Entnommen: https://linkezeitung.de/2024/08/08/europa-ruestet-auf/
Europa rüstet auf
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 8. AUGUST 2024 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
von Rüdiger Rauls – https://ruedigerraulsblog.wordpress.com
Die NATO-Europäer fürchten Russland und Trump. Gegen Russland soll die
Aufrüstung helfen. Aber das Geld ist knapp. Zudem ist die europäische
Rüstungsindustrie im Gegensatz zur russischen teuer und zersplittert.
Wie will Europa kriegstüchtig werden?
Kriegsentscheidend
Kriege werden gewonnen durch überlegene Waffen oder durch hohe
Opferbereitschaft. Während des Zweiten Weltkriegs war die Sowjetunion
den faschistischen Invasoren waffentechnisch weit unterlegen. Dasselbe
galt für den Vietcong im Vietnamkrieg. Beide machten diese
technologische Unterlegenheit wett durch eine große Opferbereitschaft
ihrer Völker, denn diese wussten, was für sie auf dem Spiel stand.
Dementsprechend hoch waren die Opfer an Menschenleben.
Die Sowjetunion verlor über zwanzig Millionen ihrer Bürger, Vietnam
hatte mehr als zwei Millionen Tote zu beklagen. Dennoch trugen beide den
Sieg davon über einen wirtschaftlich und technisch überlegenen Gegner.
Gestützt durch den politischen Westen, konnte Israel trotz seiner
verhältnismäßig geringen Bevölkerung, aber aufgrund seiner
wirtschaftlichen und technischen Überlegenheit die arabische Welt in
Schach halten. Doch im aktuellen Konflikt mit der palästinensischen
Bevölkerung reicht diese technische Überlegenheit nicht mehr aus. Seit
fast einem Jahr gelingt es Israel nicht, den Widerstand in den
Palästinensergebieten zu brechen.
Im Krieg in der Ukraine ist Russland im Vorteil wegen seines hohen
technischen Niveaus. Die Opferbereitschaft auf beiden Seiten der Front
unterschied sich kaum zu Beginn des Krieges. Sie schwand in der Ukraine
erst seit der inzwischen gescheiterten Gegenoffensive. Dagegen sieht
sich der politische Westen aufgrund der mangelnden Kampfbereitschaft
seiner Völker nicht in der Lage, einen konventionellen Krieg gegen
Russland zu führen. Ausgerechnet Militärs warnen vor einem solchen
Abenteuer.
Diese kritisieren einen erheblichen Mangel an Ausrüstung und Kapazitäten
der Waffenproduktion in Europa. Die europäischen Waffenhersteller
verfügen kaum über kriegsentscheidende Größen. Das liegt zum einen am
Mangel an finanziellen Mitteln für eine Aufrüstung im gewünschten Maße,
die auch nicht zu deutlich spürbar zulasten der sozialen Verpflichtungen
gehen darf. Zum anderen ist die europäische Waffenherstellung immer
noch sehr stark national zerteilt und vor allem im Gegensatz zu China
und Russland weitestgehend in privaten Händen.
Das bedeutet, dass sich die Herstellung von Waffen und die Investition
in neue Produktionskapazitäten für die Eigentümer der Waffenschmieden
rechnen muss, sonst produzieren und investieren sie nicht.
Vaterlandsliebe ist für sie keine Entscheidungsgrundlage. Es sind die
Soldaten, denen man den Fleischwolf des Krieges schmackhaft machen will
mit dem Kampf für Höheres. Sie sollen ihr Leben riskieren für Vaterland
und Werte. Die Waffenschmieden hingegen ziehen Dollar und Euro als Werte
vor.
Rendite, Rendite, Rendite
Damit Rüstungsunternehmen mehr produzieren und in zusätzliche
Produktionsstätten investieren, erwarten sie vom Staat Abnahmegarantien
beziehungsweise Subventionen für die Entwicklung neuer Waffensysteme.
Vorher läuft da nichts. Die weitgehend nationalstaatlich organisierte
Rüstungsproduktion in Europa ermöglichte bisher nur kleine
Produktionsmengen, weil jeder Staat bei der Ausstattung der eigenen
Armee die Produkte der eigenen Rüstungsschmieden bevorzugte.
Bei Ausbruch des Ukrainekrieges zeigte diese national beschränkte
Rüstungspolitik in Europa ihre Schwächen bei einem erhöhten Bedarf an
militärischer Ausrüstung. „Weil europäische Kapazitäten begrenzt sind,
deckten viele Mitgliedsstaaten ihren unmittelbaren Bedarf in den
Vereinigten Staaten, Südkorea und anderen Staaten“(1).
