Keiner soll hungern ohne zu frieren
Der Weg in die Katastrophe
Von Wolfgang Bittner
Am 6. Juli 2022 wiederholte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck auf der Münchner Handwerksmesse das, was er schon mehrmals gesagte hat: „Es kommen noch enorme Preiserhöhungen auf uns zu.“ Der Herbst werde teuer, und auf etwa 50 Prozent der Bevölkerung komme eine Situation zu, „in der sie weniger verdienen als sie ausgeben“.(1) Für die deutsche Wirtschaft bedeute der steile Anstieg der Energiepreise das dreifache Risiko von Kaufkraftverlust, drohender Kreditklemme und Investitionsschwäche. In den Unternehmen gebe es eine wachsende Investitionszurückhaltung, und bei den Banken eine wachsende Zurückhaltung, Kredite zu vergeben.(2)
Schon Ende Juni hatte Habeck erklärt, als sei das selbstverständlich und
sozusagen gottgewollt: „Es kann wirklich problematisch werden“, er
rechne mit dem Schlimmsten. (3) Es drohe "eine Blockade von Nord Stream 1
insgesamt", und damit sei ein vollständiges Ausbleiben russischer
Gaslieferungen durch die Ostseepipeline zu befürchten.(4) Deswegen, so
Habeck, könne es „wirklich problematisch werden“.
Die Bevölkerung wird demensprechend ohne jegliche Skrupel aufgefordert,
weniger Gas zu verbrauchen, am Strom zu sparen, weniger zu duschen und
so weiter. Einige Vermieter gehen bereits dazu über, Warmwasser zu
rationieren. Wie schon in der Corona-Pandemie, werden die Menschen in
einem permanenten Alarmmodus gehalten, der sie im Sinne einer mehr und
mehr verfehlten, existenzbedrohenden Politik beeinflussbar macht.
Oskar Lafontaine hielt Habeck kurz und knapp entgegen: „Wenn man an die
eigene Bevölkerung denkt, gibt es nur eine Lösung: Öffnet Nord Stream 2,
um das Schlimmste zu verhindern.“(5) Und er fuhr fort: „Es war doch
wirklich peinlich, mit anzusehen, wie Biden auf der Pressekonferenz mit
Scholz in Washington diesem überdeutlich machte, wer bestimmt, ob die
Ostseepipeline Nord Stream 2 in Betrieb genommen wird oder nicht. Wann
wird es einen Bundeskanzler geben, der den Mut hat, Washington zu sagen,
bis hierhin und nicht weiter.“
Zum Ukraine-Krieg berief sich Lafontaine auf den renommierten US-Ökonom
Jeffrey Sachs, den er zitierte: „Der Krieg in der Ukraine ist der
Höhepunkt eines 30-jährigen Projekts der amerikanischen neokonservativen
Bewegung (Neocons). In der Regierung Biden sitzen dieselben
Neokonservativen, die sich für die Kriege der USA in Serbien (1999),
Afghanistan (2001), Irak (2003), Syrien (2011) und Libyen (2011)
starkgemacht und die den Einmarsch Russlands in die Ukraine erst
provoziert haben.“(6)
Papst Franziskus zum Ukraine-Krieg
In diesem Zusammenhang ist eine Stellungnahme des Papstes erhellend. In
einem Interview zur Ukraine sagte Franziskus, der ja wohl als
unvoreingenommen gelten kann, am 19. Mai 2022, man müsse sich vom Schema
des „Rotkäppchens“ lösen: „Rotkäppchen war gut, und der Wolf war der
Bösewicht. Hier gibt es keine metaphysisch Guten und Bösen auf abstrakte
Art und Weise.“ Der Papst wies darauf hin, dass „wir nur das sehen, was
ungeheuerlich ist, und nicht das ganze Drama sehen, das sich hinter
diesem Krieg abspielt, der vielleicht in gewisser Weise entweder
provoziert oder nicht verhindert wurde.“ Er fügte hinzu: „Und ich
registriere das Interesse am Testen und Verkaufen von Waffen.“(7)
Franziskus stellte klar: „Manch einer mag mir an dieser Stelle sagen:
Aber Sie sind doch pro Putin! Nein, das bin ich nicht. So etwas zu
sagen, wäre vereinfachend und falsch. Ich bin einfach dagegen, die
Komplexität auf die Unterscheidung zwischen Guten und Bösen zu
reduzieren, ohne über die Wurzeln und Interessen nachzudenken, die sehr
komplex sind.“(8)
Auch wenn der Krieg in der Ukraine natürlich nicht gutzuheißen ist, wäre
es sinnvoll und wichtig zur Aufklärung der Hintergründe, über die
Ursachen dieses Konfliktes und über die Situation in der Ukraine vor dem
Krieg Bescheid zu wissen. Aber das ins Gespräch zu bringen, kann
inzwischen existenzgefährdend sein. Ob der Papst demnächst auf Anordnung
aus Washington sanktioniert wird, bleibt abzuwarten.
