Entnommen: https://linkezeitung.de/2023/11/03/wer-ist-die-hamas/
Wer ist die Hamas?
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 3. NOVEMBER 2023 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
von Karin Leukefeld – http://www.unsere-zeit.de
Bild: Demonstration in Gaza zum Geburtstag der Hamas 2016 (Foto: DYKT Mohigan / flickr / CC BY 2.0 Deed / Bearbeitung: UZ)
Die Hamas ist heute politisch, sozial und militärisch die größte und
stärkste palästinensische Partei sowohl im Gazastreifen als auch in den
von Israel besetzten Gebieten im Westjordanland. Die Organisation, die
von Israel und ihren Partnern in den USA und Europa als
„Terrororganisation“ mit dem „Islamischen Staat im Irak und in der
Levante“ verglichen und entsprechend bekämpft wird, entstand 1987 als
palästinensischer Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft.
In jenem Jahr war der Zorn der palästinensischen Jugend auf die
israelische Besatzung in der Ersten Intifada ausgebrochen, die auch
„Krieg der Steine“ genannt wurde. Auslöser war, Berichten zufolge, dass
ein Jeep der israelischen Besatzungsarmee – in anderen Berichten ist die
Rede von einem Panzer – vier Palästinenser überfuhr und tödlich
verletzte. Drei der vier Männer stammten aus dem palästinensischen
Flüchtlingslager Jabalya in Gaza. Rund 10.000 Menschen begleiteten die
Toten am nächsten Tag zum Friedhof, es war der 9. Dezember 1987. Die
israelische Besatzungsarmee feuerte wahllos in den Trauerzug. Ein
17-Jähriger wurde getötet, 16 Personen wurden verletzt. Die Beerdigung
des Jugendlichen am darauffolgenden Tag wurde zum Protest gegen die
israelische Besatzungsmacht.
Zu diesem Zeitpunkt waren der Gazastreifen, das Westjordanland und
Ostjerusalem seit 20 Jahren unter israelischer Besatzung. Diese Gebiete
waren nach jahrelanger israelischer Landnahme übrig geblieben vom
UN-Teilungsplan des Jahres 1948. Im Sechstagekrieg 1967 hatte die
israelische Armee neben diesen Gebieten die syrischen Golanhöhen und die
ägyptische Sinai-Halbinsel besetzt.
Zurück ins Jahr 1987. Die Besatzungsmacht regierte mit eiserner Faust
und drangsalierte die Bevölkerung mit Ausgangssperren, Razzien,
Festnahmen, Deportationen und Hauszerstörungen. Die Lage war angespannt,
die damaligen politischen Führer der Palästinenser berieten. Der Tod
der vier Palästinenser aus dem Flüchtlingslager Jabalya im Gazastreifen
brachte das Fass zum Überlaufen.
Die erste Intifada
Die Mobilisierung war nicht aufzuhalten. Während die Älteren ihren Zorn
gegenüber der Besatzungsmacht durch Streiks zum Ausdruck brachten,
konfrontierten Kinder und Jugendliche die israelischen Soldaten mit
Steinen. Die Fatah war damals neben den säkularen Organisationen wie der
Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und der Demokratischen Front
zur Befreiung Palästinas (DFLP) die stärkste Organisation in den
besetzten Gebieten. Sie unterstützte Streiks und Massenproteste, führte
aber auch – unter dem Einfluss anderer Länder – Gespräche mit der
Besatzungsmacht.
Jewish settlements 1947 - Wer ist die Hamas? - Hamas, Nahost-Konflikt - Hintergrund
Jüdische Besiedlung des britischen Mandatsgebiets Palästina, 1947 (orange markierte Regionen)
In dieser Zeit entstand die Hamas als islamische Widerstandsbewegung –
und klares Gegengewicht zur Fatah, die wegen ihrer Gespräche mit der
Besatzungsmacht in der Kritik stand. Israel förderte die Organisation,
indem es Geldzahlungen an die Hamas zuließ und ihre Kader und Aktivisten
im Gegensatz zu den anderen palästinensischen Organisationen nicht
verfolgte, verhaftete oder tötete. Israels Ziel war, Uneinigkeit und
Streit zu fördern und die Spaltung der Palästinenser zu vertiefen.
Doch die Hamas entwickelte sich zu einer politischen Organisation, die
sich – entsprechend den Regeln der sunnitischen Muslimbruderschaft – vor
allem im sozialen Bereich engagierte. Sie unterstützte Familien im
Alltag, half wenn Angehörige verletzt oder verhaftet wurden. Islamische
und andere Schulen entstanden sowie Kindergärten und medizinische
Einrichtungen. Der so hergestellte Zugang zur Bevölkerung schaffte
Vertrauen und Anhänger.
Aus den Erfahrungen der Intifada entstanden die Al-Kassam-Brigaden, der
militärische Flügel der Hamas. Der Name geht zurück auf den syrischen
Militärführer Izz ad-Din al-Kassam, der 1935 bei einem Kampf arabischer
Widerstandskämpfer gegen die britische Mandatsarmee und zionistische
Milizen getötet worden war.