Immer wieder waren Versuche von Zusammenschlüssen europäischer
Rüstungsunternehmen am Gerangel über die Aufteilung eines
umfangreicheren Rüstungsprojekt unter den beteiligten Unternehmen und
Staaten gescheitert. Aus diesem Grund war unlängst der geplante
Zusammenschluss zwischen dem Leopard-Hersteller KNDS, einer Fusion
zwischen der deutschen Kraus-Maffei-Wegmann(KMW) und dem französischen
Waffenhersteller Nexter, mit der italienischen Leonardo-Gruppe geplatzt.
Trotz der Vermittlungsversuche der nationalen Regierungen konnte man
sich nicht über die Aufteilung der Produktion einigen.
Die Italiener forderten einen höheren Anteil am Produktionswert, was
nichts anderes bedeutet als mehr Gewinn. An den Renditeerwartungen
findet jedes staatliche Rüstungsprogramm seine Grenzen. Das ist der
Nachteil einer privatwirtschaftlichen Rüstungsindustrie. Wenn die
Rendite nicht stimmt, sind westliche Werte, der Schutz des Vaterlandes
und selbst die russische Bedrohung bedeutungslos. An oberster Stelle
steht für Besitzer und Aktionäre der Ertrag des Unternehmens, alles
andere kommt erst danach. Das ist der entscheidende Nachteil der
westlichen Rüstungsproduktion gegenüber russischer und chinesischer.
Diese sind nicht auf Rendite ausgerichtet, was bedeutet, dass nicht die
finanziellen Interessen von Besitzern und Kapitalgebern in der
Preisfindung für die Waffen bedient werden müssen. Deshalb ist deren
Produktion günstiger und vor allem ergiebiger. Für eine Bestellung von
200.000 Granaten im NATO-Standard-Kaliber 155 Millimeter musste die
Bundesrepublik zuletzt über 6.500 Euro pro Stück zahlen, zuzüglich
weiterer Kosten, bis die Geschosse einsatzfähig sind.
„Im Vergleich dazu betragen die Durchschnittskosten für eine russische
152-mm-Granate etwa 1.000 US-Dollar.“ (2). Das bedeutet, dass zu
vergleichbaren Kosten Russland mindestens siebenmal so viele Granaten
herstellen kann. Das ist ein Vorteil, der selbst durch eventuell
fortschrittlichere westliche Produktionsanlagen nicht so schnell
wettgemacht werden kann. Und besonders im Ukraine-Krieg hat sich der
strategische Vorteil der Artillerie erneut bewiesen.
Europäische Lösungsversuche
Auf diesen strategisch bedeutsamen Produktions- und Kostennachteil
reagieren die Europäer mit dem Versuch, die europäische
Rüstungsindustrie gesamteuropäischer aufzustellen. Die Kleinstaaterei im
Bereich der Waffenproduktion soll aufgelöst werden durch die Schaffung
großer übernationaler Rüstungsprojekte. Man will „der Zersplitterung
des Marktes und der Vielzahl von Systemen entgegenwirken“(3). Neustes
Projekt ist der Aufbau eines europäischen Luftverteidigungsschilds, denn
man benötigt „gemeinsame Projekte, um die Fragmentierung der
europäischen Rüstungsindustrie zu überwinden“(4).
Aber auch diesem politischen Interesse besonders der europäischen
NATO-Staaten stehen die privaten Interessen der Rüstungsunternehmen
gegenüber. Viele nationale Waffenhersteller wie zum Beispiel die
Panzerproduzenten KNDS und Rheinmetall sind im europäischen Rahmen und
auf dem Weltmarkt Konkurrenten. Wenn es um Zusammenschlüsse geht, wollen
sie sich nicht von anderen Herstellern in die Karten schauen lassen,
was Produktionsverfahren, technische Lösungen und sonstige
Konkurrenzvorteile angeht.
„Das Panzervorhaben ist eines von etlichen lahmenden
deutsch-französischen Rüstungsprojekten“(5), das Opfer der
Eigeninteressen des privaten Unternehmertums und seiner
Renditeerwartungen wurde. Das hatte sich sogar auf das Verhältnis
zwischen Deutschland und Frankreich übertragen. In Paris war man darüber
verstimmt, „dass Deutschland Milliarden-Einkäufe für seine Streitkräfte
in den Vereinigten Staaten tätigt“(6). Dabei handelt es sich um die
Anschaffung von amerikanischen F-35-Kampfflugzeugen in Höhe von etwa 10
Milliarden Euro. Diese Summe hätte Frankreich lieber in französische
Rafale investiert gesehen.
