
schneller zu gehen, um Menschen aus der Arbeit zu verdrängen.
«Die
Covid-19-Krise und die damit einhergehenden Maßnahmen zur räumlichen
Distanzierung haben diesen Prozess der Innovation und des
technologischen Wandels nun plötzlich beschleunigt. Chatbots, die
sich oft auf die gleiche Spracherkennungstechnologie wie Alexa von
Amazon stützen, und andere Software, die Aufgaben anstelle von
menschlichem Personal ausführen kann, setzen sich rasch durch.
Diese, auf Notwendigkeit (wie z. B. Hygienemaßnahmen) beruhenden
Innovationen werden bald Hunderttausende und möglicherweise
Millionen von Arbeitsplätzen kosten.» (dt. S. 62)
Die
Senkung der Arbeitskosten ist seit langem das Leitmotiv dieser
Innovationen, nebst der internen Dynamik der Technologieindustrie,
«alles zu tun, was sie tun kann». Zur Rechtfertigung werden dann
sozial nützliche Vorwände erfunden. Etwa so:
«Da die
Verbraucher in nächster Zeit wahrscheinlich automatisierte Dienste
einem persönlichen Kontakt vorziehen, wird das, was derzeit im
Callcenter-Sektor geschieht, unweigerlich auch in anderen Bereichen
auftreten.» (dt. S. 62)
«Da die Verbraucher
wahrscheinlich vorziehen …»! Jeder, den ich kenne, klagt über die
Verzweiflung, wenn er versucht, die Bank oder die
Versicherungsgesellschaft zu erreichen, um einen Notfall zu erklären,
und statt dessen mit einer toten Stimme und einer Auswahl an
irrelevanten Nummern zum Anklicken konfrontiert wird. Vielleicht
unterschätze ich den Grad der Feindseligkeit gegenüber unseren
Mitmenschen, der heute die Gesellschaft durchdringt, aber mein
Eindruck ist, dass es eine große, unausgesprochene öffentliche
Nachfrage nach weniger automatisierten Diensten und mehr Kontakt mit
realen Menschen gibt, die außerhalb des Algorithmus denken und das
Problem tatsächlich verstehen können, anstatt einfach
vorprogrammierte Fehlerkorrekturen auszuspucken.
Es gibt eine
potentielle Bewegung da draußen. Aber wir hören nichts davon, weil
uns unsere Medien einreden, das größte Problem im täglichen Leben
der Menschen bestehe darin, dass jemand seine Verwirrung zeige
angesichts des verwirrten Gender-Geschlechts eines anderen.
Dabei,
so behaupte ich, würde sich die Nachfrage der Verbraucher mit dem
verzweifelten Bedürfnis der fähigen Menschen, ihren Lebensunterhalt
zu verdienen, zusammenfügen. Die Technokraten verdienen ansehnliches
Geld, indem sie anderen Menschen die Möglichkeit nehmen, ihren
Lebensunterhalt zu verdienen.
Hier ist eine ihrer großartigen
Ideen:
«So gibt es in so unterschiedlichen Städten wie
Hangzhou, Washington DC und Tel Aviv Bemühungen, von Pilotprogrammen
zu groß angelegten Aktionen überzugehen, die in der Lage sind, eine
Armee von Lieferrobotern auf die Straße und in die Luft zu bringen.»
(dt. S. 185)
Was für eine tolle Alternative zur Bezahlung
eines existenzsichernden Lohns an menschliche Lieferanten!
Und
nebenbei bemerkt: Ein Mann, der ein Lieferfahrrad fährt, nutzt
erneuerbare Energie. Aber all diese Roboter und Drohnen? Batterien,
Batterien und noch mehr Batterien! Hergestellt aus welchen
Materialien, die woher kommen und wie produziert werden? Von noch
mehr Robotern? Woher kommt die Energie, die nicht nur fossile
Brennstoffe, sondern auch die menschliche körperliche Anstrengung
ersetzen soll?
Auf dem letzten Treffen in Davos äußerte der
israelische Intellektuelle Yuval Harari eine eindringliche
Warnung:
«Während die Menschen in der Vergangenheit gegen
die Ausbeutung kämpfen mussten, wird im 21. Jahrhundert der wirklich
große Kampf der gegen die Bedeutungslosigkeit sein. […]
Diejenigen, die im Kampf gegen die Bedeutungslosigkeit scheitern,
werden eine neue ‹nutzlose Klasse› bilden – nicht
aus der Sicht ihrer Freunde und ihrer Familie, sondern nutzlos aus
der Sicht des wirtschaftlichen und politischen Systems. Und diese
nutzlose Klasse wird durch eine immer größer werdende Kluft von der
immer mächtiger werdenden Elite getrennt sein.» [1]
6
Und
das Militär. Unsere kapitalistischen Untergangspropheten prophezeien
den Teil-Kollaps der zivilen Luftfahrt und der Luftfahrtindustrie, da
die Menschen alle beschließen, zu Hause zu bleiben und an ihren
Bildschirmen zu kleben. Aber keine Sorge!
