Entnommen: https://www.freidenker.org/?p=19638
Scheuklappen gegen Realismus
7. August 2024
Deutsches Staatsschiff von Ignoranz gekapert
von Hartmut König
Erstveröffentlichung in der UZ vom 2. August 2024
Emmanuel Todd, einer der bekanntesten Historiker Frankreichs, hat der
„Berliner Zeitung“ ein Interview gegeben, in dem er den Wertewesten als
im freien Fall und das deutsche Segment darin als in unseliger
amerikanischer Fesselung beschreibt. Er wirft einen realistischen Blick
auf den Ukraine-Krieg und erkennt in dessen Vorgeschichte das
provokatorische Kalkül des Westens. Vor dem Februar 2022 habe sich die
NATO nach Osten ausgedehnt. Beim Maidan sei es zu einer direkten
Intervention der US-Amerikaner gekommen. Am Ende habe der Westen
begonnen, die ukrainische Armee bis an Russlands Grenzen aufzurüsten,
obwohl Moskau klar gemacht hatte, dass es eine in die NATO integrierte
Ukraine nicht tolerieren könnte. Wenn er nun sage, die Ukraine haben den
Krieg bereits verloren, spreche er nur aus, was das Pentagon oder der
französische Generalstab denken.
Todd hält Deutschland, auf das die antirussische Sanktionspolitik des
Westens krass zurückschlägt, für einen „entscheidenden Akteur“ im
Ukraine-Krieg. Anfang der 2000er Jahre habe es eine Annäherung zwischen
Europa und Deutschland mit Russland gegeben. Dass Schröder, Putin und
Chirac gemeinsam eine Front gegen den Irak-Krieg bildeten, habe die
US-Amerikaner in ihrer Furcht bestärkt, Deutschland als eine der größten
Industriemächte der Welt könnte sich mit dem Energiegiganten Russland
zusammentun und sie aus Europa verdrängen. Mit der Eskalation in der
Ukraine sei es schließlich gelungen, Deutschland von Russland zu
trennen. Die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines sei das Sahnehäubchen
gewesen. Trotzdem oder gerade deshalb fliegen die Hoffnungen des
geopolitisch alarmierten Historikers hoch, Deutschland würde seiner
Verantwortung als „Führungsmacht in Europa“ gerecht werden, sich aus der
Umklammerung der USA lösen und maßgeblich auf die Entscheidung drängen,
dass der Krieg nicht endlos weitergeht, sondern Frieden einkehrt. „Wir
alle warten darauf, dass Berlin den Krieg beendet.“
Todds Stoßgebet, das bei weiten Teilen der Bevölkerung sein Amen fände,
hat nicht die Ignoranz im Blick, die sich des deutschen Staatsschiffs
bemächtigt hat. Ampel und Merzsches Oppositionstheater verharren trotz
gravierender wirtschaftlicher Nachteile in überseeischer
Nibelungentreue. Ideologische Verblendung lassen sie widerspruchslos
hinnehmen, dass die fehlgesteuerte EU jede Option eines selbstbewussten,
ökonomisch aufstrebenden, global gerechteren Players verloren hat.
Scheuklappen hindern ihren Blick auf die Realitäten der Zeit. Die
westliche Sphäre unerfüllter Wertebehauptungen verliert an Einfluss.
Neokolonialistische Attitüden, oft als Entwicklungshilfe getarnt, stoßen
auf ein neues Selbstbewusstsein der Völker im globalen Süden. Die
Zukunftsorte des Fortschritts verlagern sich. Die Welt ist im Wandel.
Todd schreibt, die „wahre Dynamik des Niedergangs des Westens ist ein
innerer Zerfall mit Amerika im Zentrum“. Der Neoliberalismus habe
Wirtschaft und Gesellschaft zerstört. Außenpolitisch drücke sich das in
der Bevorzugung des Krieges gegenüber dem Frieden aus.
Hierzulande ist „Kriegstüchtigkeit“ das medial verordnete Mantra, mit
dem die Gesellschaft militarisiert und der irrsinnige Reibach der
Waffenindustrie begründet werden soll. Jüngst wurde gemeldet, dass
mehrere Ministerien an einem Strategiepapier zugunsten der
„Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie“ arbeiten. Beschleunigt und
nach vereinfachten Verfahren sollen Rüstungsfabriken entstehen. Die
geplante Stationierung von Langstreckenwaffen der USA in der BRD hat
Verteidigungsminister Pistorius ad hoc für unverzichtbar erklärt. Gegen
zaghafte Einwände des SPD-Politikers Mützenich polterte Außenministerin
Baerbock, dem eiskalten Kreml sei nur mit verstärkter Abschreckung
beizukommen. Todds Hoffnungen auf Deutschlands Friedenstüchtigkeit
verfangen sich in bellizistischen Netzen. „Nicht in meinem Namen“ wäre
Volkes beste Antwort auf Vorbereitungen zum Krieg.
Dr. Hartmut König ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbande
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