Um solchen nationalen Empfindlichkeiten ein Ende zu machen, hatte sich
noch vor der Europawahl Kommissionspräsidentin von der Leyen für eine
europäische Verteidigungsunion unter Leitung eines allein für
Rüstungsfragen zuständigen Kommissars stark gemacht. Denn
„Standardisierung, gemeinsame Fertigung und Beschaffung sind Aufgaben,
die in der EU gemeinsam besser gelöst werden können als einzeln in den
Mitgliedsstaaten“(7).
Aber auch hier ist wieder das Privatinteresse der Hersteller die große
Hürde, die übersprungen werden muss. Um den Waffenschmieden eine
gemeinsame Produktion im Sinne einer gesamteuropäischen Politik
schmackhaft zu machen, sollen ihnen lukrative Angebote gemacht werden.
Dazu soll ein neuer europäischer Rechtsrahmen geschaffen werden, das
sogenannte Europäische Rüstungsprogramm.
Mehr Europa
Ziel dieses Vorhabens ist, in gemeinsame Rüstungsprojekte mindestens
drei EU-Staaten einzubinden. Dazu sollen die Vorschriften für die
Auftragsvergabe vereinfacht und die Regelungen für Waffenexporte
erleichtert werden. Denn mehr Waffenexporte erhöhen die
Produktionsziele der Unternehmen und damit die Gewinnaussichten. Unter
diesen Bedingungen erzielbare niedrigere Stückpreise verbessern die
Stellung europäischer Waffenhersteller auf dem Weltmarkt.
Darüber hinaus winken europäische Fördermittel und eine Senkung der
Mehrwertsteuer für die an gemeinsamen Projekten beteiligten Unternehmen.
Die EU-Kommission will zudem den Umbau der Lieferketten unterstützen,
womit vermutlich die Ausgliederung chinesischer Produkte gemeint sein
dürfte. Auch eine Vorzugsregelung für die militärische Produktion soll
eingeführt werden. Das bezieht sich vermutlich auf die Förderung solcher
Vorhaben durch die Europäische Investitionsbank (EIB), die bisher nur
zivile Investitionen fördern durfte oder in Ausnahmefällen solche mit
militärisch-ziviler Nutzung (dual-use).
Der französische Kommissar für Wirtschaftsförderung in der EU, Thierry
Breton, der bisher noch zuständig ist für Waffengeschäfte im Rahmen des
europäischen Friedensfonds, hat für den Aufbau einer gesamteuropäischen
Rüstungsindustrie bereits eine Zahl ins Spiel gebracht. Er wünscht sich
einen „mit 100 Milliarden Euro ausgestatteten Fond, mit dem die Staaten
in großem Stil in Europa Waffen kaufen könnten“(8), europäische Waffen
statt EU-fremder.
Aber selbst wenn es den Europäern gelingt, eine leistungs- und damit
konkurrenzfähigere Rüstungsindustrie aufzubauen, ist das Kernproblem
gegenüber den strategischen Gegnern Russland und China damit nicht
gelöst: Das ist die Kampfbereitschaft der eigenen Bevölkerung. Die
Mehrheit will keinen Krieg mit Russland, und es ist ihnen vermutlich
schwer verständlich zu machen, inwiefern sie im Baltikum oder in der
Ukraine durch Russland bedroht sein sollen.
Wenn auch die westlichen Meinungsmacher nicht müde werden, die russische
Bedrohung an die Wand zu malen, so ist doch vielen Menschen im
politischen Westen bewusst, dass sich Russland bis 2022 keinen
Millimeter nach Westen bewegt hatte. Dagegen hatte sich die NATO in
mehreren Erweiterungsrunden immer näher an die russischen Grenzen
herangeschoben. Noch schwieriger dürfte es sein, sowohl Europäern als
auch Amerikanern zu erklären, inwiefern sie Tausende Kilometer entfernt
im südchinesischen Meer bedroht sein sollen.
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung(FAZ) vom 6.3.24: Wie Europas Verteidigungsindustrie stärker werden soll
(2) Ukrinform vom 31.7.2024
(3) FAZ vom 6.3.24: Wie Europas Verteidigungsindustrie stärker werden soll
(4) FAZ vom 25.5.25: Vorstoß für europäische Raketenabwehr
(5) FAZ vom 29.4.24: Die Rüstungskooperation ist nicht tot
(6) ebenda
(7) FAZ vom 24.2.24: Eine Verteidigungsunion schaffen. Meinungsbeitrag von Ursula von der Leyen und Friedrich Merz
(8) FAZ vom 6.3.24: Wie Europas Verteidigungsindustrie stärker werden soll
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse
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