Nord Stream 2 anschließen!
Nach Monaten vorsichtiger Zurückhaltung wagen es endlich mehr Politiker,
die Öffnung von Nord Stream 2 zu fordern. So twitterte Sahra
Wagenknecht am 5. Juli 2022: „Ampel hat Folgen nicht im Griff: Nach
Prognos-Studie droht bei GasStopp BIP-Einbruch um 12 Prozent &
Verlust von 5,6 Mill. Arbeitsplätzen. Wirtschaftskrieg ruiniert uns,
nicht Russland! Sanktionen aufheben, zur Not Gas über Nord Stream II
beziehen!“(9)
Die Forderung nach einer Inbetriebnahme von Nord Stream 2 ist nicht neu,
ebenso wenig die Verhinderung des Projekts durch die USA. Jahrelang
hatte die Regierung Trump dagegen opponiert und sogar weitgehende
völkerrechtswidrige Sanktionen verhängt,(10) aber Angela Merkel und auch
Olaf Scholz – bis zu seinem Antrittsbesuch in Washington – hatten die
zweite Ostseepipeline nicht als politisches, sondern als durchsetzbares
ökonomisches Projekt angesehen. Dann hatte US-Präsident Joseph Biden
anlässlich der Unterredung mit dem Bundeskanzler die Inbetriebnahme
sozusagen verboten.
Nun konnte Deutschland seinen Gasbedarf bis zur Verschärfung der
Sanktionen gegen Russland relativ problemlos über Nord Stream 1 und die
ukrainische Pipeline decken. Warum also die Aufregung um Nord Stream 2?
Wäre es nicht logisch und sinnvoll, darauf hinzuwirken, dass Russland
vertragsgemäß weiter Gas in vollem Umfang über Nord Stream 1 liefert?
Doch das ist ein Trugschluss. Russland besteht nach wie vor auf
Vertragserfüllung, es sieht in der Vertragsverletzung einen feindlichen
Akt und hat die Möglichkeit, weitere Gaslieferungen zu verweigern, was
zur Katastrophe führen würde.
Hinzu kommt, dass Nord Stream 2 mit großem finanziellem und technischem
Aufwand gebaut wurde und betriebsbereit ist. Diese Pipeline sollte die
Energiesicherheit für Deutschland und Westeuropa verhältnismäßig
kostengünstig für die nächsten Jahrzehnte sicherstellen – so war es
geplant. Werden diese Planungen weiter unterlaufen, entstehen
milliardenschwere Schäden auf Kosten der beteiligten europäischen
Unternehmen und der Steuerzahler.
Es ist der normale, günstigste Weg, Gas über Pipelines zur Verfügung zu
stellen, weil alles andere übermäßig teuer, unökonomisch und
unökologisch ist. Im Übrigen sind die Tankschiffe und Terminals noch im
Bau, was länger dauern wird, und zudem besteht die Gefahr, sich
hinsichtlich der Energieversorgung auf Gedeih und Verderb den USA sowie
anderen unsicheren Lieferanten auszuliefern.