1988 akzeptierte die Fatah, Israel ein Territorium von 78 Prozent
Palästinas zuzugestehen, das 1948 – mit der Vertreibung der
Palästinenser, der Nakba – eingenommen worden war. Für einen möglichen
Staat Palästina sollten demnach 22 Prozent des ursprünglichen
Territoriums bleiben. Die Hamas verurteilte die Entscheidung und lehnte
die Verhandlungen mit Israel ab. Sie rief zum bewaffneten Widerstand und
zur Auflösung von Israel auf. Ziel der Hamas war die Rückkehr der
Palästinenser in ihr Territorium entsprechend der Grenzen von 1948.
Derweil wurden Häuser und Höfe von Palästinensern verwüstet, Oliven- und
Obstbäume entwurzelt oder gefällt. Illegale jüdische Siedler
unterstützten die Besatzungstruppen mit Angriffen gegen die
Palästinenser. Allein im ersten Jahr der Intifada wurden nach Angaben
der „UN-Organisation zur Unterstützung der palästinensischen Flüchtlinge
(UNRWA)“ 300 Palästinenser getötet, 20.000 verletzt und 5.500
verhaftet. Nach Schätzungen der schwedischen Organisation „Save the
Children“, die in den besetzten Gebieten und palästinensischen
Flüchtlingslagern arbeitete, mussten in den ersten zwei Jahren der
Intifada bis zu 29.900 Kinder wegen Verletzungen durch Schläge der
Besatzungstruppen medizinisch behandelt werden. Ein Drittel dieser
Kinder sei jünger als 10 Jahre alt gewesen, so der Bericht.
Verhandlungen beginnen
1991 wurde unter Druck der USA die Madrider Friedenskonferenz
einberufen, auf der die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO)
als „einzige legitime Vertretung“ der Palästinenser anerkannt wurde.
Israel wurde an den Verhandlungstisch gedrängt, es folgten
Geheimverhandlungen zwischen der PLO und der israelischen Regierung
unter Vermittlung Norwegens. Ergebnis war das Oslo-Abkommen, das unter
anderem vorsah, dass sich die israelischen Besatzungstruppen innerhalb
von fünf Jahren aus den besetzten Gebieten zurückziehen und eine
„Palästinensische Behörde“ den Übergang zu einem unabhängigen Staat
organisieren solle. 1993 wurde das Abkommen zwischen dem damaligen
israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin und dem PLO-Vorsitzenden
Jassir Arafat unterzeichnet. Die Unterzeichnung fand im Garten des
Weißen Hauses in Washington in Anwesenheit des damaligen US-Präsidenten
Bill Clinton statt.
Die Hamas lehnte das Oslo-Abkommen ab, das nach sechs Jahren die
Intifada zunächst beendete. Fast 1.500 Palästinenser und 185 Israelis
waren getötet worden. Mehr als 120.000 Palästinenser wurden verhaftet.
Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete in dieser Zeit die Resolutionen 607
und 608/1988, mit denen Israel aufgefordert wurde, keine Palästinenser
mehr von ihrem Land zu vertreiben, zu deportieren und sicherzustellen,
dass die betroffenen Palästinenser sicher wieder in ihre Gebiete
zurückkehren konnten.
Israels Besatzung hielt an, der palästinensische Widerstand ging weiter
und wurde militanter, Selbstmordanschläge gegen Israelis nahmen zu. Die
Reaktion war weitere Unterdrückung gegen die Palästinenser. Illegale
Siedlungen wurden in den besetzten Gebieten errichtet, die mit einer
Trennmauer abgeriegelt wurden. Getrennte Verkehrswege und Absperrungen
formten schließlich ein Apartheidregime, in dem Siedler gesichert und
Palästinenser entrechtet wurden.
Die zweite Intifada
Im Jahr 2000 kam es zur zweiten Intifada. Israelische Besatzungstruppen
und israelische Ziele wurden von Kampfgruppen aller palästinensischen
Organisationen mit Bomben und Raketen angriffen. 2005 zog sich die
israelische Besatzungsarmee aus dem Gazastreifen zurück, vier Siedlungen
wurden aufgelöst. 2006 fanden unter internationaler Beobachtung
Parlamentswahlen statt, die deutlich von der Hamas mit ihrer Liste
„Wandel und Reformen“ gewonnen wurde. Sie erhielt 74 von 132 Sitzen,
Fatah erhielt 45 Sitze.
Zwischen Fatah und Hamas entwickelte sich ein blutiger Machtkampf, den
die Hamas 2007 für sich entschied. Sie vertrieb die Sicherheitskräfte
der Fatah, die mit Israel kooperierten, aus dem Gazastreifen und
übernahm die Regierung. Die USA listete die Hamas als
Terrororganisation, andere US-Partner und NATO-Staaten folgten der
Entscheidung. Israel verhängte eine komplette Blockade gegen den
Küstenstreifen. Die Folge waren Armut und zunehmende Konflikte. Erneute
Versuche, eine Einheitsregierung mit der Fatah zu bilden, scheiterten
2011 und 2014. Die Hamas-Charta wurde 2017 dahingehend geändert, dass
ein Waffenstillstand angestrebt wird. Seitdem erkennt die Hamas die
Existenz Israels in den Grenzen von 1948 an sowie die Abkommen der PLO
seit 1993, einschließlich des Oslo-Abkommens.
