MORGENROT
LEBENS-TRÄUME
IN
TITANIC-ZEITEN
Unter
diesem Titel veröffentlichte der Autor Harry Popow im
veröffentlichte der Autor Harry Popow im Juni 2022 aus aktuellem
Anlass sein neues Buch.
Sprache: Deutsch
Format: DIN
A5 hoch
Seiten: 482
Altersempfehlung: Erwachsene (18 -
99)
Erscheiungsdatum: 18.06.2022
ISBN: 9783756506316
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Leseproben
8.
Folge
S.94
Parade
in Berlin
Abfahrt vom Oberen Bahnhof in Plauen. Schlager aus Kofferradios fast in jedem Güterwagen. Einige greifen zur Gitarre. Die Jungs sind lustig. Es geht nach Berlin. Der 1. Mai steht vor der Tür. Auf dem Marx-Engels-Platz sollen die Jungs paradieren. Sie freuen sich. Immerhin eine Abwechslung. Vielleicht wird man paar Mädchen sehen, wer weiß. Fit sind sie jedenfalls für den Vorbeimarsch. Wie haben sie sich geschunden. Abend für Abend – tagsüber ging schließlich der Schuldienst weiter – auf dem Exerzierplatz: Gewehrgriffe gekloppt, den Exerzierschritt geübt, erst einzeln, dann in Rotten, dann in ganzen Marschblöcken. Acht geschlagene Wochen lang. Gegen Mittag treffen die Schüler in Berlin-Stahnsdorf ein. Hier in einer alten Kaserne werden sie schlafen und essen. Am Abend vier Stunden Fahrt mit Kraftfahrzeugen der NVA um das südliche Berlin herum zum Marx-Engels-Platz. Kräftiges Essen aus der Feldküche auf dem Hof des Finanzministeriums. Mitternacht wird es empfindlich kühl, doch die nächtliche Probe hält einen warm. Deutlich sieht man die erleuchtete Uhr vom Rathaus. Die Uhr geht auf Mitternacht zu. Man wird müde.
Früh 7 Uhr waren die Paradeleute wieder in Stahnsdorf, dem Ort, der für ihn und Cleo einst das erste gemeinsame Zuhause sein wird. Aber davon kann Henry nichts ahnen, er hat wie immer ein Auge für das herrliche Frühlingsgrün, für die wunderschön weiß blühenden Obstbäume. Er schreibt: Als wir gestern die Stalinallee entlang fuhren - überall Lichterglanz, Reklame, sich küssende Pärchen, viele Spaziergänger. Alles ist sehr amüsant. Ich spüre, dass das Leben noch mehr zu bieten hat als das Armeeleben. Manchmal muss man dies schnuppern können, um Kraft zu erhalten, um nicht zu verzagen. Ohnehin: In mir erwacht der Städter. Seit 1954 war ich nicht mehr in Berlin. Herrlich ist es hier. Gute Nacht Cleo.
Ein Sonnabend. Die Offiziersschüler dürfen in Stahnsdorf nicht ausgehen. Wohin auch? Nach dem zehn Kilometer entfernten Potsdam? Außerdem, in greifbarer Nähe befindet sich die Endstation der S-Bahn. Die Bahn führt nach wenigen Metern direkt nach Westberlin hinein. Henry überlegt, abends vielleicht in den Regimentsklub zu gehen, mal sehen, welchen Film die heute spielen. Es ist 17.25 Uhr. Er liegt rücklings auf der Decke und schaut in den mit Schäfchenwolken bedeckten Himmel. Ein herrliches Wetter. Schlager erklingen. Gestern mussten alle auf der Straße vor dem Objekt noch einmal paradieren, damit auch nichts schief geht vor der „Weltöffentlichkeit“. Adam, der ehemalige Adjudant von Paulus in der Stalingrader Schlacht, schaute den Paradierenden – neben den Stabsleuten stehend - vom Straßenrand aus zu. Er ist groß und breit, und er nickte beifällig, mehr konnte man nicht sehen.
Sonntag. Strahlender Sonnenschein. Man sonnt sich. Jazz am laufenden Band von der Kapelle der Seestreitkräfte. Elegant und geschmackvoll gekleidete junge Mädchen, die auch der junge Mann - auf der Wiese innerhalb des Kasernenzaunes liegend - beobachten kann. Sie kommen vom nahegelegenen S-Bahnhof Stahnsdorf, also aus Westberlin. Am Abend kulturelle Betreuung: Der Film „Das Geständnis“. Übermorgen ist es endlich soweit: Die Parade! Verpflegung wird auch besser. Dienstag war Meeting mit Hans Marchwitza, dem Schriftsteller. Doch Henry hat sich nichts gemerkt, was er sagte. Vielleicht war er mit den Gedanken bei Cleo?
1. Mai 1957. Schon früh um 5 Uhr sind die Paradetruppen in der Nähe des Marx-Engels-Platzes eingetroffen. 8.30 Uhr. Sie nehmen gegenüber der Tribüne Aufstellung. „Rührt euch!“ Dann warten, warten. Stille liegt über dem Platz. Wie viele Minuten noch? Keiner wagt, nach seiner Armbanduhr zu schauen. Die Sonne prallt auf die schweren und heißen Stahlhelme. Henry denkt, hoffentlich geht alles gut, ihm klopft das Herz bis sonst wohin. Wenn nur niemand ins Stolpern kommt, nicht auszudenken. Er wischt Befürchtungen einfach weg, dann wird ihm wohler. Er erinnert sich: Vor Jahren war er an der Spitze der Wilhelm-Pieck-Schule als Trommler, der den Tritt angibt, an der Tribüne vorbeimarschiert, und jetzt in Uniform. Er hält Linie, Henry ist zufrieden. Sein Blick geht zur Tribüne, da sieht er, ein Genosse aus seinem Block, er steht ausgerechnet in der ersten Reihe, fällt plötzlich um, eine Ohnmacht. Schnell und lautlos wird er nach hinten gebracht, ein Ersatzmann ist schon zur Stelle. Es ist an alles gedacht. Endlich. Die Uhr vom Roten Rathaus schlägt neunmal. Meldung des Kommandanten der Parade an den Minister. Da fallen Flugblätter vom Himmel. Klar, Westberlin liegt fast in Rufweite hinter dem Brandenburger Tor. Man will von drüben provozieren? Lachhaft. Dann das Kommando: „Rechts um! Das Gewehr über. Im Gleichschritt marsch!“ Großer Schwenk, wenig später geht der Gleichschritt in den Exerzierschritt über. Viele Meter vor der Tribüne senkt sich die Linke mit dem Gewehrkolben und die Rechte ergreift den Karabiner, der nun in die linke Hand geschmettert wird, der Kopf wendet sich ruckartig nach rechts, der Blick geht hinauf zur Regierung. Acht geschlagene Wochen Training in Plauen auf dem Exerzierplatz haben sich ausgezahlt. Was in Fleisch und Blut übergegangen ist, bleibt vorführbar – auch nach Jahren noch, zum Gaudy für die Enkel... Wenig später marschieren die Schüler bereits auf der Stalinallee, der späteren Karl-Marx-Allee. Begeisterte Leute, Beifall.
Als die Offiziersschüler am 2. Mai früh um 7.30 Uhr wieder in Plauen eintreffen, müde und zerschlagen, erfahren sie, sie sollen auch in ihrer Garnisonstadt paradieren, und zwar am 8. Mai, dem Tag der Befreiung. Freude darüber empfindet vielleicht nur Henry, hofft er doch, Cleo sieht ihn. Ob sie darauf reflektieren würde, dieser Gedanke kommt ihm erst gar nicht.
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