Nutzlose Sanktionen zu Lasten der Bevölkerung
Die Forderung, mit einer Inbetriebnahme von Nord Stream 2 einer
absehbaren Katastrophe gegenzusteuern, kam nicht allein von Seiten der
Linken. Für den AfD-Abgeordneten Steffen Kotré, der in einer
beachtenswerten Rede vor dem Deutschen Bundestag die Sanktionen gegen
Russland als "nutzlos" bezeichnete, ist die Inbetriebnahme der
Gaspipeline Nord Stream 2 dringend geboten. Woraufhin Bundeskanzler Olaf
Scholz in einer Weise auf Kotré reagierte, die wohl mit dem alten
Sprichwort „Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz“ am besten
kommentiert ist. Er scheute sich nicht zu sagen: “Ich halte fest: Die
AfD ist nicht nur eine rechtspopulistische Partei, sondern auch die
Partei Russlands.“(11)
Der Herausgeber der NachDenkSeiten, Albrecht Müller, gab die drastische,
aber passende Antwort: „Diese Einlassung ist so dumm, so
geschichtsvergessen, so leichtfertig, dass man nur das Gesicht verhüllen
kann angesichts der Tatsache, dass diese Person an der Spitze unserer
Regierung steht.“ Der Vorwurf an eine andere Partei, die Partei
Russlands zu sein, sei deshalb verwunderlich, weil sie aus dem Mund
eines Politikers komme, „dessen Politik ganz wesentlich von den USA
bestimmt wird. Die Sanktionen, die Beendigung der Entspannungspolitik,
Aufrüstung, Waffenlieferungen – dies alles entspricht nicht der
ursprünglichen Programmatik der Partei des Bundeskanzlers Scholz…“(12)
Am 6. Juli meldete sich auch der Linken-Energieexperte Klaus Ernst zu
Wort. Er forderte die Aufhebung der Sanktionen sowie Gespräche über die
Energieversorgung mit Russland – und erntete damit vehementen
Widerspruch sogar in der eigenen Partei. Ernst hatte dem
Welt-Nachrichtensender am 6. Juli 2022 in einem Interview gesagt, es sei
angesichts der in Deutschland stark steigenden Preise „unmoralisch“,
die Sanktionen gegen Russland aufrechtzuerhalten. Die Bundesregierung
müsse „jetzt alles dafür, tun die Energieversorgung sicherzustellen…
Dazu muss man, trotz des völkerrechtswidrigen Krieges, mit Russland
reden. Gegebenenfalls auch darüber, Nord Stream 2 befristet in Betrieb
zu nehmen, wenn die Gasversorgung nicht anders zu gewährleisten
ist.“(13)
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sah sich veranlasst, das zu
kritisieren. Der Vorschlag Ernsts sei „scheinbar populär, aber leider
weltfremd“. Solange es „diesen furchtbaren Krieg in der Ukraine“ gebe,
sei die Forderung nach einer Inbetriebnahme von Nord Stream 2
verfehlt.(14) Das entspricht der Partei-Linie, von der Ernst abgewichen
ist, weswegen er – ebenso wie Sahra Wagenknecht – unverzüglich
gemaßregelt wurde. Wen wundert es, dass die Partei DIE LINKE immer mehr
Wähler verliert.
Auf Seiten der Befürworter und Durchsetzer des von den USA vorgegebenen
beinharten Kurses gegen Russland zu Lasten der deutschen Bevölkerung
finden sich US-affine Politiker und Politikerinnen, die Vaterlandsliebe
„stets zum Kotzen“ finden (Robert Habeck), Russland im Einvernehmen mit
Joseph Biden ruinieren wollen (Annalena Baerbock) oder eine im Bundestag
vertretene Partei als fünfte Kolonne Russlands ansehen (Olaf Scholz).
Vielleicht ist es angebracht, derart ideologisch verrannte Fanatiker –
obwohl sie Argumenten kaum noch zugänglich sind – auf einen Slogan der
Nazi-Winterhilfe von 1943 hinzuweisen, der da hieß: „Keiner soll hungern
und frieren“. Heute müsste es in Erinnerung an eine Verballhornung
dieses Spruchs heißen: „Keiner soll hungern ohne zu frieren.“
Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in
Göttingen. Von ihm erschienen 2014 „Die Eroberung Europas durch die
USA“, 2019 „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ sowie „Der
neue West-Ost-Konflikt“ und 2021 „Deutschland – verraten und verkauft.
Hintergründe und Analysen.
Quellen
(1) Bundeswirtschaftsminister Habeck: „Es kommen noch enorme Preiserhöhungen auf uns zu“ - WELT
(2) Ebd.
(3) www.sueddeutsche.de/wirtschaft/robert-habeck-energiepolitik-1.5612658
(4) Robert Habeck befürchtet Blockade von Nord Stream und warnt vor problematischem Winter | WEB.DE
(5) Oskar Lafontaine: Öffnet Nord Stream 2! (nachdenkseiten.de)
(6) Ebd.
(7) Papst Franziskus im Gespräch mit den europäischen Kulturzeitschriften der Jesuiten (herder.de)
(8) Ebd.
(9) https://mobile.twitter.com/SWagenknecht/status/1544311531000791049
(10) Dazu Wolfgang Bittner, „Deutschland – verraten und verkauft“, zeitgeist Verlag 2021, S. 117-123
(11) Bundeskanzler Scholz bezeichnet die AfD als "Partei Russlands" — RT DE
(12) Dumm. Blöder. Scholz (nachdenkseiten.de)
(13) PROFITEUR PUTIN: Energieversorgung – Schaden die Sanktionen nur Deutschland? | WELT Interview - YouTube
(14) Linken-Fraktionschef Bartsch gegen Inbetriebnahme von Nord Stream 2 | MDR.DE
Erstveröffentlichung: https://www.nachdenkseiten.de/?p=85733
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