Gegen den Gazastreifen
Israel startete seit der Komplettabriegelung 2007 vier Großangriffe
gegen den Gazastreifen, der mit heute 2,5 Millionen Menschen als größtes
Freiluftgefängnis der Welt gilt. 2008/09 dauerte der Angriff 23 Tage,
1.400 Palästinenser und 14 Israelis wurden getötet. 2012 dauerte der
Angriff acht Tage, dabei wurde der Oberkommandierende der
Kassam-Brigaden Ahmed al-Dschabari getötet. 2014 dauerte der Angriff 50
Tage, nachdem drei israelische Jugendliche von der Hamas entführt und
getötet worden waren. 2.100 Palästinenser sowie 73 Israelis, darunter 67
israelische Soldaten, wurden getötet.
2021 folgte der nächste Angriff, der im Gazastreifen mindestens 260
palästinensische Todesopfer forderte. 13 Israelis kamen in Israel durch
Raketenbeschuss ums Leben. Auslöser waren Angriffe der israelischen
Sicherheitskräfte gegen muslimische Gläubige in der Al-Aksa-Moschee.
Die Liste ist unvollständig, zeigt aber, dass die Auseinandersetzungen
zwischen Hamas und den israelischen Besatzungstruppen blutiger und
erbitterter wurden. Parallel dazu verschärfte sich die Repression der
Besatzungstruppen im besetzten Westjordanland. Der Siedlungsbau wurde
ausgeweitet, Häuser, Felder, Ställe, die Lebensgrundlagen der
Palästinenser zerstört. In Ostjerusalem wurden und werden Häuser
zerstört, Palästinenser enteignet und deportiert. Provokationen in und
um die Al-Aksa-Moschee nehmen zu. Im Gazastreifen liegt die
Arbeitslosigkeit bei 45 Prozent, 63 Prozent der Haushalte sind auf
Almosen internationaler Hilfsorganisationen angewiesen.
Die israelische Belagerung des Gazastreifens und die Besatzung des
Westjordanlands verhindert eine politische und wirtschaftliche
Perspektive für die Menschen und einen palästinensischen Staat.
Die Hamas und der Kampf der Kassam-Brigaden erfährt heute Unterstützung
von Palästinensern aller politischen Fraktionen. Zahlreiche
Gesprächspartner erklärten gegenüber der Autorin, dass es in dieser
Phase der Konfrontation nicht um Ideologie, sondern um die Befreiung der
Palästinenser von einem blutigen Siedlerkolonialismus geht, der trotz
Abkommen und unzähliger UN-Resolutionen den Palästinensern keine Zukunft
in ihrer Heimat und keinen Raum auf ihrem Land lassen will. Unterstützt
wird die Hamas von Katar und vom Iran. Während Katar die Führung der
Hamas beherbergt und im Gazastreifen finanziell und sozial hilft –
beispielsweise mit Stipendien für Studierende aus dem Gazastreifen –,
förderte der Iran den Aufbau und die Ausbildung der Kassam-Brigaden.
Der Kampf der Palästinenser um ihr Land begann vor mehr als 100 Jahren.
Während des Ersten Weltkriegs einigten sich 1916 die beiden europäischen
Kolonialmächte Britannien und Frankreich über die Grenzen ihrer
Interessensphären in den ehemaligen arabischen Provinzen des
zerfallenden Osmanischen Reiches. Mit dem geheim ausgehandelten
Sykes-Picot-Abkommen zogen die beiden Diplomaten Mark Sykes (Britannien)
und François Georges-Picot (Frankreich) Grenzen vom östlichen
Mittelmeer bis zum damaligen Persischen Reich und zum Persischen Golf.
1917 erklärte Britannien gegenüber der zionistischen Weltbewegung seine
Unterstützung für den Aufbau eines jüdischen Staates in Palästina. Auf
der Pariser Friedenskonferenz 1919 wurde Palästina zwischen den
Mandatsmächten Britannien und Frankreich zerteilt. 1947 scheiterte der
UN-Plan, das britische Mandatsgebiet Palästina in zwei Staaten zu
teilen. Im darauffolgenden Jahr griffen zionistische Milizen
Palästinenser in ihren Dörfern und Städten an. Nach Angaben der UNO
wurden 530 Dörfer zerstört, mehr als 800.000 Menschen aus ihrer Heimat
vertrieben. Diese Katastrophe, die die Palästinenser Nakba nennen, ist
bis heute prägend nicht nur für das palästinensische Volk. Um das
aktuelle Geschehen zwischen Israel und der Hamas zu verstehen, muss man
die Geschichte kennen
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