https://kai-ehlers.de/2023/10/der-ukrainekrieg-im-zuge-des-globalen-wandels/
Übermittelt von: schnug@kritisches-netzwerk.de
Ukraine,
Israel … zwei Kriege, eine Dynamik
Stichworte für einen
Versuch hinter die Tagesgräuel zu blicken
Von Kai Ehlers,
Hamburg
Krieg in der Ukraine, Krieg in Israel, das sind zwei
auseinander liegende Kriegsschauplätze, die scheinbar nichts
miteinander zu tun haben. Aber so unterschiedlich die Vorgänge in
der Ukraine und in Israel zu sein scheinen, so vergleichbar sind doch
ihre Dynamiken als nationalistische Extreme einer nachholenden
Nationenbildung – nur zu verstehen als Ausdruck des in die Krise
geratenen US- Globalismus und seiner Vorgeschichte.
Die Krise
des Globalismus, das ist die Krise des Kolonialismus über drei
Etappen: erster Weltkrieg – Überführung der Kolonien in abhängige
Nationalstaaten; zweiter Weltkrieg – ethnische „Säuberungskriege“
im Zuge der nachkolonialen Neuordnung; Israels entwickelt sich zum
ethnischen Stoßkeil des „Westens“ auf palästinensischem Boden;
schließlich: Kalter Krieg – Auseinanderfallen der Sowjetunion und
ungehemmtes Hervortreten der USA als „Einzige Weltmacht“, wie am
klarsten von Zbigniew Brzezinski beschrieben.
Die Decke des
Globalismus, unter der die USA nach dem kalten Krieg das Erbe der
zusammengebrochenen Sowjetunion auf Dauer zu übernehmen gedachten,
reißt heute im Zuge einer vierten, möglicherweise endgültigen
Welle der Entkolonialisierung auf. Diese Entwicklung bringt neue
Kräfte hervor, gestärkt von gewachsenem Selbstbewusstsein der
ehemaligen Kolonien unter der Perspektive einer zukünftigen
multipolaren Ordnung selbstständiger Nationalstaaten. Das ist in der
Tiefe eine positive historische Dynamik, die nicht nur über die
bisherige Kolonialgeschichte, sondern auch über die Decke der daraus
hervorgegangenen „unipolaren“ US-Herrschaft hinausweist und ein
neues Zeitalter, ein Zeitalter weltweiter, regionaler und lokaler
Kooperation selbstständiger Nationalstaaten einleiten könnte.
Hier
kann zukunftsorientiertes Denken einsetzen, das an der kooperativen
Erhaltung unserer Welt in gegenseitiger Achtung der unterschiedlichen
Interessen und kulturellen Werte der Völker und ihrer Gesellschaften
orientiert ist. Das könnte der Dynamik der Selbstverwertung des
Kapitals in Gestalt nationaler Konkurrenzen soziale Grenzen setzen.
Das wäre eine Entwicklung, in der sich die Kulturen der alten und
der neu heranwachsenden Welt im friedlichen Austausch ihrer
Fähigkeiten und Möglichkeiten und im Interesse einer gemeinsamen
Sorge um die Fortentwicklung unserer Welt ergänzen und
zusammenwirken können, statt sich in gegenseitiger Konkurrenz Matt
zu setzen – oder in den globalen Krieg zu treiben.
Das, um
es so zu formulieren, sind die Lichter am fernen Horizont, die
jenseits der gegenwärtigen Eskalationen sichtbar
werden.
Aber…
Aber dieser Prozess der aktuellen,
vielleicht letzten Stufe der Entkolonialisierung, also der
tendenziellen Herausbildung nationaler, regionaler und lokaler
Selbstständigkeiten in einer pluralen gemeinsam gestalteten Welt
vollzieht sich nicht automatisch in kooperativen Formen, bringt auch
nicht automatisch eine multinationale neue Ordnung gleichberechtigter
gesellschaftlicher Einheiten und ein neues Verständnis des
gemeinsamen globalen Wirtschaftens hervor, sondern befeuert zugleich
auch noch eruptive, extreme, aggressive Formen des Nationalismus, die
sich aus den Resten der unbewältigten Geschichte herleiten.
Extremster Ausdruck davon sind zurzeit die Vorgänge in der
Ukraine und in Israel, die heute als nationalistische Geschwüre aus
der kränkelnden „One-world“-Realität hervorbrechen. In der
Ukraine geschieht das als Folge des Zerfalls des sowjetischen
Imperiums, im Nahen Osten in der Folge der Kolonisierung Palästinas
durch Israel als Speersitze des „Westens“ im arabischen Raum.