«Eine
Ausnahme stellt der Luft- und Raumfahrtsektor im Verteidigungsbereich
dar, der relativ sicher zu sein scheint.» (dt. S. 231)
Für
Kapitalinvestitionen zumindest. Anstatt auf Ferien an sonnigen
Stränden können wir uns auf Weltraumkriege freuen. Das könnte eher
früher als später passieren, denn, wie die Brookings Institution in
einem Bericht von 2018 darüber, «How artificial intelligence is
transforming the world» («Wie künstliche Intelligenz [KI] die Welt
verändert»), feststellt, geht alles schneller, auch der
Krieg:
«Die mit KI verbundene Big-Data-Analytik wird die
nachrichtendienstliche Analyse tiefgreifend beeinflussen, da riesige
Datenmengen nahezu in Echtzeit gesichtet werden […] und damit
Kommandeuren und ihren Stäben ein bisher nicht gekanntes Maß an
nachrichtendienstlicher Analyse und Produktivität liefern. Die
Befehls- und Kontrollfunktionen werden in ähnlicher Weise betroffen
sein, da menschliche Befehlshaber bestimmte Routine-, und unter
besonderen Umständen Schlüsselentscheidungen an KI-Plattformen
delegieren, wodurch sich die Zeit drastisch verkürzt, die
Entscheidung und anschließende Aktion verknüpft.» [2]küns
Es
besteht also keine Gefahr, dass irgendein weichherziger Offizier aus
sentimentaler Verbundenheit mit der Menschheit zögert, den dritten
Weltkrieg zu beginnen. Wenn die KI-Plattform eine Gelegenheit sieht,
dann nichts wie los!
«Letztendlich ist Kriegsführung ein
Wettbewerbsprozess um die Zeit, bei dem die Seite, die am schnellsten
entscheiden und am schnellsten zur Ausführung übergehen kann, in
der Regel die Oberhand behält. In der Tat können künstlich
intelligente Informationssysteme, verbunden mit KI-gestützten
Kommando- und Kontrollsystemen, die Entscheidungsunterstützung und
Entscheidungsfindung auf eine Geschwindigkeit bringen, die der
Geschwindigkeit der traditionellen Mittel der Kriegsführung weit
überlegen ist. Dieser Prozess wird so schnell sein, insbesondere
wenn er mit automatischen Entscheidungen zum Einsatz künstlich
intelligenter autonomer Waffensysteme mit tödlicher Wirkung
gekoppelt ist, dass ein neuer Begriff geprägt wurde, um die
Geschwindigkeit der Kriegsführung zu beschreiben: Hyperwar».[3]
Die
Amerikaner haben die Wahl. Entweder sie streiten sich weiter über
Belanglosigkeiten oder sie wachen auf – wachen wirklich
auf, erkennen die geplante Realität und tun etwas dagegen.
Die
Zukunft wird durch Investitionsentscheidungen gestaltet. Nicht durch
unanständige Reden, nicht einmal durch Wahlen, sondern durch
Investitionsentscheidungen. Damit das Volk seine Macht zurückgewinnt,
muss es seine Herrschaft darüber, wie und für welche Zwecke Kapital
investiert wird, wieder geltend machen.
Und wenn privates
Kapital sich dagegen sperrt, muss es sozialisiert werden. Das ist die
einzige Revolution – und es ist auch der einzige
Konservatismus, der einzige Weg, um anständiges menschliches Leben
zu erhalten. Darum geht es in der Realpolitik. •
Quellen:
[1]
https://www.weforum.org/agenda/2020/01/yuval-hararis-warning-davos-speech-future-predications/
[2]
https://www.brookings.edu/research/how-artificial-intelligence-is-transforming-the-world/
[3]
a.a.O.
Diana Johnstone lebt in Paris. Ihr neuestes Buch ist
«Circle in the Darkness: Memoirs of a World Watcher » (Memoiren
einer Weltbeobachterin). Atlanta 2020. ISBN 978-1-949762-13-6.
Außerdem erschien «Fools’ Crusade: Yugoslavia, NATO and Western
Delusions.» 2002.(ISBN 978-1-58367-084-2), «Queen of Chaos: the
Misadventures of Hillary Clinton. » Deutsch: Die Chaos Königin.
Frankfurt 2016 (ISBN 978-3-866489-135-9). Sie schrieb ausserdem ein
Vorwort und einen Kommentar zu den Memoiren ihres Vaters, Paul H.
Johnstone – ehemaliger leitender Analytiker der
Strategic Weapons Evaluation Group (WSEG) im Pentagon –,
die unter dem Titel «From MAD to Madness. Inside Pentagon Nuclear
Planning» 2017 erschienen.
Quelle der englischen
Originalveröffentlichung:
https://consortiumnews.com/2020/11/24/diana-johnstone-the-great-pretext-for-dystopia/
(24.11.2020)
Deutsche
Veröffentlichungen:
https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2020/nr-30-29-dezember-2020/der-grosse-vorwand-fuer-eine-anti-utopie.html
(Abdruck mit der freundlichen Genehmigung der Autorin)
sowie
https://www.seniora.org/wunsch-nach-frieden/demokratie/der-grosse-vorwand-fuer-eine-anti-utopie
(05.01.2021 – Text auf Grundlage der Übersetzung durch
zeit-fragen.ch)
Wir danken Seniora.org für das Recht auf
Zweitveröffentlichung
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