Weitere nationalistische oder rassistische Eruptionen sind zu
befürchten, wo Gruppen, Länder, Gesellschaften sich zwar von den
nachkolonialen Fesseln befreien wollen, aber nicht bereit oder –
zurückhaltender formuliert – noch nicht fähig sind zu offener
ökonomischer und kulturübergreifender Kooperation im Zuge der sich
herausbildenden neuen pluralen Ordnung. Da lauert am Horizont auch
der Konflikt um Taiwan.
Diese aus der Vergangenheit gespeisten
Konflikte, allen voran zurzeit der ukrainische und der israelische,
können die Herausbildung der heute anstehenden möglichen
multipolaren Ordnung verfälschen, sie in die Irre, in die
Konfrontation, in neue rassistische „Säuberungskriege“,
tendenziell in eine allgemeine Katastrophe ziehen – solange es den
Statthaltern der gegenwärtigen unipolaren Ordnung unter Führung der
USA immer noch gelingt, lokale oder regionale Konflikte,
irregeleitete Nationenbildungen nach dem Prinzip „teile und
herrsche“ für die Aufrechterhaltung ihrer Dominanz zu nutzen, um,
so noch einmal in den Worten Brzezinskis zu sprechen, das Aufkommen
globaler Rivalen verhindern.
Es geht in diesen Kriegen
jedenfalls, um das deutlich zu sagen, weder in der Ukraine noch in
Israel um die Verteidigung der Demokratie. Jedenfalls, um es noch
anders zu sagen, sind die inneren Konflikte nur der Hebel für die
Noch-Weltmacht USA ihre globalen Rivalen auszubremsen – über die
Ukraine zielt das auf Russland und China und nicht zu vergessen
Europa, dass sich im unerklärten Krieg mit Russland erschöpft. Über
Israel zielt es auf die Ölstaaten des mittleren und südlichen
Ostens, die zusammen mit Russland in China bereit sind sich von der
„westlichen“ Dominanz abzukoppeln und daran gehindert werden
sollen.
In Israel, um das deutlich zu sagen, geht es
auch nicht um das Zurückkämpfen von Antisemitismus, erst recht
nicht um die generelle Durchsetzung von Menschenrechten. Das zu
erkennen, dazu reicht ein Blick auf die aktuellen Schlachtfelder in
der Ukraine und in Israel, konkret die seit 2014 durchgeführte
Dauerbombardierung des Donbass durch Kiew, konkret den gnadenlosen
Bombenterror im GAZA-Streifen in Israel, der die vorangegangene
Provokation seitens der Hamas weit übersteigt. Nicht vergessen
werden darf die Siedlerterror im Westjordanland gegen die ansässigen
Palästinenser. Rechtfertigungen wie die, mit diesen Kriegen werde
„die Demokratie“ verteidigt – gegen die „russische
Aggression“, wie Selenski erklärt, gegen „den Terrorismus“ wie
Netanjahu es hinstellt – schrumpfen vor dem Hintergrund dieser der
realen Vorgänge in der Ukraine wie auch in Israel auf pure
Lippenbewegungen, auf ideologische Schleier, die über die
tatsächlichen Vorgänge gezogen werden sollen.
Die
tatsächlichen Vorgänge müssen ganz anders beschrieben werden. In
der Ukraine wurde der historische Bonus des nachkolonialen Impulses,
der zu einer selbstbestimmten Gesellschaft in kooperativer Vielfalt
als Vermittler zwischen Russland und Europa hätte führen können,
in einen aggressiven rassistischen Nationalismus verkehrt, für den
Russen „Untermenschen“ sind. Zugewinn für die USA: ein geteiltes
Eurasien, in dem Europa und Russland ihre Potenzen im halb erklärten
Krieg aneinander verbrauchen. Israel hat seine Rolle als Opfer der
Geschichte mit seiner gnadenlosen Antwort auf den Anschlag der Hamas,
die nach Aussagen seiner führenden Militärs als „Tiere“
bekämpft werden müssen, vom Opfer zum Täter verkehrt. Hier könnte
sich der Zugewinn der „einzigen Weltmacht“ allerdings durch die
Empörung der arabischen, muslimischen und im weiteren Sinne
südlichen Welt in einen strategischen Bumerang verwandeln.
So
oder so: Der eine wie der andere Vorgang, der ukrainische wie der
israelische Nationalismus verlässt, die Bahnen der humanen
Gesellschaft – von Kampf um Demokratie, Kampf gegen Antisemitismus
und für Menschenrechte ist schon gar nicht zu reden.
Solchen
Entwicklungen kann nur mit dem Bewusstsein begegnet werden, dass
Frieden und Menschlichkeit unteilbar sind.
Kai Ehlers, Hamburg
>> https://kai-ehlers.de/
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen